Facebook: Next stop Europe
Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat am Mittwoch der Saga Bundeskartellamt vs. Facebook eine neue Wendung zugefügt: Die Sache geht nach Luxemburg zum Europäischen Gerichtshof. Offen ist derweil, Stand: 24.3.2021, ob das Bundeskartellamt sich in der Zwischenzeit den Umsetzungsplan von Facebook vorlegen lässt. Rupprecht Podszun war für D’Kart bei der Verhandlung im OLG Düsseldorf.
Als ich aus dem Oberlandesgericht stolperte, raus ins Offene, die Sonne strahlte, mal kurz die Maske runter für eine Brise Frischluft, der Rhein wälzte sich mit einiger Dynamik Richtung Nordsee – da traf ich auf einen bekannten Düsseldorfer Kartellrechtsanwalt, den ich im Saal gar nicht gesehen hatte. Maske wieder rauf. Achso, der war beim Bierkartell. Das lief ja parallel zum spannendsten, spektakulärsten, wichtigsten Kartellrechtsverfahren der letzten Jahre, ach, Jahrzehnte. (Und wenn man darüber das Bierkartell, das ja auch nicht gerade wenige Umdrehungen hat, vergisst, will das etwas heißen).
Der Anwalt fragte kurz, wie es gelaufen sei, bevor er weiterhasten musste, und ich sagte: Das Facebook-Verfahren geht zum EuGH. Sein Gesichtsausdruck war priceless. Er fasste geradezu alles zusammen, was sich an Emotionalität, an Gereiztheit, an enormer intellektueller Anstrengung, an Theatralik und letztlich auch an Ratlosigkeit über mehrere Stunden im Kellersaal A01 des Oberlandesgerichts Düsseldorf entfaltet hatte.
Ein Senat auf Linie?
Eigentlich war ja alles klar: Am 24.3.2021, 11.00 Uhr wurde die Sache Facebook Inc. u.a. (über das „u.a.“ wird noch zu reden sein) gegen Bundeskartellamt aufgerufen. Den Vorsitz führte Prof. Dr. Jürgen Kühnen. Die Sache hat eine Geschichte: 2016 leitete das Bundeskartellamt ein Verfahren gegen Facebook ein, 2019 traf es eine Entscheidung, die in ihrem Ausspruch ins Herz des Geschäftsmodells von Facebook zielt. Es folgte ein Pendelverkehr zwischen Düsseldorf und Karlsruhe: Der OLG-Senat von Kühnen ordnete im einstweiligen Verfahren die aufschiebende Wirkung an. Der BGH-Kartellsenat hob diese Entscheidung auf. Zum Vollzug kam es dennoch nicht, ein eher merkwürdiges Zwischenspiel mit Hängebeschluss hinderte das vorerst. (Alle Details samt zahlreicher Nachweise können Sie auf unserer neuen Serviceseite https://www.d-kart.de/der-fall-facebook/ nachlesen, die ich mit Studentinnen und Studenten aus der Kartellrechtsvorlesung zusammengestellt habe.)
Wer den Eilentscheid des OLG gelesen hatte, konnte keine Zweifel haben, dass für Jörg Nothdurft und das Team vom Bundeskartellamt (Irene Sewczyk, Gunnar Pampel und Stephan Schweikardt) wenig zu gewinnen sein würde. Im Eilverfahren waren vom Gericht schon so viele Mängel so dezidiert gerügt worden, dass es eine Überraschung gewesen wäre, wenn die im Hauptsacheverfahren anders bewertet worden wären. Wobei – immerhin hatte der Bundesgerichtshof den Fall ja zwischenzeitlich behandelt und auch wiederum ausführliche Ausführungen gemacht. Würde der 1. Kartellsenat des OLG auf die BGH-Linie einschwenken?
Manche Beobachter würden eine solche Frage wohl als Scherzfrage auffassen. Die fachlichen Differenzen zwischen den beiden Senaten sind wohlbekannt – Beispiele von heute später. Allerdings, das sollte man auch nicht übersehen, hatte Kühnen im Vergleich zum Eilverfahren zwei neue Richterinnen an seiner Seite – Alexandra Poling-Fleuß und Ursula Mis-Paulußen. Sie sind von der Linie, die Kühnen mit ihren Vorgängern im Eilverfahren, Lars Lingrün und Andrea Lohse, vorgezeichnet hatte, ein wenig abgewichen.
