Conference Debriefing (14): Studienvereinigung zu Kartellbußgeldverfahren
In der regionalen Arbeitssitzung der rheinischen Kartellrechtler der Studienvereinigung Kartellrecht stand die neuere Entscheidungspraxis im Kartellordnungswidrigkeitenrecht auf der Agenda. Angesichts der Verwerfungen in verschiedenen Bußgeldverfahren der vergangenen Monate war das Thema bestens gesetzt. Für D’Kart gibt die Düsseldorfer Kartellrechtlerin Laura Delgado Pazos einen Einblick, wie es war.
Konferenzname: Arbeitssitzung der Studienvereinigung Kartellrecht im Rheinland
Thema: Aktuelle Entscheidungen in Kartellbußgeldsachen – Wechselwirkungen von Kartellrecht und Strafprozessrecht
Ort & Zeit: Die Räumlichkeiten stellte Daniel Dohrn, Oppenhoff & Partner, Köln, für die Regionalgruppe der Studienvereinigung zeichnen Florian Haus und Till Steinvorth verantwortlich; 1.10.2019
Teilnehmer: Rund 40 Kartellrechtler aus dem Rheinland, darunter auch Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf (Niclas Börgers, Leiter des Teams Kartellrecht) und des Bundeskartellamtes (Markus Rauber, Leiter P2)
Wenn es in Düsseldorf bei der Studienvereinigung um Geldbußen geht, ahnen wir schon, was Sache ist…
Anlass des kurzweiligen Abends bildete der seit dem Grauzement I-Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) von 2013 (KRB 20/12) aktuell zu verzeichnende Trend von Erhöhungen der vom Bundeskartellamt verhängten Geldbußen durch das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf. Die höchste Verböserung im Kartellbußgeldverfahren traf Drogeriehändler Rossmann im Kaffeekartell. Der Senat erhöhte Anfang letzten Jahres das behördlich verhängte Bußgeld von 5 auf 30 Mio. Euro, damit hat es die ursprüngliche Geldbuße nahezu versechsfacht!
Wie kann das eigentlich sein?
Hintergrund ist: Anfang 2013 hat der BGH in seinem Grauzementkartell I-Beschluss (KRB 20/12) die 10 %-Grenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB in verfassungskonformer Auslegung als umsatzabhängige Bußgeldobergrenze und nicht – wie auf europäischer Ebene – als Kappungsgrenze verstanden. Das Kartellamt hält sich seit jeher bei der Bußgeldbemessung an den in den eigenen Leitlinien „selbstgebastelten“ Bußgeldrahmen (so Thorsten Mäger in WuW 2019, 68, 69), der – wie wir alle wissen – für die Gerichte nicht bindend ist, und geht dabei weiterhin vom tatbezogenen Umsatz aus. Das OLG hingegen orientiert sich dem BGH folgend an der Bußgeldobergrenze und legt damit den weltweiten Konzernumsatz der Bußgeldzumessung zugrunde, was sich insbesondere auf Mehr-Produkt-Unternehmen und Großkonzerne negativ auswirkt. Kollege Mäger, der AS Création im Tapetenkartell vertritt, bezeichnete dieses Phänomen als einen „Systemwechsel“, eine Regeländerung mitten im Spiel (WuW 2018, 293 und 2019, 68). Auch hier wurde ja schon über die Problematik berichtet.
Das ist für Unternehmen nicht gerade einfach, oder?
Das Panel, besetzt mit Jürgen Wessing und Maximilian Janssen aus der Kanzlei Wessing sowie Christian Horstkotte und Anika Schürmann von Baker & McKenzie, gab einen Überblick über die Verböserungspraxis des OLG Düsseldorf, die aus Sicht vieler Kollegen rechtsstaatlich bedenklich und verfassungsrechtlich nicht abschließend geklärt sei. Etwa die Radeberger-Gruppe hat ihren Einspruch vor dem OLG just einen Tag vor Prozessauftakt des gerichtlichen Bierkartellverfahrens aufgrund unkalkulierbarer finanzieller Risiken nicht weiter verfolgt, „auch, wenn dies die Inkaufnahme der Zahlung eines hohen Geldbetrages nach sich zieht“, so die Pressemitteilung vom 12. Juni 2018.
