Update: Der Streit um die Trassenentgelte geht weiter

Update: Der Streit um die Trassenentgelte geht weiter

Verschiedene private Eisenbahnverkehrsunternehmen und ihre öffentlichen Auftraggeber streiten auf kartellrechtlicher Grundlage mit der Deutschen Bahn um die Rückerstattung von Trassen- und Stationsentgelten. Von diesem Streit um Trassenentgelte hat Rechtsanwalt Eckhard Bremer bereits im November 2020 auf diesem Blog berichtet. Bremer ist einer der Klägervertreter. Die Rechtsfrage, die im Zentrum des Rechtsstreits steht, betrifft das Verhältnis zwischen Kartellschadensersatzrecht und dem öffentlich-rechtlichen Regulierungsregime. Nach mehreren BGH-Urteilen wird nun auf Vorlage des Kammergerichts der EuGH in der Frage entscheiden (Rs. C-721/20, DB Station & Service). Zeit für ein Update. 

Der Streit um die Trassen- und Stationsentgelte der DB geht weiter. Vor einem guten halben Jahr erschien hier ein erster Blogpost zum Thema. Seinerzeit warteten die Beteiligten auf die Entscheidungsgründe des BGH in Sachen „Stationspreissystem II“ (Az. KZR 12/15). Die Entscheidungsgründe des BGH liegen inzwischen vor. Das Kammergericht ist anderer Meinung als der BGH und hat deshalb den EuGH angerufen. Außerdem hat der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs inzwischen zwei weitere Male zur Problematik entschieden und seine Linie gefestigt (Az. KZR 60/16KZR 103/19).

I. In aller Kürze: Was bisher geschah

Private Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) und ihre öffentlichen Auftraggeber (Aufgabenträger) streiten nach wie vor mit der DB und ihren Konzerntöchtern um die Rückforderung von Infrastrukturnutzungsentgelten (Regionalfaktoren, Stationsentgelte). Sie werden „Altentgelte“ genannt, weil die DB diese noch unter dem Regime des AEG a.F. erhoben hatte, das zum 2. September 2016 durch das ERegG ersetzt wurde. Das AEG a.F. enthielt keine rechtliche Grundlage, auf der Geschädigte eine Entgeltrückzahlung erlangen konnten. Seinerzeit wurde Rechtsschutz gegen solche Infrastrukturnutzungsentgelte jedoch durch die Zivilgerichte gewährt. EVU und Aufgabenträger konnten hier unmittelbar auf Rückzahlung klagen, wobei die Zivilgerichte die Entgelte am Maßstab des § 315 Abs. 3 BGB prüften und bei der Auslegung des Rechtsbegriffs „Billigkeit“ inzident auch über die Eisenbahnrechtmäßigkeit strittiger Entgelte entschieden.

Der EuGH hat diese Praxis 2017 mit seinem Urteil in der Rs. CTL Logistics beendet. Der EuGH befürchtete, dass die zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle die materiellen Kriterien des Regulierungsrechts und die ausschließliche Zuständigkeit der BNetzA für deren Anwendung unterlaufen würde. Nach § 315 Abs. 3 BGB dürfen Zivilgerichte seitdem erst entscheiden, wenn die BNetzA die Rechtswidrigkeit der Entgelte zuvor bereits bestandskräftig festgestellt hat. Viele Kläger haben in der Folge der EuGH-Entscheidung CTL Logistics Anträge bei der BNetzA gestellt und dort eine Prüfung der Entgelte beantragt. (Anders als das AEG a.F. kennt das 2016 in Kraft getretene ERegG solche Antragsrechte.) Die BNetzA sieht sich allerdings zu einer solchen, ihr vom EuGH angesonnenen, nachträglichen Überprüfung von Entgelten nicht befugt.  Die BNetzA will also von dem Ball für den Elfmeter, den ihr der EuGH vor die Füße gelegt hat, keinen Gebrauch machen. Dies hat zu weiteren Rechtsstreitigkeiten geführt.

