LG Dortmund: Örtliche Zuständigkeit im Kartellschadensersatzprozess
Das LG Dortmund hat in letzter Zeit mehrfach für Aufsehen im Kartellrecht gesorgt, zuletzt zur Schadensschätzung (wir berichteten). In einem nun veröffentlichten Hinweisbeschluss äußert sich das Gericht zur örtlichen Zuständigkeit im Kartellschadensersatzprozess. Katharina Lugani hat den Beschluss unter die Lupe genommen.
1. Einleitung
Der vorliegende Hinweisbeschluss des LG Dortmund vom 10.2.21 (8 O 15/18 Kart) beschäftigt sich mit der örtlichen Zuständigkeit für die Klage einer Zessionarin, die offenbar abgetretene Schadensersatzansprüche von 30 Zedentinnen wegen kartellrechtswidrigen Verhaltens geltend macht. Die Entscheidung bietet interessante Einblicke einerseits in die Frage nach dem Erfolgsort i.S.d. § 32 ZPO bei kartellrechtswidrigem Verhalten, andererseits in den Mechanismus und die Reichweite der Zuständigkeitsbestimmung nach §§ 36, 37 ZPO. Das Gericht beleuchtet und verneint in seinem Hinweisbeschluss schwerpunktmäßig einerseits, ob sich seine örtliche Zuständigkeit aus § 32 ZPO i.V.m. § 1 Ziff. 2 KartKonzVO NRW ergibt (2.). Sodann erörtert es die Voraussetzungen der gerichtlichen Zuständigkeitsbestimmung für den Fall der fehlenden gemeinsamen Zuständigkeit nach § 36 I Nr. 3 ZPO (3.).
2. Gerichtsstand der unerlaubten Handlung (§ 32 ZPO) bei abgetretenen Ansprüchen wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens
Für Klagen aus unerlaubten Handlungen ist gemäß § 32 ZPO das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Handlung begangen ist. Der Begriff der “unerlaubten Handlung” ist im weiteren Sinn zu verstehen und umfasst jeden rechtswidrigen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre, darunter auch die Haftung wegen Verstoßes gegen kartellrechtliche Bestimmungen (Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 32 ZPO Rn. 4, 11; MüKoZPO/Patzina, 6. Aufl. 2020, ZPO § 32 Rn. 11). Begehungsort ist nach einhelliger Ansicht sowohl der Handlungsort (Ort, an dem der Täter gehandelt hat), als auch der Erfolgsort (Ort, an dem in das geschützte Rechtsgut eingegriffen wurde) (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 30.4.2019 – 1 AR 30/19, LSK 2019, 7913 = WuW 2019, 479 Rn. 19 und Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 32 ZPO Rn. 4; ebenso für die internationale Zuständigkeit bei unerlaubten Handlungen nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO, vgl. nur EuGH, 29.7.2019, C-451/18 – Tibor Trans, BeckRS 2019, 15815 = NZKart 2019, 483 Rn. 25; EuGH, 8.1.2015, C-375/13 – Kolassa, Rn. 45; EuGH, 5.7.2018, C-27/17 – flyLAL-Lithuanian Airlines, Rn. 28).
Doch die Bestimmung des Erfolgsorts wirft hier angesichts der Vielschichtigkeit und Breite der Folgen kartellrechtswidrigen Verhaltens Probleme auf. Zum Teil wird für GWB-Verstöße ein eher weites Verständnis des Erfolgsorts vertreten, wonach der Erfolgsort überall dort sein soll, wo sich die wettbewerbswidrige Verhaltensweise bestimmungsgemäß ausgewirkt hat (Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 32 ZPO Rn. 20.22; OLGR Hamburg 2008, 35; Lettl WRP 2014, 654 Rn. 53).