Radeberger steht damit jedoch nicht allein auf weiter Flur. Aus Sorge vor einer Bußgelderhöhung häufen sich in letzter Zeit die Einspruchsrücknahmen durch die Nebenbetroffenen. Die Unternehmen sind aufgrund dieser obergerichtlichen Verböserungspraxis abgeschreckt und sehen sich gezwungen, in den sauren Apfel zu beißen und ggf. auch den (aus ihrer Sicht) berechtigten Einspruch zurückzunehmen, infolgedessen der Bescheid des Amtes gerichtlich nicht überprüft wird. Damit drängt sich die Frage auf, ob die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsweggarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 Grundgesetz noch gewahrt ist. Nein – so die ganz klare Meinung der rheinischen Kartellrechtler.
Dass es auch anders geht, bewiesen jedoch die erfolgreichen Einsprüche gegen die Bußgeldbescheide des Kartellamts vor dem OLG Düsseldorf etwa von Geflügelspezialist Heidemark im Wurstkartell und Großbrauerei Carlsberg im Bierkartell. Zum Prozessauftakt fragte Rupprecht Podszun hier, ob der Berater dieses Prozessrisiko der Mandantin noch verkaufen kann und erläuterte die Entscheidungsmöglichkeiten betroffener Unternehmen, als Nebenbetroffene bewegt man sich – egal welchen Weg man einschlägt – auf dünnem Eis. Kollege Michael Dietrich bezeichnet den Gang vor das OLG als „vermintes Terrain“.
Aber ein Terrain, in dem man auch mal gewinnen kann?
Damit sind wir beim Bierkartell. Die vier Referenten, die die Nebenbetroffene Carlsberg vertreten, legten die Gründe für eine Einspruchserhebung sowie die Bedeutung der StPO und dessen Verzahnung mit dem Kartellrecht dar.
Dem Bußgeldverfahren waren mehrjährige Preisabsprachen von elf Brauereien im deutschen Biermarkt vorausgegangen, die 2013/14 in Bußgeldern von insgesamt 338 Mio. Euro mündeten. Davon entfielen 62 Mio. Euro auf die Panel-Mandantin. Im Gegensatz zu seinen Wettbewerbern, wagte der Brauereikonzern den Schritt auf das dünne Eis des gerichtlichen Einspruchsverfahrens – während Radeberger bekanntermaßen einen Rückzieher machte – und verzeichnete einen Etappensieg. Im gerichtlichen Verfahren forderte noch die Generalstaatsanwaltschaft die Erhöhung des Bußgelds auf insgesamt 250 Mio. Euro. Doch das OLG hob im April 2019 den behördlichen Bescheid wegen Ablauf der absoluten Verjährungsfrist von zehn Jahren auf (V-4 Kart 2/16 OWi) und Carlsberg ging mit Null raus.
Das Unternehmen stützte sich in seiner Beschwerde jedoch nicht nur auf Verjährung, sondern v.a. auch auf die dünne Beweisgrundlage der Vorwürfe. Hinsichtlich der behördlich unterstellten bilateralen Kontakte beriefen sie sich auf die Wahrheitserforschungspflicht der Staatsanwaltschaft und den in dubio pro reo-Grundsatz. Außerdem konnten Carlsbergs Vertreter mit der Stellung von Beweisanträgen als zentralem Mittel der Verteidigung den Verfahrensablauf maßgeblich beeinflussen. Schließlich bezogen sie sich auf die bußgeldmindernde Wirkung unternehmensinterner Compliancesysteme sowie überlanger Verfahrensdauer und rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung.
