Kartellrechtskontrolle auf Abwegen? Die Facebook-Entscheidung des BGH

Kartellrechtskontrolle auf Abwegen? Die Facebook-Entscheidung des BGH

Das Facebook-Verfahren des Bundeskartellamts beschäftigt weiter die Gerichte – aktuell bereitet das OLG Düsseldorf die Verhandlung in der Hauptsache vor, der BGH prüft indes die Beschwerde des Bundeskartellamts gegen den Hängebeschluss des OLG im zweiten Eilverfahren. Johannes Kruse und Felix Beckmann blicken derweil auf eine verfahrensrechtliche Frage.

Was kümmert uns der Weg?

Der Zweck, mag er auch noch so wünschenswert erscheinen, heiligt nicht die Mittel. Ein „gerechtes“ Ergebnis, das nicht in einem (äußerlich erkennbar) gerechten Verfahren zustande kommt, kann kein gerechtes Ergebnis sein: „Justice must not only be done: it must also be seen to be done“, wie es Lord Hewart einmal treffend formuliert hat. Dieses für die Rechtsordnung geradezu konstitutive Prinzip kommt in den absoluten Revisionsgründen und in den Verfahrensgrundrechten zum Ausdruck.

Der Facebook-Entscheidung des BGH im Eilverfahren kann man juristisch allenfalls zustimmen, wenn (auch) der zum Ergebnis führende Weg der Entscheidung überzeugt. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Der Weg des BGH überzeugt uns nicht.

Aber step-by-step. Der Weg des BGH hat zwei Etappen: Rechtsanwendung und Sachverhaltsfeststellung. Wir werden den Weg durch zwei Brillen betrachten. Die eine verschafft uns den revisionsrechtlichen Durchblick, die andere sorgt dafür, dass der Eilrechtsschutz nicht aus dem Blick gerät.

Die beiden Etappen wollen wir getrennt betrachten. Das dauert zwar länger, lohnt sich aber: Nur so erkennt man die Details. Die sind wichtig, weil wir nicht nur in die Vergangenheit (Eilverfahren) schauen, sondern auch in die Zukunft (Hauptsacheverfahren) blicken wollen.

Der erste Schritt ist der schwerste zweit-interessanteste 

Betrachten wir Etappe Nr. 1: Die Rechtsanwendung. Revisionsrechtlich betrachtet ist die Freiheit des BGH insoweit grenzenlos.   Als Rechtsinstanz soll er über die „richtige“ Rechtsanwendung entscheiden und kann daher nicht an die Rechtsansichten von Beschwerdegericht oder Kartellbehörde gebunden sein.

Der Blick durch die Eilverfahrens-Brille ist jedoch durchaus sehenswert: Ist es nicht so, dass der BGH die beschwerdegerichtliche Entscheidung im Eilverfahren lediglich einer Vertretbarkeitskontrolle unterzieht? Ganz genau, so seine ständige Rechtsprechung. Hierin liegt aber zugleich das „Problem“: Das Gesetz schweigt hierzu (§ 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB betrifft allein das Beschwerdegericht), sodass die Vertretbarkeitskontrolle des BGH „nur“ eine Selbstbeschränkung ist.

Da der BGH seine Rechtsprechung jederzeit – natürlich nur in den Grenzen von Art. 20 GG – ändern kann, ist die praktische Wirksamkeit der eingeschränkten Kontrolle letztlich eine Frage des judicial self-restraint. Im Übrigen ist die summarische Rechtsprüfung das Bielefeld unter den prozeduralen Topoi: Ihre Existenz wird immer wieder in Zweifel gezogen bzw. verneint. 

Rechtsgericht bleib bei deinenLeisten Rechtskontrolle

Etappe Nr. 2: Die Sachverhaltsfeststellung. Für den BGH gilt hier: Weniger ist mehr. Das bestätigt schon ein kurzer Blick durch die revisionsrechtliche Brille. Die Tatsachenfeststellung ist originäre Domäne des Beschwerdegerichts. Dies gilt auch, wie der BGH mit Verweis auf seine ständige Rechtsprechung erkennt, für die Marktabgrenzung. Denn diese, so der BGH, hänge wesentlich von den – tatrichterlich festzustellenden – tatsächlichen Gegebenheiten des Marktes ab. Die Marktabgrenzung kann daher, was der BGH zu erwähnen „vergisst“ (dies ist aber nicht so schlimm, da er dies zuvor schon unzählige Male erwähnt hat), vom Rechtsbeschwerdegericht nur sehr begrenzt überprüft werden.

