AGENDA 2025: Reform des Kartellschadensersatzrechts

AGENDA 2025: Reform des Kartellschadensersatzrechts

Dieser Artikel ist Teil der D-Kart Spotlights: Agenda 2025. In diesem kommentieren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis einzelne Aspekte der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vorgelegten Wettbewerbspolitischen Agenda. Die schon erschienenen Beiträge finden Sie hier.

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In der Agenda des BMWK darf das Schadensersatzrecht nicht fehlen. Christian Kersting nutzt diese Gelegenheit für einen Streifzug durch die Baustellen der Kartellschadensersatzrichtlinie mitsamt Lösungsvorschlägen. 

Die wettbewerbspolitische Agenda des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bis 2025 wurde in einem Zehn-Punkte-Papier „für nachhaltigen Wettbewerb als Grundpfeiler der sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ vom 21 Februar 2022 vorgestellt. Der neunte Punkt strebt die Stärkung und transparentere Gestaltung der EU-Wettbewerbspolitik an. Ein Aspekt soll die Reform der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU sein:

„[…] wollen wir die Kartellverfolgung durch eine Initiative zum besseren Schutz von Kronzeugen und zur Reform der EU-Kartellschadensersatzrichtlinie stärken.”

Nachfolgend soll überlegt werden, in welchen Bereichen die Kartellschadensersatzrichtlinie der Reform bedarf. Der gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie bis zum 27. Dezember 2020 im europäischen Parlament und dem Rat zu erstattende Bericht der Kommission bietet hier freilich keine Orientierung. Die Kommission stellt in ihrem Bericht vom 14. Dezember 2020 im Wesentlichen fest, dass es für eine Evaluierung angesichts der langen Umsetzungsfristen und des Umstands, dass es noch nicht hinreichend Fallmaterial gebe, derzeit noch zu früh sei. Dem ist jedenfalls aus deutscher Perspektive zu widersprechen. Auch wenn es in der Tat noch an reichhaltigem Fallmaterial fehlt, so lässt sich doch bereits jetzt ein gewisser Reformbedarf aufzeigen. Die vom BMWK angesprochene Initiative zum besseren Schutz von Kronzeugen ist hierfür nur ein Beispiel. Nicht in jedem Fall zwingt ein bestehender Reformbedarf zu einer Änderung auch der Richtlinie, verschiedentlich würde auch eine Anpassung des nationalen Rechts genügen. Die angestrebte Harmonisierung streitet jedoch dafür, sachlich sinnvolle Regelungen auch europaweit einheitlich zu treffen. Nachfolgend sollen einige Vorschläge für eine Verbesserung der privaten Kartellrechtsdurchsetzung unterbreitet werden, die durch eine Reform (auch) der Richtlinie oder aber (im Rahmen der bestehenden Richtlinie) des nationalen Rechts umgesetzt werden können:

Verhältnis zum Primärrecht

Das Verhältnis der Richtlinie bzw. des nationalen Rechts zum Primärrecht war von Anfang an schwierig. Bereits die Diskussion um den Schutz von Kronzeugenunterlagen, die nach Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie absolut geschützt sind, während der EuGH in DonauChemie einem solchen absoluten Schutz gerade eine Absage erteilt hatte, zeigt das Spannungsverhältnis (siehe bereits hier). Noch einmal komplizierter wird die Situation dadurch, dass die Grenzen zwischen dem europäischen Primärrecht und dem nationalen Recht durch die Entscheidungen des EuGH in den Fällen Skanska und Sumal verschwimmen. In beiden Entscheidungen hat der EuGH jedenfalls die Passivlegitimation aber auch andere Elemente des Kartellschadensersatz­anspruchs unmittelbar aus Art. 101 AEUV hergeleitet. Es ist offen, wie sich dies zur Richtlinie und zum nationalen Recht verhält. Richtigerweise wird man den Schadensersatzanspruch weiterhin dem nationalen Recht zuordnen und dem Primärrecht nur eine Ergebnisvorgabe entnehmen können, allerdings mit unmittelbarer Anwendung des Unionsrechts, wenn das Ergebnis verfehlt wird.

