SSNIPpets (46): Ende einer Ära

SSNIPpets (46): Ende einer Ära

 

Ein bedeutender Richter wechselt den Senat. Ist das eine Nachricht? Und was für eine! Sogar der sonst nicht gerade um Worte verlegene Rupprecht Podszun war kurzzeitig sprachlos, als er das erfuhr. Jetzt hat er sich wieder gefasst und rasch seine Gedanken notiert – hier sind seine SSNIPpets, small but significant news, information und pleasantries – unser pet project!

 

Diese Personalie ist ein echter Paukenschlag: Prof. Dr. Jürgen Kühnen gibt zum 1. August 2021 den Vorsitz im 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf ab. Wenn Sie interessiert, was er künftig machen will und was das für unser heiß geliebtes Facebook-Verfahren bedeutet, dann sind Sie hier genau richtig.

„Kartell-Kühnen“ – eine Persönlichkeit

Es wird das Ende einer Ära sein: „Kartell-Kühnen“ (so wird er in Abgrenzung zu seinem Zwillingsbruder, dem „Patent-Kühnen“, gelegentlich genannt) war seit 1998 Mitglied des 1. Kartellsenats, seit 2007 Vorsitzender. Einer der profiliertesten Kartellrichter der Welt, so kann man das ruhig einmal formulieren, hört also auf. Tscha-bumm.

Kühnen steht für messerscharfe juristische Analyse und für das sehr offene Wort. Seine Verhandlungen und Entscheidungen haben oft hohen Unterhaltungswert, zumindest für diejenigen, die sie – wie ich – unbeschwert genießen können. Anwältinnen und Anwälte müssen zuweilen den Mandanten hinterher versichern, dass sie wirklich beide Jura-Examina geschafft haben, wenn im Gerichtssaal bei der „Einführung in den Sach- und Streitstand“ die Schriftsätze auseinander genommen werden. Oft verweigerte der 1. Düsseldorfer Kartellsenat dem BGH-Kartellsenat die Gefolgschaft (wobei Kühnen – zu Recht – einwenden würde, dass es Gefolgschaft in diesem Verhältnis auch gar nicht zu geben hat). Die Karlsruher Richter verwiesen zuletzt einige Fälle an einen anderen Düsseldorfer Senat zurück.

In materiell-rechtlicher Hinsicht fällt mir die Würdigung der Ära Kühnen schwer, aber mein Eindruck ist: Der Senat blieb einer ordoliberalen Tradition treu, vertraute eher auf die Idee des Leistungswettbewerbs als auf ökonomische Gutachten. Auch wenn die Fälle Booking.com und Facebook in jüngerer Zeit den Blick darauf verstellen, hat sich – subjektiver Eindruck – der Senat oft auf die Seite des Kartellamts geschlagen. Im immer wichtiger werdenden Schadensersatzrecht tastete sich der Senat vor, was nicht ohne Friktionen mit Karlsruhe ablief.

Über Kühnen privat ist weniger bekannt, aufmerksamen Beobachtern kann allerdings auffallen, dass es in einem anderen Senat des OLG eine Richterin namens Kühnen-Sasse gibt, mit der Kartell-Kühnen gelegentlich gesehen wird… sonst: Robe, runde Brille, Objektivität. Wobei, ein bisschen konnte man natürlich immer mal zwischen den Zeilen über den Senat erfahren:

„Die Feststellung, dass Sauermilchkäse (…) nicht mit anderen Weichkäsesorten austauschbar ist, können die Mitglieder des Senats, die zu dem angesprochenen Nachfragerkreis gehören, aufgrund eigener Lebenserfahrung selbst treffen“ (Az. VI-Kart 10/08 (V))

Immerhin soviel weiß man.

