Vermutung von 20 % Kartellpreisaufschlag – Rumänien verleiht der privaten Kartellrechtsdurchsetzung Biss!
Der Ruf nach Beweiserleichterungen bei der Bezifferung des kartellbedingten Schadens wird nicht nur in Deutschland immer lauter. Zuletzt wurde in unserem Blog über die folgenreiche Entscheidung des LG Dortmunds berichtet. In anderen Ländern ist der Gesetzgeber schon aktiv geworden. Dr. Gerhard Klumpe berichtet über aktuelle Entwicklungen aus Rumänien.
Der schwierigste Aspekt eines Kartellschadensersatzanspruchs ist in der Praxis zweifellos die Feststellung des kartellbedingten Schadens, regelmäßig unterteilt in die Frage nach dem „Ob“ des Schadens einerseits und der konkreten Höhe des Schadens andererseits.
Bezüglich des „ob“ wird bekanntlich zum Rechtszustand vor der 9. GWB-Novelle noch immer heftig über die Voraussetzungen möglicher Beweiserleichterungen gestritten, doch sind mit den Schadensvermutungen in §§ 33a, 33c GWB für das neue Recht Hilfestellungen geschaffen worden.
Für die Frage der Schadenshöhe beließ es der Gesetzgeber hingegen bei dem im Grunde nur deklaratorischen Verweis auf § 287 ZPO in § 33a Abs. 3 S. 1 GWB; diese Norm findet nach allgemeinen Regeln ohnehin für die Bemessung der Schadenshöhe Anwendung. Nach bislang vorherrschender Entscheidungspraxis bedeutet dies aber, dass der Kläger – womöglich schon zur Darlegung des Schadens – ein bekanntlich kostenträchtiges Sachverständigengutachten benötigt, um dem Gericht für die Schätzung hinreichende Anknüpfungstatsachen an die Hand zu geben. Da ein solches Gutachten jedoch nichts anderes als einen besonders substantiierten Parteivortrag darstellt, muss der Kläger damit rechnen, wegen der ihn treffenden Beweislast noch ein weiteres, nun durch das Gericht beauftragtes Sachverständigengutachten bevorschussen zu müssen. Es liegt auf der Hand, dass dieses Kostenrisiko gerade bei geringen Streitwerten oder bei Privatpersonen oder kleineren Unternehmen auf der Klägerseite prohibitiv wirkt; in der schon sprichwörtlichen rationalen Apathie wird häufig auf die Rechtsverfolgung verzichtet werden.
Den aus diesem Grunde erhobenen Forderungen nach einer Mindestschadensvermutung (Makatsch/Mir, EuZW 2015, 7, 8, Weitbrecht, WuW 2015, 959, 968f. und Klumpe/Thiede, NZKart 2017, 332, 334) oder einer Mindestschadensschätzung (Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU) – Ein Gesetzgebungsvorschlag aus der Wissenschaft (2015), Rn. 58 ff.; Kersting in Kersting/Podszun, Kapitel 7, Rn. 40 m.w.N.) ist der Gesetzgeber bisher nicht nachgekommen und wird es auch im Rahmen der 10. GWB-Novelle nicht tun.
Dies hat dazu geführt, dass mittlerweile Gerichte – Vorschlägen aus der Literatur (Kühnen, NZKart 2019, 515 und in diese Richtung auch bereits Kersting/Preuß aaO.) und dem Auftrag aus Art. 17 Abs. 1 S. 1 der Kartellschadensrichtlinie 2014/104/EU folgend – die Sache selbst in die Hand genommen und einen Mindestschaden auf der Grundlage von aus dem Bußgeldbescheid und dem übrigen Sachvortrag der Parteien ersichtlichen Anknüpfungstatsachen ohne sachverständige Unterstützung geschätzt haben (LG Dortmund, Urt.v. 30.09.2020, 8 O 115/14 Kart – Schienenkartell – und auf Grundlage einer speziellen Sachverhaltskonstellation schon KG, Urt. v. 1.10.2009, 2 U 10/03, WuW 2010, 189, 193 – Berliner Transportbeton).