Zur Vermeidung von Rechtsunsicherheit und Friktionen könnte in den Erwägungsgründen der Richtlinie klargestellt werden, dass der Schadensersatzanspruch einheitlich dem nationalen Recht zugewiesen ist. Dazu könnte man sich auf die Aussage des EuGH in Skanska berufen, dass Richtlinien den Mitgliedstaaten Regelungsbefugnisse übertragen können (dort Rn. 34). Zudem lässt sich auf die ständige Rechtsprechung des EuGH verweisen, wonach „jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene abschließend harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand des Primärrechts zu beurteilen“ ist (siehe TAP bei Rn. 49). Insofern mag man auch den abschließenden Charakter der Harmonisierung klarstellen.

Kollektive Rechtsdurchsetzung

Die Richtlinie verzichtet bewusst auf Regelungen zur kollektiven Rechtsdurchsetzung. Gleichzeitig verlangt sie (fast) Unmögliches: einerseits müssen alle Geschädigten den vollständigen Ersatz ihres Schadens verlangen und erwirken können (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie). Andererseits darf der vollständige Ersatz nicht zu Überkompensation führen (Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie). Das ist angesichts der Tatsache, dass sowohl unmittelbare als auch mittelbare Abnehmer oder Lieferanten Schadensersatzansprüche stellen können (Art. 12 Abs. 1), kaum zu leisten. Denn es stellt sich damit immer die Frage, auf welcher Absatzstufe der Schaden in welcher Höhe eingetreten ist. Wird der Schaden auf der falschen Stufe verortet, so erhält ein Nichtgeschädigter Schadensersatz, während der Geschädigte leer ausgeht. Noch schlimmer ist es, wenn sich der Kartellant gegenüber seinem direkten Abnehmer erfolgreich mit dem Einwand der Schadensabwälzung verteidigt und es dem indirekten Abnehmer nicht gelingt, die Schadensabwälzung auf sich zu beweisen. Dann erhält trotz eines sicher eingetretenen Schadens niemand Schadensersatz und der Schädiger bleibt „ungeschoren“. Bereits deswegen ist über die Einführung von Elementen des kollektiven Rechtsschutzes nachzudenken. 

Auch im Fall von Streuschäden versagt die geltende Regelung: Die letztlich geschädigten Endverbraucher erhalten keinen Schadensersatz. Gleichzeitig kann sich entweder der Schädiger durch den Einwand der Schadensabwälzung erfolgreich gegenüber Ansprüchen seiner unmittelbaren Abnehmer verteidigen (und so den illegalen Gewinn behalten) oder aber die unmittelbaren Abnehmer erhalten eine Kompensation, obwohl sie den Schaden abgewälzt haben. 

Festzuhalten bleibt damit, dass eine kollektive Rechtsdurchsetzung ermöglicht werden muss. Sofern sich dies nicht auf europäischer Ebene realisieren lassen sollte, sollte doch auf nationaler Ebene hierüber nachgedacht werden. Es ist Zeit für die Sammelklage!

Bündelung von Ansprüchen

Sofern sich der Gesetzgeber nicht dazu durchringen kann, die – nicht nur im Kartellrecht, man denke nur an den Dieselskandal! – überfällige Sammelklage im deutschen Recht einzuführen, sollte klargestellt werden, unter welchen Voraussetzungen eine Anspruchsbündelung zulässig ist. Anspruchsteller, die ihre Ansprüche im Rahmen von Abtretungsmodellen gebündelt haben, um so überhaupt eine hinreichende Schlagkraft für die Durchsetzung ihrer Ansprüche entwickeln zu können, erlebten vielfach eine böse Überraschung: Die Abtretungen wurden u.a. wegen Verstoßes gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz für unwirksam und nichtig erachtet (siehe nur LG München I, Urt. v. 7.2.2020, 37 O 18934/17, NZKart 2020, 145). Dies sollte zwar dem Schutz der Zedenten dienen, jedoch gab man diesen Steine statt Brot. Zum einen waren die Zedenten gar nicht in der Lage bzw. war es ökonomisch nicht sinnvoll für sie, ihre Ansprüche individuell durchzusetzen. Zum anderen war bis zur Entscheidung über die Zulässigkeit der Abtretung häufig bereits Verjährung eingetreten. Das Ganze grenzte an Rechtsschutzverweigerung. Zwar hat der BGH in seiner AirDeal-Entscheidung deutlich gemacht, dass die Anspruchsbündelung nicht gegen § 4 RDG verstößt, jedoch steht eine explizite Übertragung in das Kartellrecht noch aus. 