Wer zweifelt, ob denn ein in der Hackordnung der Justiz nachgeordnetes Gericht wie das Oberlandesgericht die Meinung des Bundesgerichtshofs ablehnen könne, der sei verbeschieden: Ja, klar. Richterinnen und Richter, und das macht sie aus, sind unabhängig. Das OLG ist weder faktisch noch rechtlich durch den BGH gebunden. Kühnen: „Es ist die Amtspflicht der Senatsmitglieder, selbst die Sach- und Rechtslage festzustellen.“ Wer meine, der Fall sei nach dem BGH-Beschluss gelaufen, insinuiere wohl, die OLG-Richter*innen würden ihre Amtspflichten verletzen, tststs.
Corona-Klassentreffen
Die Verhandlung, ein Höhepunkt der Präsenzveranstaltungen in dem in diesem Jahr ja ausgedünnten Kartellrechtskalender, hatte ein bisschen was von einem stark reduzierten Corona-Klassentreffen: Facebook bietet inzwischen mit Latham Watkins (Michael Esser, Jan Höft, Judith Jacop), Gleiss Lutz (Ingo Brinker, Ines Bodenstein) und WilmerHale (Hans-Georg Kamann) drei Kanzleien auf. Esser versenkte sich vor Prozessbeginn in sein inneres Selbst, während die Facebook-Vertreter um ihn herum schnatterten – das ist wahrscheinlich so, wenn man in einem großen Laberkonzern (Facebook, Whatsapp, Instagram) arbeitet. Ingo Brinker von Gleiss Lutz, Berater im Hintergrund, wirkte – wie meist – gelassen und konnte auch mal mit Ökonomin Doris Hildebrandt ein Schwätzchen halten, die – auf Abstand – neben ihm saß. Die Verbraucherschützer vom Verbraucherzentrale Bundesverband sind Beigeladene. In der Sache passend waren die Tischchen für Heiko Dünkel, Teamchef Litigation, und Anwalt Sebastian Louven eher auf die Seite des Kartellamts gerückt. Auf dem Namensschild von Dr. Louven prangte ein noch recht frischer Doktortitel.
Apropos Doktorarbeiten. Oder, nein, das schreibe ich später auf, wir wollen mal erst noch die Säle abschreiten. Das Kartellamt, wie geschrieben, mit vier Personen vertreten, angeführt von Nothdurft. Wenn man weiß, dass es ja auch dort nur drei Leute in einer Beschlussabteilung sind, die für dieses Hammerverfahren zuständig sind, konnte man angesichts der personellen Übermacht auf der Gegenseite natürlich rasch wieder ins Grübeln kommen, ob eine solche Behörde mit den mächtigsten Unternehmen der Welt noch auf Augenhöhe ist. In gemessenem Abstand: Die Medien und die Öffentlichkeit. Der umsichtige Pressereferent des Oberlandesgerichts, Dr. Michael Börsch, hatte die delikate Aufgabe, in Pandemie-Zeiten in einem doch überschaubar kleinen Saal den erwarteten Andrang zu managen, und er löste das ohne Probleme und auch zu meiner Zufriedenheit: D’Kart saß in einer Reihe mit dpa und Süddeutscher Zeitung, was ja, wie die Leserinnen und Leser dieses Blogs wohl zugestehen mögen, mindestens angemessen ist. Auf den billigen übrigen Plätzen: Weitere Facebook-Anwältinnen und Prozessbeobachter, die eifrig notierten. Wer hier nicht Platz fand, konnte sich in einen anderen Raum begeben, in den die Verhandlung mit Ton übertragen wurde. Einige meiner Studentinnen und Studenten saßen dort, für sie war es ein zwiespältiger Vorgeschmack: In diesem Raum werden sonst Examensklausuren geschrieben.
Sinn und Zweck der Missbrauchsaufsicht
Kühnen, konzentriert, ruhig, kein Schluck Wasser die ganze Zeit, eröffnete die Verhandlung – nach den üblichen Corona-Hinweisen – mit einer 90-minütigen Darlegung, wie er und die zwei Richterinnen den Fall vorläufig einschätzen.