Die Generalstaatsanwaltschaft gibt sich mit dem obergerichtlichen Urteil nicht zufrieden und hat Rechtsbeschwerde erhoben. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH auch im Carlsberg-Verfahren dem OLG die Leviten liest.
Wenn wir es richtig in Erinnerung haben, war das ja nicht das einzige Mal, dass der BGH in letzter Zeit eingriff …
Anschließend wurden die aktuellen Entscheidungen in Kartellbußgeldverfahren des jeweils identisch zusammengesetzten Kartellsenats des BGH unter Vorsitz der Präsidentin Bettina Limperg, die zum 31. August ihren Posten an den Vorsitzenden Richter Peter Meier-Beck abgegeben hat, thematisiert. Seit August 2018 musste der 4. Kartellsenat des OLG Düsseldorf, der den behördlich verhängten Bußgeldern einen saftigen Nachschlag verpasste, gleich mehrere peinliche Schlappen und scharfe Kritik der Karlsruher Richter einstecken.
Vor einem Jahr hob der BGH das von 180 auf 224 Mio. Euro verbösernde Urteil des Senats im Flüssiggaskartell von 2015 auf und verwies es zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Kartellsenat des OLG zurück (Flüssiggas III, KRB 60/17). Damit war u.a. Florian Haus, der die Nebenbetroffene Salzgitter Gas (vormals Primagas) vertritt und in unseren Reihen saß, mit seiner Beschwerde erfolgreich. Er war mit der Verfahrensrüge durchgedrungen, mit der er die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Antrags auf Vernehmung eines präsenten Entlastungszeugen gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG geltend gemacht hat. Das oberste Gericht stellte einen „durchgreifenden Rechtsfehler“ fest und beanstandete die „pauschalen Ausführungen“ des OLG. Durch diese Entscheidung habe der Kartellsenat seine rechtsstaatlichen Bedenken „geheilt“, so Haus.
Gegen das Anfang 2018 verkündete Urteil des Senats legte allein Rossmann im Kaffeekartell – zu seinem Glück – Rechtsbeschwerde ein. Wir erinnern uns: Das OLG versechsfachte nahezu das ursprünglich verhängte Bußgeld des Amtes. Der BGH stellte Mitte des Jahres fest, dass das Urteil entgegen der strikt einzuhaltenden Absetzungsfrist nicht rechtzeitig zu den Akten gelangt ist und nahm damit einen absoluten Revisionsgrund an (KRB 37/19). Dementsprechend hob der BGH auch dieses Urteil des Kartellsenats auf und verwies es wieder an das OLG zurück.
Keine guten Zeiten für das OLG beim BGH?
Stimmt. Schließlich heimste der 4. Kartellsenat eine weitere Niederlage im Süßwarenkartell ein. Anfang 2013 verhängte das Amt eine Geldbuße in Höhe von insgesamt 14 Mio. Euro gegen vier Süßwarenhersteller, die das OLG vier Jahre später auf 21 Mio. Euro verböserte. Aufgrund der lückenhaften Beweiswürdigung hob der Kartellsenat unter Präsidentin Limperg Mitte dieses Jahres jedoch das Urteil des OLG auf und verwies es wieder zurück (KRB 10/18). Einlassungen der Nebenbetroffenen und mögliche Abweichungen der Zeugenaussagen sowie Ausführungen zur Aussagemotivation der tatbeteiligten Zeugen fehlten im Urteil gänzlich, im Ergebnis habe das OLG wesentliche Beweisergebnisse übergangen, so der BGH. Das OLG hätte sich veranlasst sehen müssen, sich mit der Aussagemotivation der Zeugen zu befassen, zumal die Möglichkeit einer Falschbelastung der Betroffenen nicht fern lag, so die Karlsruher Richter.
Was macht man damit konkret in der Verteidigung?