Insgesamt sollte der Gesetzgeber klarstellen, unter welchen Voraussetzungen eine Anspruchsbündelung und die Nutzung von Klagevehikeln zulässig ist. Jedenfalls für das Kartellrecht gilt dabei, dass keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen. Ansonsten fehlte es an der vom Primärrecht und der Kartellschadensersatzrichtlinie geforderten effektiven Möglichkeit, Kartellschadens­ersatzansprüche durchzusetzen. Eine Klarstellung in der Kartellschadensersatzrichtlinie mag hier helfen, erscheint aber nicht zwingend. In jedem Fall sollte die Zulässigkeit im nationalen Recht klargestellt werden.

Zuständigkeitskonzentration

Für Kartellschadensersatzverfahren gelten im Grundsatz die allgemeinen Vorschriften zur gerichtlichen Zuständigkeit. § 89 GWB erlaubt zwar eine gewisse Zuständigkeitskonzentration, dennoch werden Verfahren in großen Kartellen, wie zum Beispiel dem Schienenkartell oder dem Lkw-Kartell, vor verschiedensten Gerichten geführt. In der Folge kommt es zu erheblichen Ineffizienzen: Nicht alle Gerichte haben in gleicher Weise Erfahrung mit dem Kartellrecht. Nicht alle Gerichte sind sachlich und personell hinreichend ausgestattet, um die umfangreichen Kartellverfahren, die zudem häufig die Hinzuziehung ökonomischen Sachverstands erfordern, zügig zu bearbeiten und abzuschließen. Die Aufteilung auf verschiedene Gerichte bringt es auch mit sich, dass sich immer neue Richter in die Verfahren einarbeiten müssen. 

Vor diesem Hintergrund ist es ausgesprochen sinnvoll, über eine Zuständigkeitskonzentration nachzudenken. Am besten wäre eine Bündelung bei einem einzigen Gericht in Deutschland. Hier bietet § 39a Abs. 5 WpÜG ein Vorbild. Wenn daher schon einer Bündelung dieser Verfahren bei einem einzigen Gericht, etwa in Düsseldorf, in Deutschland wenig entgegensteht, so sollte jedenfalls eine Bündelung in jedem Bundesland vorgenommen werden. Die Möglichkeiten des § 89 GWB müssen ausgereizt werden. Ebenfalls denkbar scheint eine Zuständigkeits­konzentration dergestalt, dass Schadensersatzverfahren aufgrund bestimmter Kartelle bei dem zuerst damit befassten Gericht zu verhandeln sind. Entsprechende Vorschläge liegen vor (Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, S. 34 f., Rn. 278 ff.). Auch hier gilt, dass eine entsprechende europäische Regelung hilfreich sein kann. Sie ist zwar nicht zwingend, kann aber helfen, Widerstände im nationalen Recht zu überwinden. In jedem Fall gibt es Anpassungsbedarf im deutschen Recht.