Dem tritt das LG Dortmund in der vorliegenden Entscheidung, wie auch schon in seiner Entscheidung vom 9.9.2020 (8 O 42/18 [Kart] (openJur 2020, 48903)), entgegen. Dafür stützt es sich auf die zu Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO und Art. 101 AEUV ergangene Rechtsprechung des EuGH, wonach sich der Erfolgsort nicht auf jeden Ort erstreckt, an dem die schädlichen Folgen eines Ereignisses spürbar werden können; vielmehr ist danach zu unterscheiden, ob es sich um einen sich unmittelbar aus dem kausalen Ereignis ergebenden Erstschaden handelt, oder lediglich um die darauffolgenden nachteiligen Konsequenzen, die keine Zuständigkeitszuweisung zu begründen vermögen (EuGH, 29.7.2019, C-451/18 – Tibor Trans, BeckRS 2019, 15815 = NZKart 2019, 483; vgl. auch EuGH, 8.1.2015, C-375/13 – Kolassa, Rn. 48 f.; EuGH, 5.7.2018, C-27/17 – flyLAL-Lithuanian Airlines, Rn. 32). Das LG Dortmund überträgt zu Recht diese EuGH-Entscheidung in den nationalen Kontext des § 32 ZPO. Dies hatte es bereits im September vergangenen Jahres entschieden (Beschl. v. 9.9.2020, 8 O 42/18 [Kart]) und bestätigt es nun. Entsprechend hatte auch das BayObLG (Beschl. v. 30.4.2019 – 1 AR 30/19, LSK 2019, 7913 = WuW 2019, 479) die EuGH-Rechtsprechung im Fall CDC Hydrogen Peroxide zu Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO (genauer: Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F.) zur Auslegung des § 32 ZPO herangezogen (EuGH, Urt. v. 21.05.2015, C-352/13 – CDC Hydrogen Peroxide, Rn. 56; dagegen LG München I, Urt. v. 7.2.2020 – 37 O 18934/17, Rn. 111). Freilich ist die Brüssel Ia-VO vorliegend mangels internationalen Bezugs nicht einschlägig und freilich hat § 32 ZPO keine europarechtliche Grundlage, die eine unionsrechtskonforme Auslegung gebieten würde (LG München I, Urt. v. 7.2.2020 – 37 O 18934/17, Rn. 111). Die Übertragung der EuGH-Rechtsprechung überzeugt gleichwohl. Dies findet seinen Grund vor allem in der Überzeugungskraft der EuGH-Rechtsprechung, die sich in der Sache auf § 32 ZPO ebenso wie auf Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO bezieht (wobei dem LG München I [Urt. v. 7.2.2020 – 37 O 18934/17, Rn. 111] zuzugeben ist, dass die besonderen Gerichtsstände der ZPO, anders als die der Brüssel Ia-VO, nicht eng auszulegen sind). Gerade die Aspekte der Vorhersehbarkeit für die Kartellanten und der Gleichlauf mit dem anwendbaren Recht (Art. 6 III Rom II-VO) (EuGH, 29.7.2019, C-451/18 – Tibor Trans, BeckRS 2019, 15815 = NZKart 2019, 483 Rn. 34, 35) und allgemein die Tendenz zur Eindämmung eines uferlosen Klägergerichtsstands (Grothaus/Haas, EuZW 2019, 794, 796) überzeugen auch für § 32 ZPO.
Bei Vermögensschäden durch kartellrechtswidriges Verhalten liegt der Erfolgsort grundsätzlich am Sitz des Geschädigten (BGH, Beschl. v. 23.10.2018, X ARZ 252/18 – Zuckerkartell, NZKart 2018, 579 = WuW 2019, 477 Rn. 17; BayObLG, Beschl. v. 30.4.2019 – 1 AR 30/19, LSK 2019, 7913 = WuW 2019, 479 Rn. 19 unter Verweis auf BGH, Urt. v. 28.2.1996, XII ZR 181/93, BGHZ 132, 105/111; EuGH, Urt. v. 21.5.2015, C-352/13 – CDC Hydrogen Peroxide, Rn. 52; EuGH, Urt v. 16.7.2009, C-189/08 – Zuid-Chemie, Rn. 27). Dies ist bei einer Zession sinnvollerweise der Zedent, nicht der Zessionar (BGH, Beschl. v. 23.10.2018, X ARZ 252/18 – Zuckerkartell, NZKart 2018, 579 = WuW 2019, 477 Rn. 17; LG München I, Urt. v. 7.2.2020 – 37 O 18934/17, Rn. 109). Die Gesellschaftssitze von 22 der 30 Zedentinnen liegen nicht im Bezirk des Oberlandesgerichts Hamm, somit auch nicht im Bezirk des LG Dortmund als Kartellgericht. Folglich ist das LG Dortmund nicht bereits nach § 32 ZPO zuständig. Weitere Gerichtsstände sind hier offenbar nicht naheliegend.
