Zuständigkeitsfragen in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung – Generalanwalt Bobek legt ordentlich vor

Zuständigkeitsfragen in der privaten Kartellrechtsdurchsetzung – Generalanwalt Bobek legt ordentlich vor

Sind nationale Gerichte für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 53 Abs. 1 EWR‑Abkommen auf wettbewerbswidrige Verhaltensweisen zuständig? Diese Frage wurde dem Europäischen Gerichtshof durch die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) am 6. November 2019 vorgelegt (Rs. C‑819/19). GA Bobek hat in seinen Schlussanträgen vom 6. Mai 2021 dazu Stellung genommen. Anna-Jacqueline Limprecht berichtet.

Preisabsprachen für Luftfrachtdienste sind Auslöser des Verfahrens

Vorwarnend ist zu erwähnen, dass zunächst eine Vielzahl von Zahlen, Daten, Fakten folgt, die für das weitere Verständnis leider unerlässlich sind. Also bitte Augen zu auf und durch, es lohnt sich!

Die EU-Kommission hat in ihrem Beschluss vom 9. November 2010 (Rs. C. 39258) die Beteiligung von 12 Luftfahrtunternehmen an Preisabsprachen für Luftfrachtdienste auf Strecken zwischen Flughäfen der EU und des EWR und aus diesen Gebieten heraus im Zeitraum von Dezember 1999 bis Februar 2006 festgestellt. Das Gericht der EU erklärte diesen Beschluss in mehreren Urteilen vom 16. Dezember 2015 auf Grund von Widersprüchen zwischen Begründung und verfügendem Teil für teilweise nichtig. Die Kommission erließ daraufhin am 17. März 2017 einen weiteren Beschluss (Rs. At.39258), in dem sie den verfügenden Teil ihrer Begründung anpasste, an ihrer ursprünglichen Entscheidung von 2010 aber in der Sache festhält. Auch der oben genannte Zeitraum der Zuwiderhandlung wurde vollends bestätigt. Auffallend ist allerdings, dass die Kommission die Feststellung des Verstoßes für EU-Drittland-Strecken auf den Zeitraum ab dem 1. Mai 2004 und für EWR (ohne EU)-Drittland-Strecken ab dem 19. Mai 2005 beschränkte. Sie begründet diese Beschränkung mit dem vom Rat gemäß Art. 103 AEUV für den Luftverkehrssektor eingeführten sekundärrechtlichen System (vgl. VO (EG) Nr. 411/2004 und VO (EG) Nr. 1/2003). Man könnte daher fast von Glück für das Luftfrachtkartell sprechen, dass die verhängten Bußgelder auf Grund der eingegrenzten Zeiträume Peanuts sind gerade einmal eine Summe von 776 Mio. EUR ausmachen. Zufrieden war man dort trotzdem nicht, sodass der Beschluss beim Gericht der EU angefochten wurde. Leider kann der Ausgang des Verfahrens noch nicht verraten werden, da die Entscheidung noch aussteht. 

So weit, so gut, aber was hat jetzt die Rechtbank Amsterdam damit zu tun? Ganz einfach, es geht wie immer ums Geld! Die Klägerinnen – Stichting Cartel Compensation und Equilib Netherlands BV – erhoben vor dem Bezirksgericht Amsterdam Zivilklage gegen die Beteiligten des Luftfrachtkartells. (Diejenigen unter Ihnen, die der niederländischen Sprache mächtig sind – oder es werden möchten –, finden hier die Entscheidung der Rechtbank Amsterdam vom 2. August 2017 mit Vorlagefrage.) Einerseits verlangen sie die gesamtschuldnerische Verurteilung zur Zahlung von Schadensersatz. Andererseits beantragten sie auch die Feststellung, dass die rechtswidrigen Handlungen über die Jahre von 1999 bis 2006, d.h. ohne zeitliche Beschränkungen auf den Zeitraum ab dem 1. Mai 2004 bzw. 19. Mai 2005 stattgefunden haben. Ihrer Meinung nach entfalte Art. 101 AEUV unmittelbare Wirkung für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum unabhängig von der öffentlichen Durchsetzung des Kartellrechts, sodass die Übergangsregelungen aus Art. 104 und 105 AEUV der Anwendbarkeit durch nationale Gerichte nicht entgegenstehen.