Aktuell stehen deshalb zwei Streitfragen im Vordergrund: Vor dem VG Köln streiten die Kläger über die Befugnis der BNetzA, Entgelte auch rückwirkend zu überprüfen. Vor den Zivilgerichten geht es um die Folgen, die das EuGH-Urteil für die kartellrechtliche Missbrauchskontrolle haben soll. Viele Kläger machen geltend, dass die DB die Entgelte unter Missbrauch ihrer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEVU, § 19 Abs. 1 GWB) erhoben hat und dass die Zivilgerichte befugt sind, diese Feststellung unabhängig von der eisenbahnrechtlichen Beurteilung durch die BNetzA treffen dürfen. Die DB vertritt – unter Bezugnahme auf CTL Logistics – die Ansicht, dass Zivilgerichte auch über Kartellschadenersatzansprüche erst dann entscheiden dürfen, wenn die BNetzA die Entgelte zuvor bereits bestandskräftig für eisenbahnrechtswidrig erklärt hat. Exakt zu einer solchen Feststellung sieht sich die BNetzA allerdings nicht in der Lage. 

Der BGH hat in mittlerweile vier Urteilen die Gegenposition gestützt. Eine Entscheidung der BNetzA sei keine Voraussetzung dafür, dass Gerichte die Eisenbahninfrastrukturnutzungsentgelte an Art. 102 AEUV messen dürfen.

Für die Einzelheiten kann erneut auf den Blogpost aus dem November 2020 verwiesen werden. In diesem Update soll es um den aktuellen Stand des Streits gehen. Namentlich geht es um die Urteilsgründe des BGH in Sachen „Stationspreissystem II“ und das Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts, über das der EuGH entscheiden muss (Rs. C-721/20, DB Station & Service).

II. „Stationspreissystem II“: Kein Normkonflikt zwischen Regulierungsrecht und Kartellrecht

Mit dem Urteil „Stationspreissystem II“ (Az. KZR 12/15) hat der BGH ein Revisionsverfahren zum Abschluss gebracht, das er als Reaktion auf CTL Logistics zunächst ausgesetzt hatte (der Aussetzungsbeschluss vom 29. Januar 2019 wird im Ursprungsbeitrag ausführlich behandelt). Seinerzeit wollte der BGH der BNetzA Gelegenheit geben, die strittigen Entgelte zu prüfen, um auf diese Weise der Forderung des EuGH Rechnung zu tragen, wonach vor einer zivilgerichtlichen Entscheidung die Regulierungsbehörde über die Vereinbarkeit der Entgelte mit dem Eisenbahnrecht entscheiden muss. Nach einer Entscheidung der BNetzA hätte der BGH auf Grundlage des § 315 Abs. 3 BGB entscheiden können. Die BNetzA erklärte eine ihr vom BGH angesonnene nachträgliche Entgeltprüfung für unzulässig, so dass der Weg über § 315 Abs. 3 BGB gemäß den Grundsätzen aus der Rs. CTL Logistics versperrt war. Der BGH hat der Revision der Klägerin deshalb auf Grundlage von Art. 102 AEUV stattgegeben und die Sache an das OLG Dresden zurückverwiesen. Das OLG muss nun prüfen, ob die strittigen Stationsentgelte missbräuchlich erhoben wurden (zu den Regionalfaktoren bereits OLG Dresden, Urteil vom 13. Januar 2021, Az. U 8/15 Kart).

In den Urteilsgründen vertieft der BGH seine Argumentation aus dem früheren Trassenentgelte-Urteil (Az. KZR 39/19). Wie schon Heike Schweitzer in dem vom BGH in einer späteren Entscheidung (Urteil „Stornierungsentgelt II“ vom 8. Dezember 2020, Az. KZR 60/16)in Bezug genommenen Gutachten (siehe die deutsche und englische Fassung), geht auch der BGH davon aus, dass zwischen Regulierungsrecht und Kartellrecht im konkreten Fall kein Konflikt besteht. Auf die Kollisionsregel (Vorrang des Primärrechts) kommt es deshalb schon gar nicht an.

Auf materiell-rechtlicher Ebene sieht der Kartellsenat keinen Zielkonflikt zwischen Regulierungsrecht und Kartellrecht. Beide Rechtsgebiete dienten dem fairen und unverfälschten Wettbewerb auf der Schiene. Sie schützten den diskriminierungsfreien Zugang zum Netz (Rn. 24‑27).