Jürgen Kühnen mit Studierenden und Mitarbeitern der Heinrich-Heine-Universität im OLG Düsseldorf, 2018

Sein größter Fall

Alle großen und kleinen Fälle im Kartellverwaltungsrecht der letzten Jahre gingen über seinen Schreibtisch. Für mich ragt einer heraus, weil sich hier das unbedingte richterliche Ethos so stark abbildet, das ich mit Jürgen Kühnen besonders stark assoziiere (auch wenn es natürlich auch viele andere Richterinnen und Richter vertreten). Am 12. Juli 2016 stoppte er mit seinen Beisitzern Lars Lingrün und Andrea Lohse vorläufig die Ministererlaubnis im Fall Edeka/Tengelmann. Die Begründung hatte es in sich: Der Wirtschaftsminister, es war Sigmar Gabriel, habe schwere Verfahrensfehler begangen, es sei die Besorgnis der Befangenheit gegeben. Die drei Senatsmitglieder stellten sich markant gegen den Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland und Chef der SPD.

Ob der Senat mit der Entscheidung vom Juli 2016 richtig lag, muss hier gar nicht geklärt werden. (Ganz falsch lag man wohl nicht – der von mir sehr geschätzte Kollege Daniel Zimmer war als Vorsitzender der Monopolkommission aus Protest gegen die Ministererlaubnis jedenfalls zurückgetreten.) Mir geht es um einen anderen Punkt: Einen Minister, der als Kartellbehörde agiert, mit sehr deutlichen Worten an das rechtsstaatliche Verfahren zu erinnern, das muss man sich erst einmal trauen – von einer „Ohrfeige“ für den Minister schrieb zum Beispiel die FAZ. Die Richter waren davon überzeugt, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten, und sie waren bereit, dafür einzustehen und ein Risiko einzugehen.

Manch Leser mag fragen: Welches Risiko? Aber es genügt schon der Blick in unser Nachbarland Polen, um zu ermessen, wie schnell Richterinnen und Richter unter Druck gesetzt werden können, wenn sie die Erwartungen der Regierenden nicht erfüllen.

Die Situation damals war aufgeheizt: Als die OLG-Entscheidung publik wurde, unterbrach Sigmar Gabriel seinen Urlaub und setzte zum Gegenschlag an. Dieser mächtige Mann mit seinen Spin-Doktoren und seinem Netzwerk teilte aus. In einer Pressekonferenz versuchte er den Eindruck zu erwecken, die Richter in Düsseldorf hätten kein Verständnis für die Nöte der Tengelmann-Beschäftigten:

„Es geht um 16.000 Arbeitsplätze, die Zukunft vieler Arbeitnehmerinnen und ihrer Familien, die bei Vollzeitbeschäftigung oftmals nur zwischen 1000 und 2000 Euro brutto im Monat verdienen… Lagerarbeiter, Gabelstaplerfahrer, Arbeiter in Fleischwerken, Verkäuferinnen – viele nur in Teilzeit.“

Der Senat habe im Übrigen die Verfassungsordnung verkannt und schwäche die soziale Marktwirtschaft. Hätten die Medien Gabriels Story gekauft, wäre Jürgen Kühnen ziemlich allein gewesen. Mit seinen juristischen Fähigkeiten hätte er einen für „Berlin“ angenehmeren Weg sicher ohne weiteres begründen können. Er hat den bequemen Weg in diesem hochpolitisierten Verfahren nicht gewählt. Es ist wohl nie Kühnens Anspruch gewesen, es sich oder anderen leicht zu machen. Von solchen Richtern lebt der Rechtsstaat.

Die Regierenden haben übrigens auf ihre Weise reagiert: Mit der nächsten GWB-Novelle wurde das Beschwerderecht bei der Ministererlaubnis so beschnitten, dass kaum mehr zu erwarten war, dass sich noch einmal ein Minister würde erklären lassen müssen, wie man das Kartellrecht anwendet. (Parallelen zu aktuellen Entwicklungen rund um die Zuständigkeit in kartellrechtlichen Verfahren sollen hier gar nicht thematisiert werden.)

 

Apropos Facebook…

Ich habe beim OLG nachgefragt, was der Wechsel an der Spitze des Senats eigentlich für das laufende Verfahren im Fall Facebook bedeutet. Der stellvertretende Pressedezernent teilte mit:

„Wenn die Vorabentscheidung vorliegt, wird das Verfahren unter Beachtung der vom EuGH geäußerten Rechtsauffassung in der dann aktuellen Senatsbesetzung durchgeführt.“

Moment! Dem Examenskandidaten fällt natürlich § 309 ZPO ein, demzufolge das Urteil von den Richtern gefällt werden muss, die auch der mündlichen Verhandlung beigewohnt haben. Und im Facebook-Fall gab es ja schon eine mündliche Verhandlung, über die wir hier berichtet haben. Müsste dann nicht Kühnen die Entscheidung treffen?