Niederlande oder England – Wer setzt sich durch?

Entgegen vielleicht erster Vermutungen Ihrerseits wird nicht über Streitigkeiten zu Einreisebestimmungen oder Quarantäneregeln für Fans der englischen und niederländischen Nationalmannschaft bei der UEFA EURO 2020 diskutiert. 

Es geht um ein viel spannenderes Duell: Public versus Private Enforcement!

Können sich die Klägerinnen einfach auf die unmittelbare Wirkung von Art. 101 AEUV berufen, um die Zuständigkeit der nationalen Gerichte unabhängig von der behördlichen Durchsetzung zu begründen? Die Rechtbank Amsterdam (Achtung Spoileralarm!) glaubt schon. Vorsicht ist allerdings besser als Nachsicht, sodass sie lieber noch einmal beim EuGH nachfragt. Doch woher kommen diese Zweifel? 

Da noch nicht genug Akteure im Spiel sind, bringen wir noch England aufs Feld. Denn der High Court of Justice (England and Wales) (Rs. [2017] EWHC 2420 (Ch)), bestätigt durch den Court of Appeal (England and Wales) (Rs. [2019] EWCA Civ 37), hatte ebenfalls über eine Zivilklage gegen die Beteiligten des Luftfrachtkartells zu entscheiden. Seiner Meinung nach können keine Schadensersatzansprüche für Handlungen geltend gemacht werden, die vor dem 1. Mai 2004 (für die EU) bzw. dem 19. Mai 2005 (für den EWR) stattgefunden haben. Die bisherige Rechtsprechungspraxis des EuGH (dazu natürlich später noch genauer) sei nämlich Indikator genug, dass dieser nicht im Wege eines Vorlageentscheidungsersuchens belästigt gefragt werden müsse. 

Und so schnell befinden wir uns in einer Divergenz bei der Auslegung von Wettbewerbsrecht und bei dem Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Amsterdam. 

Wenn zwei sich streiten, arbeitet freut sich der Dritte, in diesem Fall der EuGH. 

Lange Rede, kurzer Sinn, kommen wir nun endlich zu den Schlussanträgen des GA Bobek (nicht anderweitig bezeichnete Rn.-Verweise beziehen sich nachstehend auf diese Anträge).

Erweiterung der Vorlagefrage

Bemerkenswert ist zunächst, dass GA Bobek die Vorlagefrage erweitert hat: Er untersucht nicht nur, ob die nationalen Gerichte für die Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV und Art. 53 Abs. 1 des EWR-Abkommens auf wettbewerbswidrige Verhaltensweisen während der Geltungsdauer der „Übergangsregelung“ aus Art. 104 und 105 AEUV zuständig sind. Für GA Bobek resultiert daraus vielmehr die grundsätzlichere Frage der (gegenseitigen) Abhängigkeit der öffentlichen und privaten Kartellrechtsdurchsetzung (Rn. 3). Oder anders formuliert: Sind nationale Gerichte für kartellrechtliche Haftungsklagen zuständig, auch ohne dass ein Verwaltungsverfahren zur Überwachung und Anwendung der einschlägigen materiell‑rechtlichen Vorschriften vorweggeschaltet ist?

Bringen wir zunächst Licht ins Dunkle, was das Verhältnis der genannten Übergangsregelungen des AEUV und der Befugnisse der nationalen Behörde und Gerichte betrifft.

Ausgangspunkt der Diskussion ist die Frage, welche Rolle die nationalen Gerichte nach Art. 103 bis 105 AEUV haben. Kurze Wiederholung der Basics: Das Kartellverbot aus Art. 101 Abs. 1 AEUV bezweckt den umfassenden Schutz des unverfälschten Wettbewerbs. Vereinbarungen, die diesem Zweck zuwiderlaufen, sind nichtig, Art. 101 Abs. 2 AEUV. Freistellungsmöglichkeiten sieht Art. 101 Abs. 3 AEUV vor. Weitergehende Regelungen des Verfahrens zur Anwendung und Durchsetzung dieser Grundsätze fehlen jedoch in Art. 101 AEUV. Abhilfe schafft Art. 103 AEUV, indem der Rat ermächtigt wird „zweckdienliche Verordnungen und Richtlinien zur Verwirklichung der in Art. 101 […] niedergelegten Grundsätze“ zu beschließen. Demzufolge hat der Rat der EU die Aufgabe, den Anwendungsbereich und die Verwaltungskontrolle in Bezug auf Art. 101 AEUV näher zu bestimmen. 