Auch in kompetenzrechtlicher Hinsicht bestehe kein Konflikt zwischen den Zivilgerichten und der BNetzA, wenn Zivilgerichte über kartellrechtliche Ausgleichsansprüche entscheiden. Die Ausgleichsansprüche hätten nämlich ihren Grund in vergangenen Kartellverstößen, während die BNetzA die gegenwärtigen Marktbedingungen überwachen müsse. Der Wettbewerb in der Gegenwart werde nicht beeinträchtigt, wenn Gerichte einzelnen Wettbewerbern für die Vergangenheit Kartellschadensersatz oder bereicherungsrechtliche Ansprüche zusprechen. Solche Urteile berührten deshalb weder das regulierungsrechtliche Diskriminierungsverbot noch sei die BNetzA nach einem solchen Urteil gezwungen, die Entgelte für alle Wettbewerber anzupassen (Rn. 28‑34).

Mit diesen Gründen lehnt der BGH nicht nur erneut eine eigene Vorlage an den EuGH ab, sondern adressiert auch direkt das LG Berlin und das Kammergericht. Beide Berliner Gerichte hatten im Zeitpunkt des BGH-Urteils bereits Vorabentscheidungsersuchen angekündigt. Für den Kartellsenat war das aber kein Grund, sein Verfahren auszusetzen.

III. Widerspruch aus Berlin: Das Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts (Rs. C-721/20)

Wenige Tage nach Zustellung der Urteilsgründe an die Parteien beschloss das Kammergericht das angekündigte Vorabentscheidungsersuchen (Beschluss vom 10. Dezember 2020, Az. 2 U 4/12 Kart). Anders als der BGH, will das Kammergericht die Argumentation des EuGH auch auf das Kartellrecht erstrecken. Kartellschadenersatz wegen missbräuchlich erhobener Trassenentgelte wäre dann nur noch denkbar, wenn die BNetzA die Entgelte zuvor für eisenbahnrechtswidrig erklärt hat, eine kartellrechtliche Beurteilung durch Zivilgerichte hänge davon ab, dass die BNetzA die Entgelte zuvor bestandskräftig für mit dem Eisenbahnrecht unvereinbar erklärt hat.  

Die Begründung des Kammergerichts fällt knapp aus. Der Kartellsenat gibt zwar relativ ausführlich die Urteilsgründe aus der Rs. CTL Logistics wieder (Rn. 20‑28), stellt im Anschluss aber nur knapp fest, dass sich diese Argumente „ohne wesentliche Einschränkungen auf die kartellrechtliche Überprüfung der Nutzungsentgelte übertragen“ ließen (Rn. 29).

Um zu erkennen, dass es sich das Kammergericht damit sehr einfach macht, genügt ein Blick in den Urteilstenor der Rs. CTL Logistics. Der EuGH hat die Anwendung einer nationalen Regelung verboten, nach der Trassenentgelte von den ordentlichen Gerichten im Einzelfall auf Billigkeit überprüft und gegebenenfalls unabhängig von der Regulierungsstelle abgeändert werden können. Die Missbrauchskontrolle ist damit weder gemeint noch erfasst: 

Erstens werden Entgelte nach Art. 102 AEUV nicht „im Einzelfall auf Billigkeit überprüft“. Während die Kontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB „auf die Herstellung eines der Billigkeit entsprechenden Verhältnisses im Einzelfall gerichtet ist“ (Rn. 69 des CTL Logistics-Urteils) und sich ihre Kriterien von Fall zu Fall unterscheiden (Rn. 73 a.a.O.), ist das Kartellrecht Marktordnungsrecht (wie das Regulierungsrecht). Es nimmt anhand einheitlicher Kriterien die Wettbewerbssituation insgesamt in den Blick, nicht die Interessengerechtigkeit individueller Verträge.

Zweitens werden die Entgelte nach Art. 102 AEUV nicht „unabhängig von der Regulierungsstelle abgeändert“. Während ein Gericht bei Anwendung des § 315 Abs. 3 BGB die billigen Entgelte selbst bestimmt, wird ein Zivilgericht nicht rechtsgestaltend tätig, wenn es über Kartellschadenersatz für in der Vergangenheit erhobene Entgelte entscheidet. Es bleibt also Sache des Infrastrukturbetreibers, kartellrechtmäßige Entgelte festzusetzen (siehe zu diesem Gesichtspunkt Rn. 77 f. des CTL Logistics-Urteils). Für die Festsetzung dieser neuen Entgelte gelten die regulierungsrechtlichen Verfahren vor der BNetzA. Ein Zivilgericht setzt keine Entgelte fest, die in der Zukunft erhoben werden dürfen oder zu erheben sind. 