Peter Hartmann gibt im ZPO-Kommentar Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann Auskunft: Es kommt auf die maßgebliche Schlussverhandlung an. Wir dürfen uns also sicher auf eine weitere mündliche Verhandlung im Facebook-Verfahren freuen – und sei es nur, um den Anforderungen des § 309 zu genügen. Aber im Facebook-Fall dürfte es ja in der Tat nach der Äußerung des EuGH noch einiges zu besprechen geben. Hartmann empfiehlt in seiner Kommentierung von 2018 (§ 309 ZPO Rn. 2) dafür übrigens Folgendes:

„Immerhin liegt es an der verbliebenen Besetzung, dem hinzugekommenen Kollegiumsmitglied wenigstens die wirkliche Möglichkeit zu geben, einen vielleicht gerade wegen dieses Hinzukommens fruchtbaren weiteren Gedanken zu äußern. Der „Neue“ sollte sich davor nicht scheuen.“

 

Der „Neue“ ist ein alter Bekannter

Der „Neue“ an der Spitze des 1. Kartellsenats ist ein alter Bekannter: Jürgen Breiler. Breiler war selbst Mitglied dieses Senats von 2009 bis 2013, danach wechselte er in den 4. Kartellsenat, den Manfred Winterscheidt leitet, und war dort vor allem mit Kartellbußgeldverfahren befasst. Im Frankfurter Kommentar schreibt Breiler zu Verfahrensfragen, §§ 71a, 72, 73 GWB. Da kommt also einer, der sich im Kartellrecht schon bestens auskennt (was bei Personalwechseln in der Justiz ja nicht immer gewährleistet ist). Ich bin gespannt, wie er in die Fußstapfen von Jürgen Kühnen, Jörg-Winfried Belker und Wolfgang Jaeger tritt, jene Vorsitzenden, die seit dem Umzug des Bundeskartellamts nach Bonn über dessen Praxis im 1. Kartellsenat richten.

Es gibt inzwischen sechs Kartellsenate am OLG Düsseldorf: Neben der Nr. 1 sind die weiteren Senate schwerpunktmäßig mit energierechtlichen Fragen oder mit Kartellbußgeldrecht befasst, sie werden von den Richter/innen Dr. Maimann (2), Frister (3), Winterscheidt (4), van Rossum (5) und Dr. Egger (6) geleitet. Wer es genauer wissen will, schaut bitte hier nach.

Breaking News 2016.

Und was macht Kühnen?

Sie wollen wissen, was Kühnen jetzt vorhat. ***Trommelwirbel*** Sagen wir so: Jeder hat so seine geheimen Träume. Kühnen wird Vorsitzender des 3. Zivilsenats des OLG Düsseldorf. Zu dessen Zuständigkeit schreibt das OLG in einer Pressemitteilung:

„Der 3. Zivilsenat entscheidet in Verfahren der sog. freiwilligen Gerichtsbarkeit, insbesondere in den Bereichen des Grundbuchrechts, des Nachlassrechts sowie des Registerrechts.“

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Nach dem Geschäftsverteilungsplan ist der 3. Zivilsenat zudem zuständig für Fideikommiss-Sachen, Angelegenheiten nach dem Gesetz zur Abwicklung der landwirtschaftlichen Entschuldung vom 25.03.1952, Anträge auf Bewilligung erhöhter Pauschvergütungen für beigeordnete Rechtsanwälte in Unterbringungssachen undsoweiter undsofort. Mein Eindruck: Von HHI, SSNIP-Test oder Upward Pricing Pressure ist das doch etwas entfernt, aber vielleicht täusche ich mich da auch: Fideikommiss ist nicht mein Spezialgebiet.