Gleich der erste größere Punkt des Verfahrens war dann eine fundamentale Erwägung, deren Bedeutung sich nicht recht erschloss. Warum hat das Amt Art. 102 AEUV nicht angewendet? Der Senat rätselt. Kartellamt: Weil im deutschen Recht der Kartellrechtsverstoß durch AGB bereits konturiert ist, im europäischen Recht jedoch nicht. Soso. Ist denn § 19 GWB strenger als Art. 102 AEUV? Der Senat vertritt die Auffassung, dass § 19 GWB und Art. 102 AEUV, die beiden Missbrauchsverbote, im Wesentlichen gleichlaufen (vom Zwischenstaatlichkeitserfordernis abgesehen). Ich sage das in meinen Vorlesungen auch immer so. Jörg Nothdurft hingegen, der ja als Privatmann ein versierter Kenner des § 19 GWB ist, wie seine Ausführungen im Langen/Bunte-Kommentar belegen, erklärte, § 19 habe ja einen ganz anderen „Zielkanon“ als das europäische Pendant. Das war interessant, und ich hoffte, meine Studierenden würden sich in diesem Moment Notizen zu Sinn und Zweck der deutschen und der europäischen Missbrauchsaufsicht machen. Aber wie so oft, wenn es akademisch besonders packend wird, blieb der praktische Nutzen doch überschaubar: Es stand eher nicht zu erwarten (und so kam es dann auch nicht), dass Facebook auch noch nach einer Watschn, die auf Art. 102 AEUV gestützt war, verlangte.
Die DSGVO ist zurück im Spiel
Der zweite große Schritt in Kühnens Darlegungen kam dann aber sehr zur Sache. Er eröffnete den Punkt mit einem klaren Bekenntnis:
„Grundsätzlich kann ein Missbrauch von Marktmacht durch einen Verstoß gegen verbraucherschutzrechtliche Normen bewirkt werden.“
Das öffnet die Tür zum Kartellrechtsverstoß wegen Verstoßes gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Damit erkannte der Senat grundsätzlich das Prüfkonzept an, das er aus der Kartellamtsentscheidung herausgelesen hatte. Dass der BGH den Fall anders strukturiert, störte den Senat nicht weiter – er entscheidet über die Kartellamtsverfügung. Dass auch das Kartellamt es wohl nicht so ausdrücken würde, wurde noch zum Thema. Zwei große Aber knüpfen sich an diese „Missbrauch durch Rechtsbruch“-Theorie: Ist das Bundeskartellamt überhaupt für einen DSGVO-Verstoß zuständig? Und wenn ja – verstößt Facebook gegen die DSGVO?
Sie dürfen an dieser Stelle aufhören zu lesen, denn die (abstrahierten) Antworten darauf wird der Europäische Gerichtshof hoffentlich innerhalb der nächsten Aeonen Jahre geben. Aber dann würden sie nichts mehr erfahren über den Wert der Wissenschaft, und über einige durchaus bemerkenswerte Sätze, die noch gefallen sind.
Irisierendes Kompetenzgerangel
Der Senat hat erhebliche Zweifel, ob eine Wettbewerbsbehörde „letztlich im Ergebnis als Datenschutzbehörde“ agieren darf. Ist das DSGVO-Durchsetzungsregime also abschließend? Dann wäre die irische Datenschutzbehörde wohl zuständig. Bei der läuft es ja ungefähr so gut mit der Privacy-Durchsetzung wie in Deutschland mit Testen, Impfen, Kontaktnachverfolgung. Nun ist allerdings Kompetenzrecht nicht so gestrickt, dass jemand anders einspringt, wenn einer versagt. Nothdurfts dahingehende Bemerkung (die Iren machen ja nix, daher dürfen wir!) kommentierte Kühnen trocken mit: „mutige These“.
Die Crux liegt allerdings in den Wörtern „letztlich im Ergebnis“. Ja: Hat das Kartellamt Erfolg, dann wäre das ein erheblicher Schlag für Facebooks Aufbau von Superprofilen durch die Zusammenführung aller möglichen Daten. Aber: Hat das Amt hier die DSGVO angewendet? Oder hat es nur (so die Lesart, die in Bonn und Karlsruhe präferiert wird) die Wertungen der DSGVO herangezogen, um einen Kartellrechtsverstoß zu begründen oder gar nur zu illustrieren? Geht es hier also um ein Problem wirtschaftlicher Macht (also Kartellrecht), das in einer zu intensiven Datenverarbeitung Ausdruck findet? Oder geht es um die zu intensive Datenverarbeitung selbst (Datenschutzrecht)?
