Paukenschlag in Dortmund: Freie Schätzung von Kartellschäden

Paukenschlag in Dortmund: Freie Schätzung von Kartellschäden

Das LG Dortmund hat schon wieder zugeschlagen. Zuletzt wurde hier über die Entscheidung dieses Gerichts zur Aktivlegitimation des Unternehmens berichtet. Diesmal ging es um die Schätzung der Schadenshöhe von Kartellschäden. Christian Kersting ordnet das Urteil ein.

Kartellschäden sind bekanntermaßen schwer zu quantifizieren. Aus dem Grund hatte es in den Kartellschadensersatzprozessen der letzten Jahre zwar viele Grundurteile, kaum jedoch Schadensersatz zusprechende Endurteile gegeben. Der Schadensnachweis gestaltete sich für die Kläger ausgesprochen schwierig und aufgrund der regelmäßig erforderlichen Sachverständigengutachten auch ausgesprochen teuer, was in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum unionsrechtlichen Grundsatz der Effektivität steht. Abzuwarten bleibt, ob die Schadensersatzvermutung des neuen Rechts (§ 33a Abs. 2 S. 1 GWB) hier Erleichterung schaffen wird. Der verschiedentlich erhobenen Forderung nach einer Mindestschadensvermutung (Makatsch/Mir, EuZW 2015, 7, 8) oder einer Mindestschadensschätzung (Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU) – Ein Gesetzgebungsvorschlag aus der Wissenschaft (2015), Rn. 58 ff.; Kersting in Kersting/Podszun, Kapitel 7, Rn. 40 m.w.N.) hat sich der Gesetzgeber nicht angeschlossen. Letztlich ist es daher Aufgabe der Gerichte, dem Anspruch auf Kartellschadensersatz bildlich gesprochen Zähne zu verleihen und so dem Effektivitätsgrundsatz Rechnung zu tragen. Dieser Aufgabe hat sich das Landgericht Dortmund in einer neuen Entscheidung (LG Dortmund, 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart)) nun gestellt. Es folgt in seiner Argumentation dabei weitgehend den Ausführungen von Kühnen in einem neueren Beitrag in der NZKart (Kühnen, NZKart 2019, 515 ff.; vgl. hierzu LG Dortmund, Urt. v. 08.07.2020 – 8 O 75/19, Rn. 56 f.; Hutschneider/Stieglitz, NZKart 2020, 180, 183; Weitbrecht, WuW 2020, 257, 260).

Nachdem das Landgericht das „Ob“ eines Schadens unter Rückgriff auf eine tatsächliche Vermutung bejaht hat (Rn. 85 ff.), ist es im Ausgangspunkt der Auffassung, dass es die Höhe des entstandenen Schadens nach freier Überzeugung schätzen könne, „wenn die vollständige Aufklärung aller hierfür maßgeblichen Umstände mit Schwierigkeiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung in keinem Verhältnis steht“ (Rn. 132). Dieser Ansatzpunkt erscheint zunächst vorsichtig, weil man in dem Verhältnismäßigkeitserfordernis eine wesentliche Einschränkung sehen kann. Die Abwägung kann nämlich bei großen Schadenersatzklagen auch durchaus gegen die Kläger ausfallen. Ob an dieser Einschränkung auch in Fällen festzuhalten ist, in denen die Schadensvermutung des § 33a Abs. 2 S. 1 GWB greift, bleibt abzuwarten. Es spricht viel dafür, dass diese europarechtlich fundierte Schadensvermutung die Gerichte in stärkerem Maße zu einer Schadensschätzung anhält. Schließlich kann bei Bestehen einer Schadensvermutung der Schaden nicht auf null geschätzt werden, zudem ist auch der Verweis auf § 287 ZPO in § 33a Abs. 3 S. 1 GWB ein Indiz dafür, dass eine Schätzung nicht schon im Ausgangspunkt unterbleiben darf (siehe hierzu auch Rn. 133).

Das Landgericht will, auch „wenn der klägerische Vortrag zu den Anknüpfungstatsachen für eine solche Schätzung Lücken oder Unklarheiten enthält“, prüfen, „ob nach § 287 ZPO nicht wenigstens die Schätzung eines Mindestbetrages möglich ist“ (Rn. 133). Aufgegriffen wird damit der Vorschlag einer Mindestschadensschätzung (Kersting/Preuß, a.a.O., Rn. 58 ff.), allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine solche nicht mangels jeglicher konkreter Anhaltspunkte völlig in der Luft hinge und damit willkürlich wäre. Auch diese Einschränkung kann jedenfalls unter der Geltung des § 33a Abs. 2 S. 1 GWB nicht überzeugen. Auch bei völligem Fehlen von konkreten Anhaltspunkten kann der vermutete Schaden jedenfalls nicht mit null bemessen werden, sodass eine vorsichtige Schätzung im einstelligen Prozentbereich auch in diesen Fällen nicht als willkürlich anzusehen sein dürfte. Ein völliges Fehlen jeglicher Anknüpfungstatsachen erscheint ohnehin in der Praxis kaum denkbar.