3. Voraussetzungen und Folgen der gerichtlichen Bestimmung der Zuständigkeit (§§ 36, 37 ZPO)
In Betracht kommt aber eine Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 I Nr. 3 ZPO. Gemäß § 36 I Nr. 3 ZPO wird das „zuständige Gericht … durch das im Rechtszug zunächst höhere Gericht bestimmt“, wenn „mehrere Personen, die bei verschiedenen Gerichten ihren allgemeinen Gerichtsstand haben, als Streitgenossen im allgemeinen Gerichtsstand verklagt werden sollen und für den Rechtsstreit ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand nicht begründet ist“.
a. Ein gemeinschaftlicher besonderer Gerichtsstand – hier kommt allein § 32 ZPO in Betracht – ist nicht begründet (s.o.).
b. Es schadet vorliegend nicht, dass die Klage offensichtlich bereits rechtshängig ist. Man geht sinnvollerweise davon aus, dass trotz des Wortlauts des § 36 I Nr. 3 ZPO („verklagt werden sollen“) eine Entscheidung über die Zuständigkeit auch noch nach Klageerhebung angestrebt werden kann (st. Rspr., z.B. BayObLG, Beschl. v. 30.4.2019 – 1 AR 30/19, LSK 2019, 7913 = WuW 2019, 479 Rn. 14 m.w.N.).
c. Das LG Dortmund legt auch darüber hinaus ein relatives extensives, aber überzeugendes Verständnis des § 36 I Nr. 3 ZPO an den Tag. So schadet es nicht, dass die Personenmehrheit auf Klägerseite statt auf Beklagtenseite besteht. Der Wortlaut der Norm bezieht sich zwar auf die Situation, dass die Personenmehrheit auf Beklagtenseite besteht („mehrere Personen, die bei verschiedenen Gerichten ihren allgemeinen Gerichtsstand haben, als Streitgenossen im allgemeinen Gerichtsstand verklagt werden sollen“). Doch nach der Rechtsprechung des BGH ist § 36 I Nr. 3 ZPO entsprechend anwendbar, wenn mehrere Kläger ihre Ansprüche in subjektiver Klagehäufung geltend machen wollen und ein gemeinsamer Gerichtsstand hierfür nicht eröffnet ist, sofern zwischen ihnen ein Zusammenhang im Sinne von § 60 oder § 260 ZPO besteht; dies gilt nicht, wenn mehrere Kläger Ansprüche geltend machen, für die aufgrund einer besonderen Regelung ausschließlich das Gericht am allgemeinen Gerichtsstand des jeweiligen Klägers zuständig ist. Die Prozessökonomie spricht dafür, eine gemeinsame Geltendmachung der Ansprüche zu ermöglichen (BGH, Beschl. v. 23.10.2018, X ARZ 252/18 – Zuckerkartell, NZKart 2018, 579 = WuW 2019, 477, Rn. 19; BGH, Beschl. v. 7.7.1972 – I ARZ 112/72, NJW 1972, 1861 Rn. 7).