Nach meinem Verständnis wird das OLG die Frage vorlegen, ob das Bundeskartellamt unzulässig in eine (vermeintlich?) abschließende Zuständigkeitsordnung der DSGVO eingreift. Aber das kann ich nicht einhundertprozentig beschwören, denn es ging sehr schnell, als Kühnen kurz vor Ende des Verhandlungstags offenbarte, dass man dem EuGH vorzulegen gedenke.
Stoff für Luxemburg vom D-Court (and D is for data)
Zur Frage eines Verstoßes von Facebook fielen dem Gericht auch einige Unklarheiten in der DSGVO auf. Was sind sensible Daten im Sinne von Art. 9? Was dient zur Vertragserfüllung nach Art. 6 Abs. 1 lit. b DSGVO? Welche Rolle spielt Art. 21?
Das ist fast schon ironisch: Mit seinen Vorlagefragen macht der Kartellsenat des OLG Düsseldorf jetzt knallhartes Datenschutzrecht – also genau das, was man – wie immer wieder durchklang – dem Kartellamt ja eigentlich nicht zugestehen will. Je nachdem wie die Luxemburger Antworten ausfallen, dürfen sich zukünftig die Datenschützer auf der Grundlage gesicherter EuGH-Rechtsprechung über Facebook & Co. hermachen, dank einem Düsseldorfer Kartellsenat.
Twists and turns: Das Kartellamt legt los, weil die irische Datenschutzbehörde untätig bleibt. Das OLG Düsseldorf hat Zweifel, ob das Kartellamt Datenschutzrecht überhaupt machen darf. Stattdessen macht es das dann gleich selbst und besorgt für alle Datenschützer in Luxemburg eine höchstrichterliche Auslegung der DSGVO. Sollten sich die Facebook-Vertreter heute gefreut haben, dass das OLG Düsseldorf doch wieder recht deutlich gegen das Amt ausgeteilt hat, dürfte ihnen diese Lesart wenig Freude bereiten.
Die gute Nachricht für das Amt
Es war kein leichter Tag für das Team des Kartellamts. Jörg Nothdurft entfuhr der Satz, er habe nach den Darlegungen des Senats damit gerechnet, dass die Verfügung des Amtes heute noch aufgehoben würde. Wer konnte es ihm verdenken? Zwischenzeitlich, als Kühnen mehrfach sagte: „Klärungsbedürftig ist…“ konnte man zwar an eine Vorlage nach Art. 267 AEUV denken. Aber eigentlich blieb dann nicht mehr viel übrig, was überhaupt noch für das Kartellamt sprach. Und insbesondere wurde nicht das Rechtsgespräch mit den Parteien gesucht, was sie von einer solchen Vorlage halten, und was man da vielleicht so fragen könnte, wenn man sich schon einmal die Mühe macht.
Immerhin ließ Kühnen nach der eher überraschenden Volte am Schluss durchblicken, ein Vertreter des Amtes selbst habe ihm gegenüber „telefonisch angeregt“, die Sache vorzulegen (was heutzutage alles so telefoniert wird!). Auch beim BGH hatte das Kartellamt eine solche Vorlage ins Spiel gebracht. Aber über weite Strecken der 90-Minuten-Kühnen-Lecture war von Vorlage eigentlich nichts zu hören. Vor diesem Hintergrund ist es für das Amt eine Nachricht, die frohlocken lassen sollte, dass der EuGH ins Spiel kommt.
Eine Vorlage nach Art. 267 AEUV ist nur zu solchen Fragen möglich, die für den Rechtsstreit entscheidungserheblich sind. Das bedeutet: Ob das Kartellamt Recht kriegt oder nicht, hängt an den Antworten aus Luxemburg. Voilà! Das OLG Düsseldorf sieht offenbar den Begründungsweg des Amtes nicht als derart verfehlt an, dass es auf die DSGVO-Fragen nicht ankäme. Sonst würde man den EuGH nicht zu Rate ziehen müssen. Schon in der Würdigung des Datenumgangs durch Facebook wurde immer wieder ein sehr differenzierter Umgang mit diesen Fragen deutlich – mitnichten war daraus eine Freizeichnung für Facebook zu lesen. Der „Registrieren“-Button stelle keine wirksame Einwilligung dar. Das werde auch nicht durch sonstige Maßnahmen kompensiert. Manche Ausführungen von Facebook für die Nutzer seien „kaum lesbar“.
