AGENDA 2025: „Ordnungspolitik ernst nehmen“

AGENDA 2025: „Ordnungspolitik ernst nehmen“

Dieser Artikel ist Teil der D-Kart Spotlights: Agenda 2025. In diesem kommentieren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis einzelne Aspekte der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vorgelegten Wettbewerbspolitischen Agenda. Die schon erschienenen Beiträge finden Sie hier.

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Die Wettbewerbspolitische Agenda des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz beginnt mit einem großen Satz, einer Referenz an die Ordnungspolitik. Rupprecht Podszun hat aus diesem Anlass noch einmal Walter Eucken konsultiert – und hat die Vorstellungen des großen Ordoliberalen mit denen der Agenda abgeglichen.

Walter Eucken war 23 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Er war gerade in Nationalökonomie promoviert worden, hatte eine Einladung an die Columbia University in New York. Der Krieg macht seinen Reiseplan zunichte. Die unbeschwerte, „von der Sonne beschienene“ Zeit des Studiums ist mit einem Mal vorbei. Sein Studienfreund August Macke, der berühmte Künstler, stirbt wenige Wochen nach Kriegsbeginn an der Front in der Champagne. Eucken dient bis zur Demobilmachung in einem Feldartillerie-Regiment, zuletzt als Batteriechef. Er überlebt, aber er hat den Krieg erlebt. Auch die Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Dörth waren Soldaten im Ersten Weltkrieg. 

Die drei Männer begründeten den für das Kartellrecht bis heute wirkmächtigen Ordoliberalismus. Schon 1936 verfassten sie einen kurzen Text – „Unsere Aufgabe“ – der als Einleitung zu ihrer gemeinsamen Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft“ gedacht war. Nils Goldschmidt, einer der heutigen Lordsiegelbewahrer des Ordo, nennt diesen Text „das Gründungsdokument der Freiburger Schule“. Großmann-Dörth starb übrigens 1944 in einem Lazarett in Königsberg.

Die Freiburger Schule – ein Friedensprogramm?

Die Kriegserfahrungen der Gründerväter des Ordoliberalismus fallen mir ein und auf, als ich in Euckens Schriften blättere. Der Krieg ist darin präsent, nicht auf jeder Seite, aber immer wieder: Diese Männer, die von Kriegen gezeichnet waren, errichteten ihr Gedankengebäude auf den Trümmern. Erstaunlich ist für mich, dass es in meiner bisherigen Rezeption der Ordoliberalen keine Rolle spielte. Bei früheren Lektüren habe ich die Passagen, in denen es um die Rolle des Kriegs in der Wirtschaft ging, als zeitverhaftet rasch überflogen. Friedensblindheit war das vielleicht. 

Krieg ist für Walter Eucken ein Treiber der Monopolbildung – und umgekehrt:

„Krieg und Politik zentraler Leitung des Wirtschaftsprozesses hängen eng zusammen.“

Zentrale Leitung des Wirtschaftsprozesses, das ist Euckens Sprache für starke Konzentration und staatliche Planung, also das, was er zutiefst verabscheute. Heute wirken solche Sätze hoch aktuell. Eine dezentral organisierte Wirtschaft mit eigenständigen Unternehmen, die selbstbewusst ihre Pläne verfolgen, lässt sich nicht so leicht für eine Kriegswirtschaft instrumentalisieren. Der freie Wettbewerb, das Unternehmertum, eine florierende „Privatrechtsgesellschaft“ (Franz Böhm) versichern die Marktteilnehmer dagegen, dass eine Führerschicht sie in einen Krieg zieht. Das ordoliberale Programm, das die Weltkriegsveteranen Eucken, Böhm und Großmann-Dörth skizzierten – ist es womöglich ein Friedensprogramm?

Eine Agenda im Schatten des Krieges

Alexander Kirk, der an meinem Lehrstuhl arbeitet, hatte mir die Frage gestellt: Wäre die Wettbewerbspolitische Agenda des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWK) eigentlich anders ausgefallen, wenn sie unter dem Eindruck des Kriegs verfasst worden wäre? Das BMWK hat den Text am 21.2.2022 veröffentlicht, drei Tage vor Russlands Einmarsch in die Ukraine.

Einerseits: Ganz bestimmt. Es hätte Ausführungen zu zusammenbrechenden Lieferketten, zum globalen Wettbewerb und vielleicht sogar zum – siehe oben – Zusammenhang von Machtballungen und Krieg gegeben. 

Andererseits: Die Wettbewerbspolitische Agenda beginnt mit einer Präambel, die eine einzige, große Referenz an die Freiburger Schule ist. Wer mag, kann im Bekenntnis zur Ordnungspolitik auch die Auffassung erkennen, dass nur ein regelgebundenes, wettbewerbliches Spielfeld der Wirtschaft friedenssichernd ist. Die Friedensfunktion des freien Wettbewerbs ist also mindestens implizit schon enthalten.

Für Walter Eucken steht auch mit Blick auf Kriege und militärische Konzentration die Brechung wirtschaftlicher Macht im Vordergrund. Das ist der Kernpunkt seiner Ausführungen: Kartelle sind zu verbieten, Monopole aufzubrechen, Märkte offenzuhalten.