Doch was gilt für den Zeitraum, bevor der Rat diese Befugnisse ausübt?

Die sog. Übergangsregelungen, genauer gesagt Art. 104 und 105 AEUV, geben vielleicht Antwort auf diese Frage. Danach sind die Verwaltungsbehörden der Mitgliedsstaaten und in Ergänzung die Kommission für die Verwirklichung der Grundsätze bis zum Inkrafttreten der gem. Art. 103 AEUV erlassenen Vorschriften zuständig. Dann fallen die nationalen Gerichte wohl offensichtlich nicht unter die Normen?

Nicht ganz, denn eine vage Erinnerung an die juristische Methodenlehre zeigt, dass im Wege der Gesetzesauslegung und richterlichen Rechtsfortbildung einiges möglich ist und dass das Schweigen eines Gesetzes erst einmal nur ein Indiz darstellt. Nach den Art. 103 bis 105 AEUV bleibt die Rolle der nationalen Gerichte also bislang anscheinend unklar. GA Bobek betont allerdings, dass keinerlei Zweifel bestehen, dass die nationalen Gerichte zumindest seit der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 dazu befugt sind, Art. 101 AEUV in vollem Umfang anzuwenden (Rn. 36). Eine Beschränkung der Zuständigkeit der nationalen Gerichte vor Erlass der VO 1/2003 sei nach seiner Auffassung nicht ersichtlich. Für Art. 101 AEUV gelte wie für andere individuelle Grundfreiheiten des AEUV (z.B. Art. 45 und 56 AEUV oder auch Art. 49 und 50 Abs. 2 AEUV), dass die betreffende Vertragsbestimmung zunächst den Grundsatz festlege und dann das/die entsprechende(n) Organ(e) bestimme, das/die diesen Grundsatz durch Erlass zusätzlicher Vorschriften konkretisiere/konkretisieren. Der EuGH vertrete die Auffassung, dass dieses Grundprinzip des AEUV (Grundsatz – Konkretisierung) für alle zuständigen Stellen unabhängig gelte, wenn sie diese vertraglichen Bestimmungen auf einen Sachverhalt anwenden (Rn. 48). Die Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV durch die nationalen Behörden Gerichte bestehe aus struktureller Sicht des Vertrags somit bereits seit Inkrafttreten des EWG‑Vertrags, ohne dass der Rat für die volle Wirksamkeit der Absätze 1 und 2 auf Grund seiner Ermächtigung nach Art. 103 Abs. 1 AEUV gehandelt haben müsse. – Klingt doch erst einmal plausibel.

Für die unmittelbare Wirkung des Art. 101 Abs. 1 AEUV wird weitergehend auf eine Reihe von alten SchinkenGrundsatzurteilen verwiesen. Nach dem Urteil Courage und Crehan (Rs. C‑453/99) könne Art. 101 AEUV nach Auffassung von Kommission und Beklagten keine unmittelbare Wirkung entfalten, bevor der Rat Durchführungsmaßnahmen im Hinblick auf Art. 101 AEUV eingeführt habe. Die Klägerinnen stützen ihre Argumentation auf das Urteil Sabam (Rs. 127/73), um die unmittelbare Wirkung zu bekräftigen. Doch was gilt denn nun? 