 

Von Trust und Antitrust

Ein Kartellrechtler, der sich mit Fideikommiss vermutlich auskennt, ist Rainer Becker, den viele Leserinnen und Leser als einen wichtigen Akteur in der Europäischen Kommission kennen. Becker macht dort Pharmakartellrecht; wir hatten hier ja mal über den Aspen-Fall berichtet. Durch Zufall fiel mir einmal die Doktorarbeit von Rainer Becker in die Hände. An diese musste ich denken, als ich über Fideikommiss nachdachte. Becker hat sich nämlich einst mit der fiducie und dem Trust im Recht von Québec befasst. Die fiducie ist eine rechtsträgerlose zweckgewidmete Vermögensmasse, ein sog. patrimoine d’affectation. Dieses treuhänderische Modell weist, wenn ich das richtig überreiße, Parallelen zum Fideikommiss auf.

(Wenn es Ihnen schon an den basics mangelt, was ein Fideikommiss ist, so lesen Sie das bitte noch einmal im Zweyten Theil des Allgemeinen Preußischen Landrechts (dort IV. Titel, Zweyter Abschnitt) nach:

„Wenn aber jemand verordnet, daß ein gewisses Grundstück oder Capital, entweder für beständig, oder doch durch mehrere Geschlechtsfolgen, bey einer Familie verbleiben solle: so wird solches ein Familien-Fideicommiß genannt.“

Gern geschehen!)

Ist das so ein Kartellrechtler-Ding? Man geht vom Trust zum Antitrust (Becker) oder umgekehrt (Kühnen)? Sollte ich beginnen, mich stärker mit fiduziarischen, also treuhänderischen Rechtskonstruktionen zu befassen? Ich denke einstweilen bei Treuhand noch an AC Treuhand, jenen Kartelldienstleister aus Zürich, der dabei half, Absprachen bei Zinnstabilisatoren und Ester zu organisieren (siehe EuGH, Rs. C-194/14 P). Die AC Treuhand-AG firmiert übrigens inzwischen unter anderem Namen und hat sich einen Verhaltenskodex verordnet, der jedem Compliance-Beauftragten Tränen der Rührung in die Augen treiben dürfte.

Axt im Walde

Zu den Entscheidungen von Kühnen, die ich besonders mag, gehört eine solche zum Rundholzverfahren. Zur Erinnerung: Das Bundeskartellamt hat dem Staatsforst Baden-Württemberg in einem langwierigen Verfahrenskomplex vorgeworfen, gegen Kartellrecht zu verstoßen. Neben den hoheitlichen Aufgaben des Forsts habe man sich durch wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen bei der Holzvermarktung wie die Axt im Walde verhalten, sozusagen. Das Verfahren war auch deshalb so schwierig, weil ein Einsehen bei der Landesregierung ausblieb. Zwischenzeitlich änderte man dann einfach das Bundeswaldgesetz, um die Bäume für den Staat in wirtschaftlicher Hinsicht wieder in den Himmel wachsen zu lassen. Ach, so ein Staat hat es gut, der kann sich die Gesetze machen, wie er will. Oder doch nicht? Das OLG Düsseldorf beschied dem Ländle in Verfahren VI-Kart 10/15 (12.3.2017), für die Änderung des Bundeswaldgesetzes fehle es ja schon an einer Regelungskompetenz. (Die OLG-Entscheidung wurde vom BGH aus anderen, formalen Gründen kassiert.)

Schwarzwald.

Am LG Stuttgart klagen nun, übrigens ohne rechtskräftige Kartellamtsentscheidung im Rücken, Sägewerke auf Schadensersatz. Beklagt sind mehrere Bundesländer, auch Baden-Württemberg. Peter Hauk, Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, gab zum Prozessauftakt der Schwäbischen Zeitung ein Interview, bei dem jeder Experte für Litigation-PR die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Juve berichtete ausführlich darüber. Den Klägern drohte Hauk mehr oder weniger direkt an, sie künftig nicht mehr zu beliefern. Außerdem seien die Erfolgsaussichten gering, man klage ja gegen den Staat – was ein zumindest zweifelhaftes Rechtsstaatsverständnis durchblicken lässt. Schließlich werde man “nicht tatenlos zusehen”: Als “flankierende Maßnahme” zum Verfahren habe man versucht, Inkassodienstleister vom Kartellrecht fernzuhalten. Der Bundesrat hatte eine entsprechende Änderung des Rechtsdienstleistungsgesetzes empfohlen. Der Bundestag ist, immerhin, der Empfehlung nicht gefolgt. Die Idee aber, dass der Staat sich seine eigenen Regeln setzt, so wie er sie gerade für wirtschaftliche Aktivitäten brauchen kann, die ist arg bedenklich. Für Hauk beantrage ich allerdings mildernde Umstände: Vor seiner Ministertätigkeit war er Leiter staatlicher Forstämter.