Das Gericht erläutert sodann, welche Methoden zur Ermittlung des Kartellschadens grundsätzlich in Betracht kommen und nennt insofern die Vergleichsmarktbetrachtung (Rn. 136 f.), den kostenbasierten Vergleich anhand einer Überprüfung von Preisbildungsfaktoren (Rn. 138) sowie die marktinterne Vergleichsanalyse (Rn. 139). Jede dieser Methode wird konkret analysiert und jedenfalls für den konkreten Fall als ungeeignet verworfen. Eingangs betont das Gericht im Anschluss an Kühnen zudem, dass diese Ermittlungsmethoden „für den Kartellgeschädigten durchweg mit gravierenden Unwägbarkeiten und Nachteilen verbunden sind und daher in vielen Fällen für die vom Gesetzgeber gewünschte effektive Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen nicht hinreichend geeignet erscheinen“ (Rn. 135). Damit eröffnet es den Weg zu einer generellen freien Schätzung des Kartellschadens und macht sich hierfür den Effektivitätsgrundsatz zunutze, den es insofern über die teleologische Auslegung ins deutsche Recht transportiert.

Nach Auffassung des Landgerichts Dortmund können „Art, Inhalt und Umfang der streitbefangenen Kartellabsprache sowie die Einzelheiten ihrer Umsetzung hinreichende Anknüpfungspunkte für die Schätzung des kartellbedingten Preisaufschlags liefern, gepaart mit einer Gesamtschau weiterer Sachverhaltsaspekte“ (Rn. 143). An anderer Stelle betont es auch, dass „die für eine Schadensschätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO erforderlichen Anknüpfungstatsachen, namentlich die konkreten Umstände der Absprache und ihrer Umsetzung, regelmäßig schon im kartellbehördlichen Bußgeldbescheid“ (Rn. 171) gefunden werden können. Letztlich bedeutet dies, dass es für die Kläger bereits ausreichen kann, den Bußgeldbescheid vorzulegen und sie den Schaden nicht näher substantiiert quantifizieren müssen. Die weitere Erwägung des Landgerichts, wonach hiermit auch die berechtigten Belange der Beklagten gewahrt würden, weil diese „die Schätzung eines zu hohen Kartellschadens dadurch verhindern [könnten], dass sie den durch das Kartell tatsächlich realisierten Preisaufschlag nachvollziehbar aufdecken“ (Rn. 172), stärkt die Position der Kläger weiterhin. Hierzu passt auch, dass das Landgericht Privatgutachten der Beklagten nur dann für beachtlich hält, wenn diese überlegenes Wissen der Beklagten auch nutzen und etwa Abspracheinhalte offenlegten (Rn. 119). Letztlich werden die Beklagten so gezwungen, entweder die Schadensschätzung des Gerichts hinzunehmen oder aber zur genauen Berechnung des tatsächlichen Kartellschadens maßgeblich beizutragen. Letzteres erscheint freilich als Vabanquespiel, weil die Beklagten im Prozess die Schadensschätzung des Gerichts naturgemäß noch nicht kennen. In der Praxis mag man sich mit frühzeitigen Hinweisbeschlüssen, welche die Beklagten in die Lage versetzen, über eigenen Vortrag zur genauen Berechnung des Kartellschadens nachzudenken, behelfen können. Die gesetzliche Vermutung eines Mindestschadens erscheint demgegenüber dennoch als überlegene Lösung, da sie der Schadensvermutung und dem Effektivitätsgrundsatz Rechnung trägt und beiden Parteien die Last des Nachweises eines anderen, höheren oder niedrigeren, Schadens aufbürdet. Ein geschickt gewählter Prozentsatz für die Schadensvermutung kann zudem die Beauftragung von Gutachtern in vielen Fällen obsolet machen, was eine erhebliche Ersparnis an Transaktionskosten bedeuten kann. Ein solcher Prozentsatz kann sich auch in der Rechtsprechung herausbilden, dies benötigt jedoch Zeit.