Die Marktabgrenzung ist Sache des OLG, das sagt jedenfalls der BGH. Doch was macht er? Die Marktabgrenzung des OLG überprüfen? Wohl kaum, was nicht da ist, kann man nicht überprüfen: Das OLG Düsseldorf hatte in seinem Beschluss die Marktabgrenzung des Kartellamts als richtig unterstellt. Tatsächlich grenzt der BGH den Markt, sachlich wie räumlich, selbst ab. Im Rahmen der sachlichen Marktabgrenzung trifft der BGH etwa Feststellungen zum Leistungsangebot von Facebook (Rn. 24) und vergleicht dieses inhaltlich mit dem Leistungsangebot „anderer sozialer Medien“ (Rn. 25). In räumlicher Hinsicht nimmt der BGH etwa „Sprachbarrieren“ der Nutzer an und ist offenbar der Meinung, die Nutzer würden in erster Linie Inhalte mit einem regionalen oder nationalen Bezug teilen (Rn. 35). Schließlich stellt er sogar fest, dass „nach dem Ergebnis der vom Bundeskartellamt in Auftrag gegebenen Nutzerbefragung mehr als drei Viertel aller Nutzer ihre für das Netzwerk relevanten Freunde und Bekannten innerhalb der nationalen Grenzen haben […]“ (ebd.). Diese Vorgehensweise ist, nicht nur nach revisionsrechtlichen Grundsätzen, rechtswidrig: Auch § 76 GWB zeigt, das Rechtsgericht (nomen est omen) ist grundsätzlich auf die Rechtskontrolle beschränkt und nicht zur Tatsachenermittlung und Tatsachenwürdigung befugt.

Ausnahmen? Immer! Hier aber nicht!

Kein Grundsatz ohne Ausnahme! Schon mit Blick auf den eindeutigen Wortlaut des § 76 Abs. 4 GWB kommen Ausnahmen aber nur in Betracht, soweit das Beschwerdegericht Feststellungen unterlassen hat oder sich neue Tatsachen ergeben. An einen Ausnahmefall sind strenge Anforderungen zu stellen. Vom Beschwerdegericht nicht berücksichtigte Umstände kann der BGH allenfalls abschließend berücksichtigen, wenn dies zur raschen und endgültigen Streitbeilegung erforderlich ist (#Prozessökonomie) und die Umstände einfach strukturiert sowie unstreitig sind (vgl. MüKo/Nothdurft, 3. Aufl. 2020, GWB § 76 Rn. 28). Fraglich erscheint, wie die Marktabgrenzung durch den BGH im Lichte der vorstehenden Kriterien zu bewerten ist.

Fraglich ist hier überhaupt nichts: Die Marktabgrenzung ist weder einfach strukturiert noch unstreitig. Außerdem ist die Marktabgrenzung wohl kaum ein „Umstand“, sondern der Kern der kartellrechtlichen Missbrauchsprüfung. Es kommt also gar nicht darauf an, in welcher Fußnote der Amtsentscheidung oder wo auch immer der BGH einzelne Tatsachen entdeckt hat.

Der BGH hätte die Sache also an das Beschwerdegericht zurückverweisen müssen? Was der BGH gemusst hätte, soll uns zunächst nicht weiter beschäftigen. Wichtiger ist, was er (prozessrechtlich) nicht durfte: Eine vollständige Marktabgrenzung ist Sache des Tatrichters! Insoweit bewegt sich der BGH also außerhalb seiner gesetzlichen Kompetenzen als Rechtsbeschwerdegericht auf Abwegen.

Der BGH mit Sitz in Karlsruhe. Foto: ComQuat (eigenes Werk), Lizenz CC BY-SA 3.0

Wir wechseln ein weiteres Mal die Brillen. Zeigt der Blick durch die Eilverfahrens-Brille ein anderes Bild? So zumindest die BGH-Entscheidung (Rn. 17). Dort versucht der BGH zu begründen, warum die Marktabgrenzung zwar in erster Linie dem Tatrichter obliegt, im Eilverfahren aber ausnahmsweise etwas anderen gelten soll.

„Wird aber – wie regelmäßig – die Entscheidung über einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde zu einem Zeitpunkt getroffen, zu dem das Beschwerdegericht keine weitere Sachverhaltsermittlung durchgeführt hat, sind vom […] Rechtsbeschwerdegericht die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Verfügung zugrunde zu legen […]“

Diese Begründung des BGH konnte seine Vorgehensweise gar nicht tragen, nicht mal wenn sie zutreffend wäre. Der BGH übernimmt nämlich nicht die Feststellungen des Amtes, sondern nimmt diese selbst vor.

Dahinter steht eine unzutreffende Annahme: Dass der BGH im Eilverfahren letztlich etwas dürfe, was er im Hauptverfahren nicht darf, widerspricht schon der prozeduralen Logik.