Werfen wir zunächst einen Blick auf Mutter Courage und Crehan. Der EuGH betont in dieser Entscheidung, dass der Gerichtshof zuvor bereits entschieden habe, dass Art. 101 und 102 AEUV „in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen erzeugen und unmittelbar in deren Person Rechte entstehen lassen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben.“ Außerdem müssen „die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit das Gemeinschaftsrecht anzuwenden haben, die volle Wirkung von dessen Bestimmungen gewährleisten und die Rechte schützen, die das Gemeinschaftsrecht dem Einzelnen verleiht“ (Rn. 23 und 25). In Sabam erklärt der EuGH, dass sich „die Zuständigkeit [der nationalen] Gerichte zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts […] aus der unmittelbaren Geltung dieses Rechts [ergibt]. Da die in den [Art. 101 und 102 AEUV] enthaltenen Verbote ihrer Natur nach geeignet sind, in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen zu erzeugen, lassen sie unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, welche die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben“ (Entscheidungsgrund 15/17). Diese Urteile bekräftigen also das Hauptziel des Kartellverbots: der Schutz des unverfälschten Wettbewerbs. GA Bobek hebt in Bezug auf diese Urteile den Teil des Art. 101 AEUV hervor, der die unmittelbare Wirkung zwischen Einzelnen entfaltet: das Verbot bestimmter wettbewerbswidriger Vereinbarungen (Rn. 56). Das Verbot enthalte unmissverständlich die Pflicht „Du sollst nicht kartellieren“. Diese Argumentation ist zu begrüßen, da Art. 101 Abs. 1 AEUV per se jede Kartellvereinbarung und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sanktioniert. Daran kann auch eine Freistellungsmöglichkeit nach Art. 101 Abs. 3 AEUV nichts ändern. Nur weil die Bestimmungen des Abs. 1 für nicht anwendbar erklärt werden, bedeutet dies nicht, dass diese Vereinbarungen plötzlich nicht wettbewerbsbeschränkend sind. Sie sind lediglich vom Kartellverbot befreit. Die eigentlich verbotenen Vereinbarungen dürfen demnach legal praktiziert werden (Stichwort Regel-Ausnahme-Prinzip). Zum Schutz der wirksamen Durchsetzung der Rechte Einzelner müssen die nationalen Gerichte danach Art. 101 Abs. 1 AEUV unmittelbar und unabhängig von Durchführungsverordnungen anwenden können. Ansonsten ist ein wirksamer Schutz des Wettbewerbs nur schwer vorstellbar. 

Gibt es denn nicht eine Sonderstellung für den Luftverkehrssektor?

Zu denken wäre an eine Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 101 Abs. 1 AEUV, die sich gegebenenfalls aus Art. 103 Abs. 2 lit. c AEUV ergeben könnte. Nach dieser Vorschrift kann der Rat den Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV für einzelne Wirtschaftszweige näher bestimmen. Diese Regelung soll spezifischen Merkmalen einzelner Sektoren gesondert Rechnung tragen. Nach Auffassung der Beklagten und der Kommission habe der Rat von seiner Möglichkeit, den Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV für den Luftverkehrssektor näher zu bestimmen, keinen Gebrauch gemacht. Demzufolge sei der gesamte Luftverkehrssektor für die Wettbewerbsregeln des Vertrags ohnehin nicht geöffnet. Die nationalen Gerichte hätten die Vereinbarkeit von Vereinbarungen mit Art. 101 Abs. 1 AEUV also auch dann nicht prüfen dürfen, wenn eine unmittelbare Wirkung dieser Vorschrift bestünde.

In Hinblick auf die im Verfahren vorgebrachten spezifischen Vorschriften für den Luftverkehrssektor (s. dafür z.B. VO Nr. 3975/87, die die Öffnung der Wettbewerbsregeln für „EU-Strecken“ beschränkt) führt GA Bobek indes an, dass sich diese lediglich auf die private behördliche Kartellrechtsdurchsetzung beziehen und somit keine Einschränkung der gerichtlichen Anwendung von Art. 101 Abs. 1 AEUV bewirken. Außerdem verdeutliche der Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 lit. c AEUV („gegebenenfalls“), dass eine Regelung durch den Rat lediglich fakultativ sei und der Vertrag im Grundsatz von einer uneingeschränkten Anwendung auf alle Wirtschaftszweige ausgehe. Demnach werde Art. 101 AEUV für die einzelnen Wirtschaftsbereiche (also auch für den Luftverkehrssektor) wirksam, ohne dass es einer besonderer Regelung nach Art. 103 Abs. 2 lit. c AEUV bedürfe. (Vgl. Rn. 73, 75 und 78)

Aber dann ist eine unmittelbare Wirkung doch zumindest für Art. 53 EWR-Abkommen zu verneinen?