Die Vorzugswürdigkeit einer gesetzlichen Regelung liegt gleichwohl auf der Hand und einige Mitgliedsstaaten der EU sind in diesem Punkt vorangegangen.
In Ungarn existiert eine gesetzliche Vermutung schon längere Zeit in § 88/C Abs. 6 des ungarischen Kartellgesetzes i.d.F. vom 23.3.2009 (abrufbar unter https://mkogy.jogtar.hu/jogszabaly?docid=a0900014.TV). Dieser lautet übersetzt: „Für eine nicht unerhebliche Verletzung des Wettbewerbsrechts wird vermutet, dass dies zu einem Preisaufschlag von 10 % durch die Rechtsverletzer geführt hat.“ (Übersetzung nach Klumpe/Thiede, NZKart 2017, 332, 334, Fn 36).
Dem folgte als nächster Mitgliedsstaat Lettland, ebenfalls mit einer – widerleglichen – Vermutung von 10% in Chapter VI, Section 21, Abs 3 (abrufbar unter http://m.likumi.lv/ta/en/en/id/54890-competition-law; die dort abrufbare englische Übersetzung lautet: „If the infringement is a cartel agreement, it is presumed that the infringement has caused a damage, as a result of which the price has been raised by 10 per cent, unless proved otherwise.“).
Ganz aktuell hat nun Rumänien als dritter Mitgliedsstaat eine gesetzliche Schadensvermutung geschaffen (Vgl. „ORDONANȚĂ DE URGENȚĂ nr. 170 din 14 octombrie 2020 privind acțiunile în despăgubire în cazurile de încălcare a dispozițiilor legislației în materie de concurență, precum și pentru modificarea și completarea Legii concurenței nr. 21/1996; veröffentlicht am 16.10.2020, abrufbar unter http://legislatie.just.ro/Public/DetaliiDocument/231241). Dort finden sich in Art. 16 in zweierlei Hinsicht bemerkenswerte Regelungen.
Art. 16 Abs. 2 enthält die Vermutung, dass Kartelle Preisaufschläge von 20% auf die vom Kartell umfassten Waren oder Dienstleistungen verursachen, soweit nicht der Rechtsverletzer dies widerlegt. Damit wird ähnlich wie in Ungarn und Lettland eine widerlegliche Vermutung der Schadenshöhe eingeführt, die allerdings beträchtlich über die dortige Vermutung von 10% hinausgeht. Zudem findet sich in Art. 16 Abs. 3 die widerlegliche Vermutung, dass auch Wettbewerbsverstöße in Form des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung Schäden hervorrufen. Damit sieht Rumänien soweit ersichtlich als erster Mitgliedsstaat auch für Verstöße im Sinne von Art. 102 AEUV die Vermutung der Entstehung eines Schadens dem Grunde nach vor; die bisherigen Umsetzungen des Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2014/104/EU betrafen dem Richtliniengebot folgend allein Verstöße nach Art. 101 AEUV (vgl. zur deutschen Umsetzung in § 33a GWB Klumpe/Thiede, BB 2016, 3011, 3012 und Kersting in Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 4. Auflage 2020, § 33a GWB Rn 59 ff.).
Vergleicht man diesen vermuteten Kartellpreisaufschlag von 20% mit den Ergebnissen der bekannten Studien zu diesem Thema, so zeigt sich, dass der rumänische Gesetzgeber hier keinesfalls zurückhaltend agiert. Bleiben nach diesen Studien eine große Anzahl von Kartellpreisaufschlägen in einem Bereich von 10%-30% (vgl. dazu jüngst Isikay, Schadensschätzung bei Kartellverstößen, 2020, S. 22 m.w.N.), so siedelt die Vorschrift den Aufschlag im soliden mittleren Bereich an, mit einem Wert, den die bisherigen – wenigen – Urteile jedenfalls in Deutschland (vgl. dazu Klumpe/Thiede, NZKart 2019, 136 ff. und jüngst LG Dortmund 8 O 115/14 Kart) aber auch im übrigen Europa (dazu Rengier, Cartel Damages Actions in German Courts, Journal of European Competition Law & Practice, Volume 11, Issue 1-2, January-February 2020, S. 72 ff.) in dieser Höhe regelmäßig nicht zu schätzen vermochten.