Schwer vorstellbar, dass der EuGH DSGVO-Verstöße bejaht und das OLG in der Folge sagt: „Wir hatten ja nur mal interessehalber gefragt. Die Verfügung ist ohnehin nicht haltbar. Danke dennoch!“ Das gilt umso mehr, als in dem geradezu mustergültigen Prüfungsaufbau, den Kühnen durchexerzierte (Studenten, aufgepasst, Prüfungsschema!), sehr viele Konjunktive, hilfsgutachterliche Erwägungen, wenns und abers vorkamen. Kein Zweifel: Das Trio hat den Fall sehr genau durchdacht und daraufhin nicht aufgehoben, sondern nach Luxemburg geschickt.
Die gute Nachricht für Andreas Mundt: Das Kartellamt kann diesen Rechtsstreit in Düsseldorf irgendwann noch gewinnen, und ob es das schafft, hängt jetzt maßgeblich am EuGH.
Keine guten Nachrichten für den BGH
Das sah freilich bis zur Verkündung dieses Vorlagebeschlusses gänzlich anders aus. Denn nach den Ausführungen zur DSGVO ging ein im Ton gemäßigtes, in der Sache gewaltiges Donnerwetter nieder. Das Amt habe keine Differenzierungen vorgenommen, zu wenig begründet, das sei doch Eingriffsverwaltung. Und der BGH erst! Ersetzt die Begründung des Amtes mit einer wesentlich anderen, wodurch die Verfügung in ihrem Wesen geändert wird. Wohl unzulässig! Die neue Begründungslinie („aufgedrängte Leistungserweiterung“) ist „dogmatisch überhaupt nicht einzuordnen“ (vulgo: abwegig). Sie trägt auch den Verbotsausspruch nicht, da hätte das Amt ja ganz anders tenorieren müssen! Facebook könnte doch auch einfach seine Dienste einstellen, siehe Australien! Es ist doch auch gar nicht belegt, dass die Nutzer das alles nicht wollen! Auch in der Pressemitteilung des OLG, die wir schon in der Inbox vorfanden, als wir noch vor dem mächtigen Hauptportal des OLG auf den Rhein blickten, geht es viel ausführlicher um die Fehler des BGH als um die eigentliche Nachricht, die Verschickung des Falls nach Luxemburg.
Vom Wert der Wissenschaft
Zur Frage, ob es sich überhaupt um eine aufgedrängte Leistungserweiterung handele, die offenbar davon abhängt, was die Nutzer wollen, sekundierte Anwalt Esser gern. Er misst der Wissenschaft einen hohen Wert bei, was den Autor dieser Zeilen berufsbedingt freut. Esser konnte nämlich drei Gutachten anführen (die branchenüblich von den Autoren wohl nicht pro bono erstellt worden sein dürften). Die „Koryphäe“ Professor Matthias Sutter vom MPI in Bonn sei zu einem „vernichtenden Ergebnis“ gekommen, was die Befragung des Kartellamts angehe, nach der über 40 Prozent der Befragten sagten, sie könnten sich den Wechsel zu einem anderen Netzwerk vorstellen, wenn das weniger Daten sammle. Nothdurft ließ es sich im Gegenzug nicht nehmen, die Kernfrage aus der Verbraucherbefragung vorzulesen. Ach, das war goldig.
Professor Martin Nettesheim aus Tübingen hat Facebook bescheinigt, dass die Kartellamtsentscheidung europarechtswidrig ist. Sein Tübinger Kollege Stefan Thomas hat zur Kausalität geschrieben – dieses Gutachten dürfte freilich, nach der hier beachtlichen Änderung des GWB in § 19 eher historischen Wert haben.
Was den Wert der Wissenschaft angeht, so muss man aber fein differenzieren: Auftragsgutachten haben eine hohe Aussagekraft, 10 Jahre alte Doktorarbeiten jedoch nicht. Roland Broemel von der Uni Frankfurt war mit seiner 2010 veröffentlichten Schrift „Strategisches Verhalten in der Regulierung“ vom BGH zitiert worden. Kühnen erklärte, der BGH habe Broemel falsch zitiert. Esser: Was von der Relevanz einer 10 Jahre alten Doktorarbeit zu halten sei – nun ja, dazu habe der Vorsitzende ja alles gesagt (der allerdings die Relevanz dahinstehen hat lassen). (Zu gern hätte ich erfahren, ob Essers Irrelevanzverdikt auch für dieses Werk gilt. Wurde leider nicht geklärt. Aber der Mann hat Humor, das weiß ich, er hätte sicher einen guten Spruch dazu gehabt!) (Übrigens: Eine Liste nicht ganz so alter Dissertationen zum Kartellrecht finden Sie hier!)