– Auch nicht.

Art. 53 EWR-Abkommen ist im Wesentlichen identisch mit Art. 101 AEUV. Von daher kann, wenn man der Auffassung von GA Bobek folgt, inhaltlich nichts anderes hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 53 EWR-Abkommen gelten. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seien die Vorschriften des EWR-Abkommens integraler Bestandteil des Unionsrechts und müssen einheitlich mit den Bestimmungen des AEUV ausgelegt werden (Stichwort Grundsatz der Homogenität). 

Auf in die Verlängerung: Public versus Private Enforcement

Wie eingangs berichtet erweitert GA Bobek die Vorlagefrage auf die (gegenseitige) Abhängigkeit von privater und öffentlicher Kartellrechtsdurchsetzung. 

Nachdem wir hier und hier bereits über die Haftung von Konzerngesellschaften berichtet haben, folgt mit den Schlussanträgen von GA Bobek ein weiterer Meilenstein für kartellbedingte Schadensersatzklagen: „Auf der strukturellen Ebene sind unionsrechtliche Bestimmungen, die unmittelbare Wirkung haben, standardmäßig vor den nationalen Gerichten durchsetzbar, unabhängig von der möglichen Zentralisierung (eines Teils) der administrativen Zuständigkeit für ihre Durchsetzung bei bestimmten Verwaltungsbehörden. Im besonderen Kontext des Wettbewerbsrechts bedeutet dies, dass sich Unternehmen, die die fairen Wettbewerbsregeln verletzen, nicht hinter dem Fehlen einer behördlichen Durchsetzung verschanzen dürfen und damit rechnen müssen, dass Schadensersatzklagen unmittelbar von den durch sie angeblich geschädigten Personen bei den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten erhoben werden.“ (Rn. 99).

GA Bobek erinnert an die allgemeinen Voraussetzungen für einen kartellbedingten Schadensersatzanspruch. Die Prüfung, ob ein Unternehmen gegen eine sich aus dem AEUV ergebende gesetzliche Verpflichtung verstoßen hat, obliege im Rahmen von Schadensersatzklagen allein den Zivilgerichten. Wäre zunächst eine öffentlich-rechtliche Entscheidung erforderlich, um eine Schadensersatzklage zu erheben, würde die private Kartellrechtsdurchsetzung lediglich hinter dem behördlichen Verfahren anstehen. „Diese Sichtweise (oder sicherlich dieses Ergebnis) ist jedoch mit der Natur des Systems und der Rechtsprechung des Gerichtshofs schlicht unvereinbar.“ (Rn. 95)

Und die meisten von Ihnen wissen wahrscheinlich, wie nervenaufreibend und zeitraubend Schlangestehen doch sein kann.

Ausblick

Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass vorangegangene behördliche Entscheidungen enorme Beweiserleichterungen für die Kläger eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs mit sich bringen. Demzufolge ist ein solches Schadensersatzverfahren ohne vorangegangenes behördliches Verfahren in der Praxis durchaus eine Seltenheit, was zugleich die Besonderheit dieses Vorabentscheidungsverfahrens verdeutlicht. Wenn sich der EuGH nun der Auffassung von GA Bobek anschließt, geht damit viel Kohle ein hoher Schadensersatzanspruch für die Klägerinnen einher, da der gesamte Zeitraum von 1999 bis 2006 zu berücksichtigen wäre. Gleichzeitig würde der High Court of England und Wales in seiner Rechtsauffassung nicht bestätigt. Es bleibt daher spannend abzuwarten, wie der EuGH in der Sache entscheiden wird. 

Was nehmen wir also mit? 

  • Bei Auslegungsstreitigkeiten zwischen nationalen Gerichten ist immer an ein Vorabentscheidungsersuchen zu denken. 
  • Die Befugnis der nationalen Gerichte zur Anwendung von Art. 101 AEUV hängt nicht vom sekundären EU-Recht ab.
  • Public und Private Enforcement sind unabhängige und gleichzeitig starke Player bei Fragen der Kartellrechtsdurchsetzung. 

Anna-Jacqueline Limprecht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Doktorandin von Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale). 

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