Sodann schadet nicht, dass wir es offenbar mit einer Mehrzahl Geschädigter (Zedentinnen) aber mit nur einer Klägerin (Zessionarin) zu tun haben. Allein die Klägerin ist Klagepartei ist; die für die eben geschilderte entsprechende Anwendung von § 36 I Nr. 3 ZPO erforderliche Personenmehrheit bezieht nicht auf die Stellung als Partei, sondern auf die Stellung als Geschädigte. Doch dies schadet nicht (ebenso BayObLG, Beschl. v. 30.4.2019 – 1 AR 30/19, LSK 2019, 7913 = WuW 2019, 479 Rn. 29; ebenso MüKoZPO/Patzina, 6. Aufl. 2020, ZPO § 32 Rn. 27). Dieses Szenario (Zession) war auch die Konstellation, die der Entscheidung des BGH vom Oktober 2018 zugrunde lag (BGH, Beschl. v. 23.10.2018, X ARZ 252/18 – Zuckerkartell, NZKart 2018, 579 = WuW 2019, 477).
d. Ferner bedarf es eines Antrags, eine Entscheidung nach § 36 I Nr. 3 ZPO herbeizuführen (BGH, Beschl. v. 7.3.1991 – I ARZ 15/91 = NJW-RR 1991, 767, Rn. 7-10; OLG München, B.v. 25.01.2018 – 34 AR 216/17 = MDR 2018, 550, Rn. 4 f.; Zöller/Schultzky, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 37 ZPO Rn. 2). Der Kläger kann ein schützenswertes Interesse daran haben, in den von § 36 I Nr. 3 ZPO das Verfahren vor verschiedenen Gerichten zu führen, ihm sollte daher nicht qua § 36 I Nr. 3 ZPO eine gemeinsame Zuständigkeit aufgezwungen werden (BGH, Beschl. v. 7.3.1991 – I ARZ 15/91 = NJW-RR 1991, 767, Rn. 9). Ein solcher lag hier vor.
e. Liegen die Voraussetzungen des § 36 ZPO vor, wird das im Rechtszug nächsthöhere Gericht – das OLG – das zuständige Gericht bestimmen. Bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts stehen Prozessökonomie und Zweckmäßigkeit im Vordergrund (BGH, Beschl. v. 23.10.2018, X ARZ 252/18 – Zuckerkartell, NZKart 2018, 579 = WuW 2019, 477 Rn. 29; BGH, Beschl. v. 20.5.2008 – X ARZ 98/08, NJW-RR 2008, 1514 Rn. 20). Für den vorliegenden Fall, so das LG Dortmund, folgt daraus keine besonders sichere Prognose der Zuordnung des Rechtsstreits an das LG Dortmund.
4. Fazit
Die spannende und überzeugende Entscheidung formt die bereits reichhaltige und zunehmende Kasuistik zum Erfolgsort bei Kartellschadensersatzstreitigkeiten weiter aus. Auf den Fortgang des Verfahrens darf man gespannt sein.
Prof. Dr. Katharina Lugani ist Inhaberin des Lehrstuhls für deutsches, europäisches und internationales Privat- und Verfahrensrecht an der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
One thought on “LG Dortmund: Örtliche Zuständigkeit im Kartellschadensersatzprozess”
Die Entscheidung ist womöglich allein wertungsmäßig bzw. aus völlig anderen Gesichtspunkten richtig.
Der EuGH ordnet in Tibor Trans und Otis kartellbedingte Preisaufschläge bei gestuften Erwerben als unmittelbare Schäden ein und folgt somit der in dem Hinweisbeschluss durchscheinenden Unterscheidung zwischen mittelbarem und unmittelbarem Erwerb gerade nicht. Kronhofer, Kolassa, Universal Music und Löber betreffen sodann ein gänzlich andere Fragen.
Im Kern geht es darum, dass aufgrund der Zession keine ‘neuen ‘ Gerichtsstände für den Zessionar begründet werden können, die nicht schon für den Zedenten bestanden. Das hat der EuGH im Übrigen auch in C‑147/12 – ÖFAB genau so entschieden (Tz. 56 ff.).