Felicitations

Da wir heute bei den Personalien sind: Jonathan Kanter komplettiert das Antitrust-Team von Joe Biden. Er soll neuer Assistant Attorney General im US-Justizministerium werden und damit der Chef-Enforcer des DoJ. Kanter ist Rechtsanwalt, zuletzt in eigener Boutique, er hat sich dadurch einen Namen gemacht, so berichtet die Presse, dass er Google-Gegner vertreten hat. Neben Lina Khan und Tim Wu ist das also das dritte Ausrufezeichen, das Joe Biden setzt, um den GAFAs zu zeigen, dass ein scharfer Wind wehen wird. Ob Kanter aus seiner Kanzlei auch den Chief Morale Officer mitbringt, konnte einstweilen nicht geklärt werden…

Übrigens sollen derzeit 70 Kartellverfahren weltweit gegen Apple, Amazon, Google und Facebook anhängig sein, berichtet TheInformation.com kürzlich. Tendenz steigend: Zuletzt machte die Nachricht die Runde, dass das Bundeskartellamt prüfe, ob Facebook nicht die Übernahme von Kustomer in Bonn hätte anmelden müssen. Die Pressemitteilung dazu las sich wie ein kleiner Affront gegen Brüssel. Denn dort wird, auf Verweis Österreichs nach Art. 22 FKVO hin, genau dieser Fall schon geprüft. Ist man da möglicherweise übereifrig in Bonn und hat das Prinzip „one stop shop“ vergessen, nach dem nur die Kommission zuständig sein soll – und keine Mitgliedsstaaten mehr?

Ich habe mir Art. 22 und Art. 21 FKVO sehr genau angesehen, und ich kann es Ihnen jetzt nicht genau erklären, aber es ist richtig so, wie es das Kartellamt macht. Glaube ich. Es gibt Fälle, in denen das „one stop shop“-Prinzip der EU-Fusionskontrolle durchbrochen wird. Und das hat mit der neuen Auslegung von Art. 22 FKVO, über die ja Georg Schmittmann hier schon berichtet hatte, erst einmal gar nichts zu tun. Dass es ausgerechnet den Bonner Lieblingskunden Facebook trifft – das ist natürlich ein lustiger Zufall.

 

Ein Brief aus England

Voltaire

Es passt ja immer, erst recht in einem Blog, der nach einem französischen Philosophen benannt ist, aus einem Brief von Voltaire zu zitieren. Voltaire, also François-Marie Arouet, hatte für ökonomische Modellrechnungen einiges übrig. Wie die Süddeutsche Zeitung diese Woche erzählte, sicherte er sich seine Einnahmen und damit seine Freiheiten, indem er mit einem Mathematiker gemeinsam ein staatliches Lotteriesystem übertölpelte ausrechnete.

In seiner eigentlichen Tätigkeit als Schriftsteller beeindruckte er mit einem für die Zeit gleichfalls sehr wachen Blick fürs Glück durch Handel: Voltaire war in England und sah in dem schon etwas freieren Land viele Entwicklungen, die er in Frankreich noch nicht sah. Ihn begeisterte u.a. das freie Unternehmertum, für das wir ja im Kartellrecht auch immer kämpfen, ggf. gegen staatliche Bevormundung. Es ist der X. Brief aus der Reihe Letters Concerning the English Nation, und Voltaire vergleicht den gesellschaftlichen Nutzen von Hofschranzen mit denen der Kaufleute:

„However, I need not say which is most useful to a nation; a lord, powdered in the tip of the mode, who knows exactly at what o’clock the king rises and goes to bed, and who gives himself airs of grandeur and state, at the same time that he is acting the slave in the ante-chamber of a prime minister; or a merchant, who enriches his country, despatches orders from his counting-house to Surat and Grand Cairo, and contributes to the felicity of the world.“

The felicity of the world! Ach! 1733 erschien das erstmals, und als die „Letters“ in Frankreich anlandeten, wurden sie verboten. Das war wahrscheinlich eine „flankierende Maßnahme“ gegen die heraufziehende Revolution.