Schadensvermutung

Art. 17 Abs. 2 der Kartellschadensersatzrichtlinie enthält eine widerlegliche Schadens­vermutung dem Grunde nach. Es wird (lediglich) vermutet, „dass Zuwiderhandlungen in Form von Kartellen einen Schaden verursachen“. Das deutsche Recht setzt dies in § 33a Abs. 2 Satz 1 GWB um. Letztlich erweist sich diese Vermutung als weitgehend zahnlos, da die Geschädigten immer noch mit großem Aufwand an Zeit und Kosten die tatsächliche Höhe des Schadens nachzuweisen haben. Der Rechtsprechung muss es erst noch gelingen, die gesetzliche Vermutung, dass der Schaden jedenfalls größer als Null ist, in handhabbare und für die Parteien prognostizierbare Vorgaben zur Schätzung zu übersetzen (zu diesem Auftrag an die Rechtsprechung siehe Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, Rn. 58 ff.). Mutige Ansätze in der Rechtsprechung, die Schadenshöhe freihändig zu schätzen, sind noch vereinzelt geblieben und an enge Voraussetzungen geknüpft (vgl. LG Dortmund, 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart); siehe auch hier). Ein echter Fortschritt ließe sich erzielen, wenn in die Richtlinie oder zumindest in das deutsche nationale Recht eine echte Schadensvermutung der Höhe nach aufgenommen würde. Man könnte an eine Vermutung, dass Kartelle einen Preisüberhöhungsschaden in Höhe von 10 % verursachen, denken. Dies entspräche der Regelung in Ungarn und Lettland. Rumänien vermutet sogar einen Schaden von 20 % (siehe hier). Dies würde die private Rechtsdurchsetzung in Deutschland deutlich erleichtern und beschleunigen. Zudem würde eine außergerichtliche Streitbeilegung gefördert. 

Am Rande sei noch angemerkt, dass im Rahmen einer Reform der Richtlinie und/oder des deutschen Rechts klargestellt werden sollte, dass die zugunsten eines mittelbaren Abnehmers eingreifende Vermutung der Abwälzung eines Preisaufschlags (Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie) die Vermutung beinhaltet, dass der Preisaufschlag in voller Höhe abgewälzt wurde. Dies wird im deutschen Recht zu Unrecht bestritten und in § 33c Abs. 2 GWB unzureichend als eine Vermutung nur „dem Grunde nach“ umgesetzt.

Besserer Schutz von Kronzeugen

Kartellanten drohen hohe Geldbußen. Um sie zur Aufdeckung von Kartellen zu ermuntern, erhalten Kartellanten, die sich als Kronzeugen zur Verfügung stellen und ein Kartell aufdecken, eine Bußgeldreduktion auf Null. Dies macht Kartelle instabil und erleichtert den Wettbewerbsbehörden die Arbeit. Eine große Anzahl von Kartellen wurde in der Vergangenheit durch Kronzeugenanträge aufgedeckt. Allerdings drohen auch den Kronzeugen hohe Schadensersatzforderungen, was sich dämpfend auf die Bereitschaft, einen Kronzeugenantrag zu stellen, auswirken kann (siehe den EuGH in Pfleiderer [dort Rn. 26 f.] und DonauChemie [dort Rn. 33]). Die Kartellschadensersatzrichtlinie hat dies gesehen und in Art. 11 Abs. 4 eine Privilegierung für Kronzeugen vorgesehen. Diese haften nur gegenüber ihren unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmern oder Lieferanten. Allerdings wird diese Privilegierung seit einiger Zeit nicht mehr für ausreichend gehalten, weil die Kronzeugenanträge zurückgingen (vgl. dazu auch hier). Insbesondere das Bundeskartellamt fordert einen besseren Schutz für Kronzeugen (siehe hier). 

Bereits im Ansatzpunkt verfehlt ist die Regelung der Richtlinie, weil sie die Kronzeugen auf Kosten der Geschädigten schützt. Richtigerweise wird man die Kronzeugen nicht im Außenverhältnis zu den Geschädigten, sondern im Innenverhältnis zu den übrigen Kartellanten schützen müssen. Nicht die Geschädigten sind verantwortlich für die Aufdeckung des Kartells, sondern die Kartellanten! Nicht die Geschädigten sollten die Kosten für die Aufdeckung von Kartellen tragen, sondern die Kartellanten! 