Dem Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts ist im Übrigen – drittens – entgegenzuhaltendass das EU-Kartellrecht auch keine „nationale Regelung“ ist. Art. 102 AEUV ist unmittelbar anwendbares Primärrecht. Wegen des Vorrangs des Primärrechts können die Eisenbahn-Richtlinien das Missbrauchsverbot nicht einschränken. Dem Hinweis auf den Rechtscharakter des Art. 102 AEUV begegnet das Kammergericht mit dem lapidaren (und falschen) Hinweis, dass der EuGH noch nicht entschieden habe, „ob dies auch dann gilt, wenn die Festsetzung der Entgelte durch eine Regulierungsbehörde überwacht wird“ (Rn. 30 f.; das Kammergericht übersieht EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014, Rs. C‑295/12 P, Telefónica, Rn. 128; EuG, Urteil vom 29. März 2012, Rs. T‑398/07, Spanien/Kommission, Rn. 55).

Am Ende der Begründung setzt sich das Kammergericht schließlich knapp mit dem (oben erörterten) kompetenzrechtlichen Argument des BGH aus dem „Stationspreissystem II“-Urteil auseinander (Rn 32 f.). Das Kammergericht verweist darauf, dass die kartellrechtliche Missbrauchskontrolle statt auf die Vergangenheit auch auf die Zukunft gerichtet sein könne (z.B. die Unterlassens- und Beseitigungsansprüche nach § 33 Abs. 1 GWB). Der Hinweis ist zwar richtig, geht aber an der Sache vorbei. Der BGH hat (genau wie Schweitzer) nie behauptet, dass sich die Missbrauchskontrolle „ausschließlich auf die Vergangenheit beziehe“ (so Rn. 32 des Vorlagebeschlusses). Der BGH unterscheidet (im Gegenteil) gerade nach der zeitlichen Dimension verschiedener kartellzivilrechtlicher Ansprüche. Wenn Ansprüche auf die Zukunft gerichtet sind, mögen sich komplizierte Konflikte mit dem Regulierungsregime ergeben (wobei sich im Ernstfall das Primärrecht durchsetzt). Wenn die Missbrauchskontrolle aber lediglich auf die Vergangenheit gerichtet sei (wie bei der Entscheidung über Ausgleichsansprüche), könne schon kein Kompetenzkonflikt zwischen Regulierungsregime und Kartellrecht entstehen.

IV. Ausblick: Die Umsetzung des EuGH-Urteils

Mit der Vorlage des Kammergerichts nimmt der Streit um die Rückzahlung der Trassen- und Stationsentgelte einen weiteren Umweg. Auch wenn der EuGH am Ende die Position des BGH bestätigen sollte, was nach Meinung des Verfassers wahrscheinlich ist, verzögert das Vorabentscheidungsverfahren den Rechtsstreit leider erneut (im Ausgangsverfahren des Kammergerichts wurde im Jahre 2011 Klage erhoben!).

Sollte sich in Luxemburg wider Erwarten die Position des Kammergerichts durchsetzen, wird es auch vor deutschen Gerichten noch einmal spannend: Das Kammergericht wird sich dann mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie es die Vorgaben des EuGH bei seiner Entscheidung berücksichtigen will. Der BGH hat bereits darauf hingewiesen, dass weder eine richtlinienkonforme Auslegung der Anspruchsgrundlagen contra legem möglich ist noch eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie zulasten Privater infrage kommt. Das Kammergericht ist über diesen Einwand bei seiner Erörterung der Entscheidungserheblichkeit wortlos hinweggegangen (Rn. 15 des Vorlagebeschlusses). Weil die Entscheidungserheblichkeit vom mitgliedstaatlichen Gericht zu beurteilen ist, kann der EuGH nicht korrigierend eingreifen. Gut möglich, dass dann am Ende doch der BGH das letzte Wort haben wird. 

Rechtsanwalt Dr. Eckhard Bremer, LL.M. (Harvard) ist Partner bei Hyazinth in Berlin und vertritt das Land Sachsen-Anhalt in Parallelverfahren.

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