Rumänien geht hier also mit großen Schritten in der gesetzgeberischen Ausgestaltung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung voran. Dies wird zwar kaum zu einem verstärkten Forumshopping zugunsten des dortigen Justizstandorts führen, weil die internationale Zuständigkeit nicht immer leicht zu begründen ist und das Rechtssystem den meisten Parteien auch zu wenig vertraut sein dürfte. Doch zeigt dieses Vorgehen durchaus, dass ein Gesetzgeber mehr tun kann, als lediglich den Gerichten „Mut zur Schätzung“ abzuverlangen, nämlich ihnen probates Handwerkszeug zu geben, um etwa auch die Verfolgung geringfügiger Schäden zu ermöglichen. Insoweit kommt den kleineren Mitgliedsstaaten mittlerweile erkennbar eine Vorreiterrolle zu, die auch den Gesetzgebern der großen Mitgliedsstaaten und namentlich Deutschlands als einem der wichtigsten Foren für Kartellschadensersatzklagen in Europa als Beispiel dienen kann.
5 thoughts on “Vermutung von 20 % Kartellpreisaufschlag – Rumänien verleiht der privaten Kartellrechtsdurchsetzung Biss!”
Vielen Dank für den interessanten rechtsvergleichenden Hinweis, lieber Herr Klumpe!
Ich möchte sicherheitshalber nur noch einmal betonen, dass zwischen der Vermutung eines bestimmten Kartellaufschlags (in Lettland 10, in Ungarn 15, in Rumänien jetzt 20 %) und der Vermutung einer bestimmten Schadenshöhe streng zu unterscheiden ist:
1. Die Höhe des (gesetzlich vermuteten) Kartellaufschlags hat zunächst nur Bedeutung für den Preisüberhöhungsschaden (damnum emergens). Sie besagt noch nichts über den entgangenen Gewinn (Mengeneffekt, lucrum cessans), der in Abhängigkeit von der jeweiligen Elastizität der Nachfrage noch einmal mehr oder weniger stark zu Buche schlagen kann und ebenfalls einen relevanten und zusätzlichen Schadensposten darstellt, wenngleich er in der deutschen Gerichtspraxis wegen immenser Beweisschcwierigkeiten kaum eine Rolle spielt (eine Ausnahme bildet OLG Düsseldorf (1. Kartellsenat), Urteil vom 09.04.2014 – VI-U (Kart) 10/12 – “Lottoblock”; siehe außerdem noch das grundlegende BGH-Urteil “ORWI”, hier allerdings als negative Voraussetzung für die Geltendmachung der passing-on-defence).
2. Auch wenn man sich – wie in deutschen Kartellschadensersatzverfahren üblich – auf den Preisüberhöhungsschaden beschränkt, gilt für dessen Berechnung: Von dem (ggf. gesetzlich vermuteten oder richterlich geschätzten) Kartellaufschlag ist der (vom in Anspruch genommenen Kartellanten zu beweisende) Weiterwälzungsanteil abzuziehen. Das gilt jedenfalls solange man die Weiterwälzung nicht als unbewiesen beiseiteschiebt oder – wie das LG Dortmund kürzlich in seinem Urteil v. 30.9.2020 (8 O 115/14 (Kart)) und sehr gut vertretbar – wegen der besonderen Konstellation (Weiterwälzung des Kartellaufschlags an die Endverbraucher durch Erhöhung der Preise für Nahverkehrstickets?) schon grundsätzlich die Zulässigkeit der Geltendmachung des Weiterwälzungseinwands verneint.