Welche Daten genau?
Zwei Punkte trafen das Kartellamt schon noch ins Mark.
Vorwurf 1: Es wird nicht genug differenziert zwischen verschiedenen Daten und ihren Wirkungen. Es liege wohl auf der Hand, dass Facebook bestimmte Daten erheben dürfe – da müsse das Amt schon genauer tenorieren und begründen.
An solchen Punkten merkte man immer wieder, dass der Senat die Amtsentscheidung gänzlich anders liest als der BGH (und das Amt selbst). Das Amt, so stellte Nothdurft es dar, kümmert sich um ein Machtproblem – und da ist der Vorwurf nicht, dass einzelne Daten zu Unrecht erhoben wurden, sondern dass Facebook seinen Nutzern seine Bedingungen aufzwingt.
Nothdurft entgegnete auf den Vorwurf mangelnder Begründung und Differenzierung mit einem interessanten Bild und einer interessanten Aussage. Das Bild: Facebook habe eben „einen großen Schluck aus der Pulle genommen“, man sammelt alles, was man nur irgendwie kriegen kann, sollte das wohl heißen. Die Beschlussabteilung sei mit Facebook gar nicht erst ins Gespräch gekommen, was im Einzelnen an Daten erforderlich sei, weil Facebook pauschal alles für erforderlich erklärt habe. Was solle man da noch tun?
Und nun der interessante Gedanke: Die Differenzierung, was Facebook nun im Detail zu tun habe, das sei ja Teil der Abhilfemaßnahmen. Daher habe man von Facebook erst einmal einen Umsetzungsplan verlangt, um dann genau zu sehen, was der Grundforderung des Amtes genügt.
Der Unternehmensbegriff des Kartellrechts
Vorwurf 2: Das bereits erwähnte „u.a.“. Das Kartellamt hat die Verfügung an Facebook Inc. (USA), an die irische Facebook-Dependance, die die Datenverarbeitung macht, an Facebook Deutschland sowie an alle verbundenen Unternehmen dieser Unternehmen gerichtet. Hier ließ Kühnen keinen Zweifel mehr: Das ist rechtswidrig. Er wechselte vom sonst so häufig verwendeten vorsichtigen Konjunktiv in den Indikativ. Die Datenverarbeitung wird von Facebook Ireland besorgt, die anderen, schon gar nicht irgendwelche Tochter-, Schwester- und Enkelgesellschaften hätten mit diesem Fall etwas zu tun, sie seien auch gar nicht gehört worden, es fehlten jegliche Ermessenserwägungen zu dieser Adressatenstellung. Das hatte etwas von Game Over. Eine rechtswidrig adressierte Verfügung!
Nothdurft replizierte. Und ich darf mir jetzt hier einige wenige Zeilen Fanboytum erlauben: Wie Jörg Nothdurft sprachgewaltig, prägnant, verständlich und frei auf so erhebliche Vorhaltungen reagiert – das ist schon wirklich große Kunst. Im Dialog Kühnen/Nothdurft wird Kartellrecht netflixreif. Nach der Mittagspause eröffnete Kühnen denn auch die weitere Aussprache mit den Worten, was das Bundeskartellamt vorgetragen habe, könne nicht unwidersprochen bleiben. Das dürfte als ein Schulterklopfen zu werten sein.
Was also sagte Nothdurft auf die Vorhaltung, die Adressierung des Tenors sei rechtswidrig? Folgendes: Man habe die „Betreibergesellschaft“ angesprochen, um die gehe es. Man habe es hier mit einem ganzen „Kosmos“ zu tun – einem der mächtigsten, stärksten Unternehmen der Welt. Und hier gehe es nicht um standortgebundene Fabriken und Förderbänder, sondern um digitale Dienste, die recht einfach von hier nach dort verschoben werden könnten. Facebook müsste nur das Impressum ändern, dann laufe die Kartellamtsverfügung schon ins Leere. „Wenn das so ist, können wir gegen solche Unternehmen nicht mehr ermitteln.“
Ich frage mich, ob es nicht im kartellrechtlichen Unternehmensbegriff angelegt ist, dass der gesamte Konzern als „Störer“ i.S.d. § 19 GWB anzusehen ist – aber für solche Fragen ist in Düsseldorf mein Kollege Christian Kersting zuständig.