Eine Privilegierung der Kronzeugen im Innenverhältnis zu den übrigen Kartellanten könnte dabei so aussehen, dass die Kronzeugen zwar im Außenverhältnis den Geschädigten gesamtschuldnerisch auf vollen Schadensersatz haften, sie im Innenverhältnis aber einen größeren Innenausgleichsanspruch gegenüber den übrigen Kartellanten erhalten als dies nach den allgemeinen Regeln der Fall wäre. Dieser Innenausgleichsanspruch kann so ausgestaltet sein, dass die Kronzeugen vollständigen Ersatz von den übrigen Kartellanten erhalten, sodass sie wirtschaftlich durch die Schadensersatzforderungen überhaupt nicht belastet werden. Insofern könnte man die übrigen Kartellanten entgegen den allgemeinen Regeln sogar gesamtschuldnerisch für den Innenausgleichsanspruch des Kronzeugen haften lassen. Aber auch eine abgestufte Privilegierung ist denkbar, etwa indem man ihnen keinen vollen Innenausgleichsanspruch, sondern nur einen um einen bestimmten Prozentsatz gekürzten Anspruch gewährt. Man könnte sogar Kartellanten, die nicht Kronzeugen sind, aber eine Bußgeldermäßigung erhalten haben, ebenfalls privilegieren. Entsprechende Vorschläge liegen bereits seit langem vor (vgl. Kersting, FS Meier-Beck, GRUR 2021, 250 ff., siehe auch hier).

Kurz erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass das geltende System mit einer Privilegierung von Kronzeugen im Außenverhältnis erhebliche Probleme beim Rechtsschutz aufwirft. Schließlich wird durch die Gewährung des Kronzeugenstatus den Geschädigten ein bestehender Anspruch entzogen. Es kommt daher zu einer Beeinträchtigung der Rechtstellung Dritter, die man möglicherweise vorher anhören, denen man aber in jedem Fall eine Rechtsschutz­möglichkeit gewähren muss (vgl. Kersting, FS Meier-Beck, GRUR 2021, 250, 251 ff). Diese Probleme entfallen, wenn man die Kronzeugen nicht im Außen-, sondern im Innenverhältnis privilegiert. Ein solcher – auch primärrechtlich gebotener – Paradigmenwechsel weg von einer Privilegierung im Außenverhältnis zulasten der Geschädigten und hin zu einer Privilegierung im Innenverhältnis zulasten der Schädiger, wird aber tatsächlich eine Reform des Art. 11 Abs. 4 der Kartellschadensersatzrichtlinie erfordern. 

Solange es an dieser Reform fehlt oder eine solche nicht durchsetzbar sein sollte, sollte zumindest überlegt werden, eine Optionslösung im deutschen Recht zu etablieren. In dem Fall sollte dem Kronzeugen ein Wahlrecht zwischen einer Privilegierung im Außenverhältnis gegenüber den Gläubigern wie sie die Richtlinie verlangt und einer umfangreicheren Privilegierung im Innenverhältnis gegenüber den übrigen Kartellanten eingeräumt werden. Es ist anzunehmen, dass der Kronzeuge die vollständige Privilegierung im Innenverhältnis einer nur teilweisen Privilegierung im Außenverhältnis, wie sie Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie vorsieht, vorziehen wird. Auch hierfür liegen Vorschläge seit langem vor (Kersting/Preuß, Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU), 2015, S. 24, 81 ff.). Die Richtlinie steht dem nicht entgegen.

Der große Wurf: Abstimmung von öffentlicher und privater Rechtsdurchsetzung, von Ahndung und Abschöpfung