Sehen oder glauben

Im gerichtlichen Eilrechtsschutz findet lediglich eine summarische Prüfung statt. Das Adjektiv „summarisch“ bedeutet – laut Duden – mehreres gerafft zusammenfassend [und dabei wichtige Einzelheiten außer Acht lassend]. Eine summarische Prüfung ist demnach eine gegenüber der Prüfung in der Hauptsache reduzierte Prüfung (ein Minus). Das genaue Verhältnis bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. So kann die summarische Prüfung auch einmal so nah an die Hauptsacheprüfung heranreichen, dass sich praktisch kein Unterschied ausmachen lässt. Schon rein denklogisch ausgeschlossen ist aber eine summarische Prüfung, die über die Prüfungskompetenz in der Hauptsache hinausgeht (ein Plus). Oder anders ausgedrückt: Wenn der BGH summarisch mehr prüft, als er in der Hauptsache prüfen dürfte, kann etwas nicht stimmen.

Von welchem Verfahren in der Hauptsache der BGH bei der Herleitung seiner summarischen Prüfungskompetenz ausgeht, bleibt letztlich sein Geheimnis. Fest steht nur, dass das kartellrechtliche Rechtsbeschwerdeverfahren nicht gemeint sein kann. 

Ein Wort zur Marktabgrenzung

Hätte der BGH die Sache also ans OLG zurückverweisen müssen? Ginge es um eine Hauptsacheentscheidung, wäre die Antwort ein klares „Ja“. Nun sind wir aber – zumindest gedanklich – im (eiligen) Eilverfahren. Eine Zurückverweisung kostet Zeit. Daraus folgt: Der Charakter des Eilverfahrens kann einer Zurückweisung im Einzelfall durchaus entgegenstehen. Im Einzelfall, nicht aber im vorliegenden Fall. Der marktabgrenzungserfahrene 1. Kartellsenat hätte für eine vorläufige Marktabgrenzung wohl kaum übermäßig Zeit beansprucht.

Den vorliegenden Beitrag abschließend und die weitere Diskussion in Sachen Facebook-Verfahren antizipierend noch ein Wort zur Marktabgrenzung: Es gibt viele Gründe, weshalb das OLG der Marktabgrenzung des BGH nicht folgen sollte. Hier nur einer: Der BGH verwendet die nicht repräsentative Nutzerbefragung des BKartA (vgl. Kruse, NZKart 2019, 419). Es käme daher nicht allzu überraschend, wenn das OLG (auch) in Sachen Marktabgrenzung eigene Wege geht. Wenn es so kommt, insoweit (seine Marktabgrenzung – „Wie“ des Abweichens kann und darf selbstverständlich kritisiert werden) ist das nicht Ausdruck mangelnder „Folgsamkeit“, sondern Wahrnehmung der richterlichen Prüfungskompetenz und –pflicht.

Das OLG an die Marktabgrenzung des BGH im Eilverfahren binden zu wollen, würde die gesetzgeberische Wertentscheidung in § 76 Abs. 2 Abs. 4 konterkarieren. Danach soll doch gerade – umgekehrt – der BGH an die tatsächlichen Feststellungen (insb. die Marktabgrenzung) des OLG gebunden sein. Ein „Sich-Nicht-Gebunden-Fühlen“ des OLG Düsseldorf ist überdies schon im Lichte von Art. 101 Abs. 1 S. 2 geboten. Käme das Beschwerdegericht seiner Aufgabe als Tatrichter nicht nach, würde den Parteien der gesetzliche (Tat-)Richter gänzlich abgeschnitten und die Beeinträchtigung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG perpetuiert. In praktischer Hinsicht hätte das zur Folge, dass die zugrunde gelegten – fragwürdigen – „Tatsachenfeststellungen“ des BGH auch für die Hauptsache Geltung erlangen würden. Das dürfte nicht im Interesse der „Kartellrechtscommunity“ sein.

Die Autoren Johannes Kruse und Felix Beckmann sind Rechtsreferendare am Landgericht Düsseldorf. Der Autor Johannes Kruse war Mitarbeiter der Kanzlei Latham & Watkins, die Facebook in dem Verfahren vertritt.

Felix Beckmann
Johannes Kruse

One thought on “Kartellrechtskontrolle auf Abwegen? Die Facebook-Entscheidung des BGH

  1. Eine schöne, streitbare und meinungsstarke Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Entscheidungen der BGH-Senate sind bisweilen stark von Gerechtigkeitserwägungen getragen und weit entfernt von bloßer Gesetzesanwendung. In diesem Fall kann man wohl das besondere Verhältnis zwischen dem Kartellsenat am BGH und dem 1. Kartellsenat am OLG-Düsseldorf nicht außen vor lassen. Wer sich kritisch und grundlegend mit dem Thema auseinandersetzen möchte, sollte Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat von Bernd Rüthers lesen.

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