Zum Ende
Sebastian Louven kam auch noch zu Wort. Er erinnerte daran, dass es hier eigentlich nicht so sehr um die DSGVO gehe, das habe man doch seit der BGH-Entscheidung endgültig hinter sich gelassen, sondern um einen Kartellrechtsverstoß. Er erinnerte auch an die grundrechtlichen Wertungen (Koryphäe: Prof. Oliver Lepsius) und an die Konsumentensouveränität – den Schutz des Verbrauchers als Kernanliegen des Kartellrechts. Das waren, zum Ende hin, noch einmal die drei Bullet Points, die gut zu hören waren für all diejenigen, denen die vom OLG vom Tisch gewischte BGH-Lösung sehr sympathisch schien (mir etwa – siehe GRUR 2020, 1268 ff.).
Was dann geschah: Pause. Beratung. Eine Mini-Pizza und eine Cola auf die Schnelle, verzehrt in 50 Meter Entfernung von der Pizzeria. Die Cola hätte es nicht gebraucht. Zur Wiedereröffnung, es hatte inzwischen 15 Uhr geschlagen, eröffnete Professor Kühnen dem interessierten Publikum nämlich in aller Kürze den Clou: Wir setzen aus und legen dem EuGH zu Fragen der DSGVO vor. Den Beschluss werde man in den nächsten Wochen absetzen und dann warten.
Wann wird vollzogen?
„Und jetzt sind wir nur noch Geschäftsstelle“, sagte Kühnen beinahe kokett. Auch von ihm fiel, so wirkte es, eine Last nach dieser doch anstrengenden Verhandlung ab. Die Frage des Tages blieb offen: Vollzieht das Kartellamt jetzt eigentlich? Darüber sollten sich die Parteien einigen. Über die aufschiebende Wirkung der Facebook-Beschwerde gegen den grundsätzlich sofort vollziehbaren Kartellamtsbeschluss hatte der BGH ja schon entschieden. Pikanterweise läuft die Frist für den ersten Umsetzungsschritt am kommenden Montag ab. Dann muss Facebook den berühmten Umsetzungsplan vorlegen. Das Kartellamt darf das fordern. Aber macht es das auch – trotz des Amtshaftungsrisikos, das Kühnen beschwor?
Die Facebook-Vertreter erweckten den Eindruck, es sei ja geradezu eine unzumutbare Härte, in drei Tagen einen Umsetzungsplan vorlegen zu müssen, gerad so, als sei ihnen das erst gerade bekannt gegeben worden. Zu gern würde man wissen, wie weit die Arbeiten an einem solchen Plan bislang gediehen sind. Oder hatte man sich darauf verlassen, das OLG werde einem schon rechtzeitig aus der Patsche helfen?
Nothdurft sah sich außerstande, ad hoc zu entscheiden. Er wollte erstmal nach Bonn telefonieren, so wie ein Referendar im Staatsanwaltschaftsdienst. Die Entscheidung liegt wohl bei der Beschlussabteilung (Chefin: Julia Topel), nicht bei ihm. In der Mittagspause hatte er sich offenbar auf die Situation eingestellt, dass man beim OLG noch heute aufgehoben würde. Danach hatte es ja auch ausgesehen. Zu vollziehen mit einer Niederlage im Tornister, das wäre schon sehr mutig. Aber so? Mit dem EuGH als potenziellem Game Changer?
Esser kündigte an: Wenn das Amt nicht freiwillig verzichtet, dann stellen wir einen erneuten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Dafür wäre wieder Kühnen zuständig, der zusagte, das dann rasch zu entscheiden – „eine Stellungnahmefrist kann auch einmal acht Stunden sein, nicht Tage oder Wochen.“ Ich würde mir ja wünschen, dass der Umsetzungsplan wenigstens mal eingefordert wird. Das Risiko der Amtshaftung wäre für diesen ersten Schritt ja geradezu überschaubar… Aber solche Träumchen träumen eben Wissenschaftler.
Ein Sprung, ein Satz
Was bleibt also nach diesem Tag?