Die aus dieser Rechtsprechung abzuleitenden Konsequenzen für die Verteidigungspraxis im Kartellbußgeldverfahren wurden vom Panel dargestellt und in der Kartellrechtsrunde erörtert. Wessing wies darauf hin, dass das Kartellbußgeldverfahren „ein Sonderfall des Ordnungswidrigkeitenverfahrens mit hervorgehobener Bedeutung“ sei. Die Verteidigung habe nicht erst in der Hauptverhandlung, sondern schon wesentlich früher im Ermittlungsverfahren anzusetzen. Auf Nachfrage empfahl Wessing, bereits im Ermittlungsverfahren zu kooperieren, um die Chancen auf Vermeidung eines Bußgelds zu erhöhen, man solle die Wettbewerbsbehörde „nicht einfach machen lassen“. Durch die umfassende Bezugnahme auf die Vorschriften der StPO stärkt der BGH die Verteidigung in gerichtlichen Kartellbußgeldverfahren. Dadurch verfügen Verteidiger über mehr Einflussmöglichkeiten auf den Ablauf der Beweisaufnahme, etwa durch die Stellung von Beweisanträgen. Denn die Ablehnung von Beweisanträgen ist – wie wir gesehen haben – fehleranfällig, ihre richterliche Begründung gewährt einen wertvollen Einblick in die vorläufige Einschätzung des Gerichts, sodass die Verteidigungslinie dem angepasst werden kann. Dass die Hauptverhandlungen umfangreicher werden, ist für Verjährungs- und Zumessungsfragen relevant. Wie gesehen, kann eine unzureichende Beweiswürdigung im Urteil eine Rechtsbeschwerde tragen. Das Strafprozessrecht verzahnt sich demnach immer weiter mit dem Kartellrecht und die Möglichkeiten sind noch nicht erschöpft. Wessings Fazit: Verteidigung lohnt!
Dann sind die Anwältinnen und Anwälte doch sicher zufrieden?
Kritisiert wurde, dass die Gerichte durch Anwendung der 10%-Bußgeldobergrenze und nicht der Bußgeldleitlinien des Amtes die Berechnungs- und Zumessungsmethodik der Behörde entwerteten. Die daraus resultierende Forderung unserer Kollegin: eine „Berücksichtigungsmöglichkeit“ im Sinne eines Begründungsmehraufwands durch das Gericht im Falle, dass es von der behördlichen Bußgeldpraxis abweichen möchte. Auch Wessing sprach sich für eine Harmonisierung der Bußgeldzumessungspraxis aus, wobei die konkrete Ausgestaltung letztlich in den Sternen – oder auch schon in der 10. GWB-Novelle – steht. Dies befürworten auch Podszun und Mäger, die eine gesetzgeberische Anlehnung an die Bußgeldleitlinien des Kartellamts vorschlagen. Ein Kollege bezweifelte, dass die drei erörterten BGH-Entscheidungen die künftige Verteidigungsstrategie in anderen Kartellbußgeldverfahren beeinflussen, zumal die erfolgreichen Beschwerden auf sehr individuellen Verfahrensfehlern beruhten.
Doch wie heißt es in Köln so schön: Et kütt wie et kütt, ävver et hätt noch emmer joot jejange… Das jedenfalls war die Stimmung bei köstlichem Fingerfood und einem Fässchen Kölsch im Anschluss an einen lehrreichen und unterhaltsamen Abend.
Don’t miss: Forum Unternehmensrecht am 29. Oktober 2019 um 16.30 Uhr, bei dem der W7 – danke Stefan Giesen! – gemeinsam mit Vertretern des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie des Bundeskartellamtes analysiert wird.
Laura Delgado Pazos (bei Twitter: @LDPKartellrecht) ist Rechtsanwältin. Sie startete nach Stationen in Kanzleien in Deutschland und Spanien Anfang des Jahres ihre eigene Kartellrechtskanzlei in Meerbusch bei Düsseldorf.
Dank an Till Steinvorth und Petra Brinkmann für die Fotos!