Ein Hauptproblem der Kartellrechtsdurchsetzung liegt darin, dass die öffentliche und die private Kartellrechtsdurchsetzung nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind. Die Ahndung der Tat sowie der Entzug unrechtmäßiger Vorteile bzw. die Kompensation von erlittenen Schäden greifen nicht friktionsfrei ineinander. § 81d Abs. 3 Satz 1 GWB erlaubt die Abschöpfung des aus dem Kartell gezogenen wirtschaftlichen Vorteils über die Bußgeldbemessung. Gleichzeitig erlaubt § 34 Abs. 1 GWB eine Abschöpfung im Verwaltungswege, sofern die Abschöpfung nicht bereits durch Schadens­ersatz­leistungen, die Festsetzung einer Geldbuße, die Anordnung der Einziehung von Taterträgen oder durch Rückerstattung erfolgt ist, § 34 Abs. 2 Satz 1 GWB. In der Theorie muss einer dieser Abschöpfungswege gewählt werden, in der Praxis funktioniert dies nicht: 

Obwohl im Rahmen der Bußgeldbemessung der tatbefangene Umsatz und damit das Gewinnpotential berücksichtigt wird, erklärt das Bundeskartellamt seine Geldbußen in allen Fällen zu reinen Ahndungsgeldbußen. Trotzdem kommt es im Anschluss nicht zu der – dann eigentlich zwingenden – Abschöpfung nach § 34 GWB. Bei der Bestimmung der Höhe der reinen Ahndungsgeldbuße wird dann auch nicht berücksichtigt, dass die Geldbuße allein der Ahndung (und nicht auch der Abschöpfung) dient, was eigentlich zu geringeren Geldbußen führen müsste. Damit wird das zwingende Gebot des § 81d Abs. 3 Satz 2 GWB missachtet. 

Die der Verhängung von Geldbußen in aller Regel erst folgende Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen verkompliziert die Situation weiterhin. Zwar sind die durch das Kartell verursachten Schäden nicht identisch mit den aus dem Kartell gezogenen Vorteilen, es kommt aber zu Überlappungen. Der aus dem Kartell gezogene Vorteil entspricht regelmäßig einem Schaden auf der Marktgegenseite, wobei der verursachte Schaden den aus dem Kartell gezogenen Vorteil übersteigen kann. Werden nun Schadensersatzansprüche geltend gemacht, so muss dies bei einer zuvor erfolgten Abschöpfung berücksichtigt werden, soweit die geltend gemachten Schäden den Vorteilen korrespondieren, die aus dem Kartell gezogen wurden. Hierfür fehlt es an einer gesetzlichen Regelung, wobei nach richtiger Auffassung § 34 Abs. 2 Satz 2 GWB analog anzuwenden und eine Erstattung an den Kartellanten vorzunehmen ist. Notwendig ist zudem eine Abstimmung mit der strafrechtlichen Einziehung (§ 73b StGB). Steuerliche Fragen sind ebenfalls nicht zufriedenstellend und in verfassungskonformer Weise gelöst. Es droht nämlich eine verfassungswidrige Doppelbesteuerung der Kartellanten, wenn diese zwar auf ihre illegalen Gewinne Steuern zahlen, dabei aber eine (verdeckte) Abschöpfung der illegalen Gewinne nicht berücksichtigt wird. Siehe zum Ganzen Drüen/Kersting, Steuerrechtliche Abzugsfähigkeit von Kartellgeldbußen des Bundeskartellamts, 2016, S. 76 ff.

Das Finden einer Lösung erweist sich als Herkulesaufgabe und erfordert einen großen Wurf. Zu verhängen ist eine abschreckende Geldbuße, der wirtschaftliche Vorteil ist vollständig abzuschöpfen, die Geschädigten müssen vollständig kompensiert werden und das Ganze muss für die Kartellanten ex ante vorhersehbar sein. Naheliegende Überlegungen, dem Bundeskartellamt eine zentrale Stellung zuzuweisen, müssen mit dem Recht der Geschädigten auf Schadensersatz abgestimmt werden. An dieser Stelle kann keine umfassende und überzeugende Lösung entwickelt werden, sondern es können nur einige vorsichtige erste Überlegungen vorgestellt werden: 