*

Ich widme Ihnen diesen unvergesslichen Song von Fury in the Slaughterhouse. Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer – and the felicity of the world!

Rupprecht Podszun

PS: Ich empfehle Ihnen gern unseren Podcast „Bei Anruf Wettbewerb“, den ich mit Justus Haucap mache. Zuletzt haben wir über alles mögliche gesprochen, davor mit Monika Schnitzer. Hören Sie mal rein! Und apropos Podcasts: Für Jura-Studis und -Interessierte gibt es den großartigen Jura-Podcast meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiter: Einfall im Recht – wenn Sie auf den Link klicken, können Sie sogar die zugehörige Instagram-Seite sehen. Viel Spaß!

2 Gedanken zu „SSNIPpets (46): Ende einer Ära

  1. Erst einmal ganz herzlichen Dank für den erhellenden Hinweis (gegen Ende), dass sich der Name dieses Blogs von einem bedeutenden französischen Philosophen herleitet — viele, zumindest ich selbst, hatten darin bisher allein eine örtliche Referenz an die Herkunft des Blogs aus der deutschen Kartellrechtshauptstadt gesehen!

    Und natürlich ist dieser Paukenschlag allein schon einen großen Blogbeitrag im Sinne einer Würdigung wert – vielen Dank dafür. Man fragt sich natürlich sofort, warum sich ein derart meinungs- und formulierungsstarker Richter, der seine Prominenz sichtlich genoss, freiwillig in einen anderen Senat zurückzieht, dessen Rechtsmaterie, vorsichtig ausgedrückt, weit weniger im Rampenlicht steht.

    Immerhin hat der Wind gerade dem ersten Kartellsenat zuletzt stark ins Gesicht geblasen. Manch einer wird sich noch an die Urteile des ersten Kartellsenats aus dem Januar 2019 erinnern, in denen das Urteil des BGH in Schienenkartell I (11. Dezember 2018) aufs Schärfste kritisiert wurde (“ mit der jahrzehntelangem deutschen Rechtsprechung zum Kartellschadenersatz nicht vereinbar“, und weiter: diese Rechtsprechung „ist darüber hinaus aus den verschiedensten Gründen fehlerhaft.“) — unzweifelhaft die Diktion des Vorsitzenden höchstpersönlich.

    So berechtigt diese Kritik in der Sache war, so musste die gesamte Diktion doch als unbotmäßig und ungehörig erscheinen.
    Der BGH hat es sich deshalb nicht nehmen lassen, diese Urteile nicht nur aufzuheben sondern an einen anderen Senat des OLG Düsseldorf zurückzuverweisen, worauf Rupprecht Podszun bereits hingewiesen hat. Damit drückt ein Revisionsgericht ein gegenüber der bloßen Aufhebung des Urteils erhöhtes Maß an Missbilligung gegenüber dem Berufungsgericht aus — manche sprechen hier von Höchststrafe.

    Und schließlich hat der Gesetzgeber der 10. GWB-Novelle noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren entschieden, dem OLG Düsseldorf und damit dem ersten Kartellsenat die Zuständigkeit für Beschwerden gegen Verfügungen des Bundeskartellamts zu entziehen, die auf den neu eingeführten § 19a GWB gestützt sind — eine klare Reaktion des Gesetzgebers gegenüber dem Vorgehen des OLG Düsseldorf im Facebook Verfahren.

    Es würde nicht wundern, wenn Prof. Dr. Jürgen Kühnen dies alles (und manch anderes) mit dem Rückzug aus der Kartellrechtsprechung quittiert hätte getreu dem Motto „Erst wenn ich einmal nicht mehr da bin, werdet Ihr herausfinden, was Ihr an mir gehabt habt.“ Und vielleicht wird er damit Recht behalten!

  2. Die Auflösung zu Art. 22 FKVO ist dessen Absatz 3, Unterabsatz 3. Die Verweisung betrifft nur die Mitgliedstaaten, die den Antrag gestellt haben 😉

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