Bei der konkreten Schätzung des Kartellschadens auf 15 % des Nettopreises hat das Landgericht Dortmund eine Vielzahl von Aspekten erwogen. Es beginnt insofern mit dem Erfahrungssatz, dass sich Kartellbeteiligte auch angesichts des mit Kartellen verbundenen Risikos einen wirtschaftlichen Erfolg versprechen und Preissetzungsspielräume zur Gewinnmaximierung nutzen (Rn. 147 f.). Berücksichtigt werden sodann die Dauer des Kartells (Rn. 149), der Umstand, dass die fraglichen Erwerbsvorgänge während einer fruchtbaren Phase des Kartells stattfanden (Rn. 149), die hohe Marktabdeckung (Rn. 150), die Kartelldisziplin (Rn. 152) sowie Ausweichmöglichkeiten und Preissensibilität der Marktgegenseite (Rn. 153 f.). Ebenfalls berücksichtigt hat die Kammer einen von den Parteien vereinbarten pauschalierten Schadensersatz, da sich der kartellbeteiligte Vertragspartner im Wissen um das Kartell sehenden Auges der Gefahr ausgesetzt habe, in dieser Höhe Schadensersatz leisten zu müssen (Rn. 158 f.). Deutlich höhere Prozentsätze will die Kammer nicht ansetzen, da Kartellanten die Preise nicht so weit anheben würden, dass die Vertragspartner argwöhnisch würden (Rn. 160). Die Kammer plausibilisiert ihre Schätzung schließlich damit, dass diese „leicht unterhalb des Durchschnitts der Mediane bekannter Studien angesiedelt“ sei und „exakt auf dem Median anderer, in Entscheidungen europäischer Gerichte zu findender Kartellaufschläge“ liege (Rn. 164 f.).

Das Urteil des Landgerichts Dortmund enthält eine Vielzahl weiterer interessanter Aspekte, etwa zur Kartellbetroffenheit (Rn. 68 ff.), zur Aktivlegitimation (Rn. 83, dazu auch hier) sowie zur Zulässigkeit des Passing-on-Einwands bei Streuschäden (Rn. 191 ff.), auf die hier jedoch nur hingewiesen und nicht weiter eingegangen werden soll.

Festzuhalten bleibt, dass dieses Urteil die Diskussion um die Quantifizierung von Kartellschäden nicht nur bereichert, sondern ihr einen neuen Schub gibt. Eine auch freie Schätzung von Kartellschäden durch die Gerichte ist nicht nur nachdrücklich zu begrüßen, sondern auch vor dem Hintergrund des § 33a Abs. 2 S. 1 GWB geboten. Sollte dies Schule machen, so wird dies die Attraktivität Deutschlands als Forum für Kartellschadensersatzklagen deutlich erhöhen. Für den weiteren Fortgang des Verfahrens ist anzunehmen, dass sich das OLG Düsseldorf für die Argumentation des Landgerichts Dortmund zumindest offen zeigen wird. Schließlich stützt sich das Landgericht maßgeblich auf einen Aufsatz von Kühnen, der dem 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf vorsitzt. Das letzte Wort wird dann der BGH haben.

Prof. Dr. Christian Kersting ist einer der Direktoren des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

5 Gedanken zu „Paukenschlag in Dortmund: Freie Schätzung von Kartellschäden

  1. Nicht jedermann wird glücklich darüber sein, dass das LG Dortmund die overcharge mit 15 % angesetzt hat. Denn diese Schätzung liegt zwar unter den von oxera und Connor verbreiteten Prozentsätzen, jedoch deutlich über den sonst, auch von Jürgen Kühnen, in den Raum gestellten Zahlen von 3, 5 oder 8 % (vgl. NZKart 2010, 515, 519).
    Dennoch ist es sehr zu begrüßen, dass das LG Dortmund hier wieder einmal die Führungsrolle übernommen und so schnell auf die Ermutigung durch den Kartellsenat des BGH reagiert hat (Schienenkartell II), wonach dem Tatrichter für die Schadensschätzung nach § 287 ZPO nicht nur der Weg über einen vom Gericht bestellten Gutachter zur Verfügung steht sondern gleichwertig auch die eigene Schätzung durch das Gericht auf der Basis aller relevanten Anknüpfungstatsachen.
    Man kann dem Gerichtsstandort Deutschland nur wünschen, dass der Fall bald den BGH erreichen wird, der — wie der Beitrag zu Recht betont — das letzte Wort darüber haben wird, welche Anknüpfungstatsachen vom Tatrichter der Schadensschätzung nach § 287 ZPO zugrundezulegen sind.

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