Im Ausgangspunkt erscheint es in der Tat sinnvoll, dem Bundeskartellamt eine zentrale Rolle zuzuweisen. In aller Regel werden Schadenersatzklagen ohnehin als Follow-on-Klagen, d.h. im Anschluss an die Verhängung eines Bußgeldes durch das Bundeskartellamt, erhoben. Dem Bundeskartellamt stehen weitaus umfassendere Informationsmöglichkeiten zur Verfügung als den Geschädigten. Es ist daher am besten in der Lage, den wirtschaftlichen Vorteil und damit den Löwenanteil des Schadens der Geschädigten zu bestimmen. Der in der Praxis zentrale Streit um den Umfang des Preisüberhöhungsschadens ließe sich so in einem einzigen Verfahren beim Bundeskartellamt klären. Dreht man dann die Reihenfolge um und lässt das Amt zunächst den wirtschaftlichen Vorteil abschöpfen und erst anschließend das Bußgeld verhängen, so ist die Trennung zwischen Ahndung und Abschöpfung klar und erlaubt auch eine verfassungsgemäße steuerliche Behandlung. Bereits zuvor gezahlte Schadensersatzbeträge könnten bei der Bestimmung des Abschöpfungs­betrages berücksichtigt werden. 

Im Anschluss können Geschädigte gegen die Kartellanten zivilrechtlich vorgehen. Sie können sich dabei auf die Bestimmung des wirtschaftlichen Vorteils durch das Kartellamt, der den Preisüberhöhungsschaden widerspiegelt, berufen. Soweit in der Folge Schadensersatz­zahlungen durch die Kartellanten geleistet werden, erhalten diese eine Erstattung aus den bei ihnen abgeschöpften Geldern. Man kann überlegen, diese Erstattungsansprüche auf den Schadensersatzbetrag zu beschränken und Nebenforderungen, insbesondere Zinsen, auszunehmen. Dies könnte zu einer Beschleunigung der Verfahren führen. 

Diese Vorgehensweise dürfte auch bei gerichtlichen und außergerichtlichen Vergleichen funktionieren; gegebenenfalls kann eine summarische Prüfung der Berechtigung der Ansprüche durch das Bundeskartellamt zur Voraussetzung für den Erstattungsanspruch gemacht werden. Die Möglichkeit von Stand-alone-Klagen bestünde weiterhin. Sofern das Bundeskartellamt später aktiv wird, sollte man diese Klagen bis zu einer Entscheidung des Amtes aussetzen können. 

Denkbar sind auch umfassendere Lösungen, die sich zum Beispiel an das aktienrechtliche Spruchverfahren anlehnen (dazu Klumpe, NZKart 2019, 405, 406) oder sogar die öffentliche und die private Rechtsdurchsetzung ganz zusammenführen. Dies bedürfte der Abstimmung mit den Anforderungen des europäischen Rechts. Eine solche ist aber ohnehin erforderlich, denn idealerweise würde sich eine neue Lösung nicht auf Verfahren des Bundeskartellamts beschränken, sondern auch Verfahren der europäischen Kommission einbeziehen. Dies würde jedoch eine Lösung insgesamt auf europäischer Ebene erfordern. Wenn man dort nach einer großen, einheitlichen Lösung sucht, so lässt sich u.U. auch die Vereinbarkeit von großen Lösungen mit dem Primärrecht begründen. 

Insgesamt gilt: think big!

Fazit

Im Bereich der Kartellrechtsdurchsetzung besteht Reformbedarf. Neben den hier erwähnten Punkten mag man auch an eine Abschaffung der unsinnigen Privilegierung von KMU denken sowie an eine Überprüfung der Regelungen zur Offenlegung in §§ 33g, 89b GWB, die ebenfalls einer Evaluierung unterworfen werden sollten, hierauf kann in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht eingegangen werden. In jedem Fall sollte die Richtlinie die Mitgliedstaaten zur Einführung von Sammelklagen verpflichten und einen besseren Schutz von Kronzeugen vorsehen. Ein solcher besserer Schutz von Kronzeugen lässt sich dadurch erreichen, dass diese eine umfassende Privilegierung durch die Gewährung eines vollständigen Innenausgleichsanspruchs gegenüber den übrigen Kartellanten erhalten. 

Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale) ist Direktor des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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