Ich muss meine Klimax korrigieren: Ungarn geht seit 2008 weiterhin von einem nur 10%igen Kartellaufschlag aus: “…úgy kell tekinteni, hogy a jogsértés az árat tíz százaléknyi mértékben befolyásolta.” (Art. 88/G (6) ungar. KartG), das hat mir Kollege Tihamér Tóth (Katholische Pázmány Péter Universität Budapest) gerade noch einmal bestätigt. Anwendungsbeispiele aus der Praxis sind ihm nicht bekannt.
Vielen Dank für den bereichernden Beitrag! Im Anschluss an das von Herrn Bien Gesagte möchte ich noch darauf hinweisen, dass bei Verstößen gegen das Verbot des Missbrauchs von Marktmacht dem Schadensposten des entgangenen Gewinns in der Regel am meisten Gewicht zukommt, weshalb eine widerlegliche Schadensvermutung im Hinblick auf den sehr herausfordernden Nachweis der konkreten Schadenshöhe wohl erst einmal wenig an der rationalen Apathie bei Schadensersatzklagen aufgrund von missbräuchlicher Gestaltungen zu ändern vermag.
Nichtsdestotrotz ist es sehr zu begrüßen, dass Rumänien als erstes Land an dieser Stelle über die Richtlinienvorgaben hinaus auch Schadensersatzfälle aufgrund eines Marktmachtmissbrauchs in den Blick nimmt, die bis lang sehr wenig bis gar keine Beachtung gefunden haben.
Ist es eigentlich wissenschaftlich redlich, wenn auf diesem Blog Richter über ihre eigenen Urteile schreiben – um die dort vertretenen Meinungen, die jedenfalls von der überwiegenden Ansicht in Deutschland weit entfernt sind, noch ein wenig zu pushen – ohne dies kenntlich zu machen? Ich erinnere mich, dass bezüglich eines durch die GAFA-Unternehmen in Auftrag gegebenen Gutachtens, die ohne den Hinweis der Zweitverwertung in der FAZ abgedruckt worden waren, hier kürzlich eine kritische Anmerkung erfolgte. Aber diese Standards gelten wohl nur für andere?
Ehrlich gesagt: Beim ersten Lesen war ich auch über die Stelle gestolpert, das LG Dortmund habe entschieden… Dann dachte ich: Das ist ein ironisches Augenzwinkern, und ich fand es beim zweiten Blick eine ganz witzige Formulierung, wenn man die Wendung “ich habe entschieden” vermeiden will.
Von den Leser/innen dieses Blogs wissen ohnehin die meisten (so meine Annahme), wer da am LG Dortmund solche Urteile trifft. Und wer es nicht weiß, der liest in der Autorenzeile, dass dieser Autor einer Kartellkammer am LG Dortmund vorsitzt und also wohl hinsichtlich Entscheidungen des LG Dortmund nicht unbefangen ist.
Eine Parallelität zum zitierten FAZ-Fall, in dem ein unabhängig wirkender Wissenschaftler gerade nicht seine Verbindung zu einem GAFA-Konzern darlegte, kann ich nicht erkennen.
Und auch aus einem anderen Grund sehe ich hier keine Parallele: Der Autor dieses Blogbeitrags pusht hier nicht eine “Meinung”, für die er (mutmaßlich) viel Geld erhalten hat, sondern er pusht bestenfalls seine Rechtsauffassung, die er in Form eines Urteils in den Rechtsdiskurs eingebracht hat. Das ist ein erheblicher qualitativer Unterschied.
Häufig höre ich das Lamento, Richter/innen würden sich in der Fachcommunity zu selten einbringen. Ich find’s gut, dass dieser Richter sich äußert. Und ich erwarte übrigens von Beiträgen in diesem Blog auch nicht, dass sie sich wissenschaftlich vertieft mit Gegenargumenten auseinandersetzen (sonst würde ich längst in der Blog-Hölle schmoren…)
Yours – Rupprecht Podszun (editor)