Die Wartezeit bis zur EuGH-Entscheidung beträgt im Durchschnitt 15,5 Monate, so entnahm ich dem Twitter-Konto von Simon Van Dorpe. Wenn die Grand Chamber entscheidet und Corona-Verzögerungen reinspielen, dauert es wohl noch länger, ergänzte Anton Dinev. Wir sind also tief im Jahr 2022. Nach dem EuGH muss das OLG wieder entscheiden. Dann geht es aller Wahrscheinlichkeit noch einmal zum BGH. Sollte dann schon Ende sein und nicht noch einmal der EuGH oder das OLG angerufen werden, wären wir wohl mindestens im Jahr 2023 – wenn nicht noch später. Bis dahin haben wir vielleicht den Digital Markets Act schon und ein § 19a GWB-Verfahren gegen Facebook. Das, was hier zur Debatte steht, ist dort explizit geregelt – in § 19a Abs. 2 Nr. 4a GWB in der Fassung, die seit Januar 2021 in Kraft ist, und in Art. 5a des DMA-Vorschlags.
Egal ob man das Verfahren des Amtes richtig oder falsch findet – das ist zu lang. Seit 2016 führt das Bundeskartellamt diesen Fall, fünf Jahre und mehrere Gerichtsentscheidungen später sind wir im Ergebnis noch keinen einzigen Schritt weitergekommen, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Mir scheint, unser geliebtes Rechtsgebiet erstickt an materieller und verfahrensrechtlicher Komplexität. Das ist kein Vorwurf gegen die Parteien, die auch nur „strategisches Verhalten in der Regulierung“, wie es Broemel vor vielen Jahren nannte, zeigen, und auch nicht gegen die Gerichte, die prüfen müssen, was sie prüfen müssen. Bräuchte es aber noch einen Beleg, warum Beschleunigungsvorschriften wie § 19a GWB oder der DMA notwendig sind, dann möge jeder seinen Blick auf diesen Fall richten und sich fragen, ob Aufwand und Ertrag für die Märkte noch in einem Verhältnis stehen und was eine rechtskräftige Entscheidung nach zehn Jahren in der Digitalwirtschaft wert ist.
Was das Inhaltliche angeht, so gebührt Jörg Nothdurft das letzte Wort: „Entweder man springt oder man springt nicht. So ist das in der digitalen Ökonomie.“
Auch wenn es erst gar nicht so aussah: Der Senat ist gesprungen.
Rupprecht Podszun ist Direktor des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität und Editor dieses Blogs. Er dankt dem Wissenschaftlichen Mitarbeiter Philipp Offergeld für wichtige Hinweise. Sie finden zahlreiche Informationen zum Facebook-Verfahren hier: https://www.d-kart.de/der-fall-facebook/. Nach Veröffentlichung dieses Blogposts wurden eine Formulierung und einige Typos korrigiert #BlogEtikette.
Um das Facebook-Verfahren geht es auch in der nächsten Folge des Podcasts „Bei Anruf Wettbewerb“ mit Justus Haucap und Rupprecht Podszun (abrufbar und abonnierbar überall, wo es gute Podcasts gibt, z.B. Spotify, Apple oder Overcast!)
9 Gedanken zu „Facebook: Next stop Europe“
Liebes D’Kart-Blogteam: Gratulation zu der raschen und genauen Beschreibung des gestrigen Termins, den ich genauso erlebt habe: ein beeindruckender 90 Minuten-Vortrag von Prof. Kühnen, ein fulminanter Push-Back von Dr. Nothdurft und ein smarter Schachzug des OLG als Abschluss. Die Frage ist, ob der EuGH – so wie der BGH auch – den Facebook-Fall umfassender einordnen wird?
Doris Hildebrand, EE&MC/Paris Sorbonne & Nanterre
Ich frage mich mittlerweile, ob das Land irgendwann die Reißleine zieht und die Kartellrechtszuständigkeit nach Köln gibt.
Suppose Section 19 of the GWB actually is stricter than Article 102 TFEU, and that the FCO was correct not to apply Article 102 TFEU (as they otherwise should have done according to Article 3 of Regulation 1/2003). Should the ECJ in that case reject the request for a preliminary ruling because it is not relevant to the legal dispute?
very interesting, thanks (why not a printable version?)
Sehr interessanter Auftrag zum Thema Wirtschaftsrecht / Kartellrecht!