„Nicht in erster Linie gegen die Mißbräuche vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern gegen die Entstehung der Machtkörper überhaupt.“

Marktmacht ist also nicht unschuldig. Das BMWK greift diesen Gedanken Euckens, der ja explizit nicht im Mainstream des Kartellrechts verankert ist, in der Wettbewerbspolitischen Agenda auf. In Ziffer 9, etwas versteckt, wird die missbrauchsunabhängige Entflechtung als Ultima Ratio auf verfestigten Märkten gefordert. Als die Autoren das schrieben, dachten sie vielleicht in erster Linie an die Digitalgiganten. Ein paar Tage später wünscht man sich das Aufbrechen der Marktmacht auf Energiemärkten (die einst übrigens qua Ministererlaubnis aus dem damaligen BMWi befördert wurde).

Grüner Aufbruch in die 1950er Jahre

„Wir wollen die Ordnungspolitik nach Jahrzehnten des Bedeutungsverlustes wieder in den Mittelpunkt des wirtschaftspolitischen Interesses rücken. Die aktuellen Herausforderungen – allen voran Digitalisierung, gerechte Globalisierung und Nachhaltigkeit – sind nur mit internationaler Koordinierung und einem zeitgemäßen Ordnungsrahmen lösbar. Dort, wo es keinen angemessenen Ordnungsrahmen gibt, versagen Märkte mit erheblichen Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt. Ordnungspolitik ist daher unverzichtbarer Bestandteil erfolgreicher Wirtschaftspolitik.“ (Präambel)

Das jetzt grün geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz legt nach nicht einmal 100 Tagen eine Wettbewerbspolitische Agenda vor, die in den ersten Absätzen eine Renaissance der Ordnungspolitik ankündigt, jener Theorie, die Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik der 1950er Jahren legendär werden ließ. Das ist ein bemerkenswerter Einstieg, gerade für einen Minister der Grünen. Immerhin gehört die Ordnungspolitik der Freiburger Schule eigentlich eher zur Folklore der FDP. Franz Böhm saß für die CDU im Deutschen Bundestag. Zuzugeben ist allerdings, dass der letzte grundsätzliche Aufschlag eines Bundeswirtschaftsministers ordnungspolitisch von Freiburg fast so weit entfernt war wie Waitangi.

Die Revolution duldet keinen Aufschub

Als ich von dieser Agenda zum ersten Mal hörte, war ich einen Moment verdutzt: Wäre es vielleicht auch denkbar, die Wettbewerbscommunity einmal durchatmen zu lassen? Die 10. GWB-Novelle und der Digital Markets Act (DMA) sind gerade erst auf den Weg gebracht, zahllose EU-Rechtsakte werden gerade runderneuert. Wir könnten ja zunächst einmal Praxiserfahrungen sammeln und Aufsätze schreiben? Nein, das geht natürlich nicht. Eine Partei, die zum ersten Mal das Wirtschaftsministerium führt, hat einen Gestaltungswillen, der über den Koalitionsvertrag hinausgeht. Und, was wichtiger ist: Wir leben in revolutionären Zeiten. 

Pardon für das Wort, aber kleiner kann ich es nicht formulieren: Die Digitalisierung, vor allem die datenbasierte Vernetzung, hat die Wirtschaft nach inzwischen allgemeiner Meinung so umgekrempelt wie der mechanische Webstuhl die britische Wirtschaft und Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Die Globalisierung, die seit dem Zusammenbruch des Ostblocks analysiert wird, hat sich von charmanter Völkerverständigung zu gnadenlosem Systemwettbewerb entwickelt. Die Klimakatastrophe schließlich stellt die Grundlagen des kapitalistischen Wirtschaftens komplett in Frage.

Würde das überkommene Wirtschaftsrecht darauf noch angemessene Antworten liefern, wäre das schon sehr erstaunlich. Mit den jüngsten Reformen können wir schwerlich behaupten, wir hätten jetzt die Hausaufgaben erledigt – wir haben in einem wichtigen Teilbereich das regulatorische Puzzle begonnen. Dabei sind in überschaubarer Zeit Rechtsakte geglückt, die durchaus revolutionären Geist atmen. Dass solche Rechtsakte überhaupt noch möglich sind, hatten viele den Parlamenten und Entscheidungsträgern in Berlin und Brüssel gar nicht mehr zugetraut. Schon insofern sind beide Rechtsakte ein Erfolg. Aber sie sind auch davon gekennzeichnet, dass viele Details geregelt werden, die übergreifenden Prinzipien aber noch fehlen – gerade beim DMA. Da ist der Impuls sehr willkommen, noch einmal grundlegend über Wettbewerbspolitik nachzudenken.

Zwei Schritte

Was bedeutet eine Wettbewerbspolitik, die sich heute explizit an den Ordoliberalen orientieren will?

Eucken, Böhm und Großmann-Dörth fordern 1936 zunächst die Hinwendung zu einem tatsachenbasierten Vorgehen:

„Konkrete Probleme sind es, die bewältigt werden müssen.“

Die Hinwendung zu den „Erfordernissen der Sache selbst“ ist eine Mahnung an die Wissenschaft (und natürlich auch die Politik), an Problemen zu arbeiten, statt an Begriffen zu kleben oder sich ideologisch festzufahren. Diese Tatsachenbasierung birgt allerdings die Gefahr, dass die normative Kraft des Faktischen sich durchsetzt. Wirtschaftliche Tatsachen, so der Befund der drei Gründer, werden von Juristen zu oft als unabänderlich hingenommen. 

Wer das liest und sich in den letzten Monaten mit Fragen der digitalen Regulierung befasst hat, muss meinen, Eucken und seine Mitstreiter hätten als „Unsere Aufgabe“ diejenige der Digitalregulierung umrissen. Gelegentlich konnte man beim Digital Markets Act die Arbeit am konkreten Problem ebenso vermissen wie eine Diskussion, die sich nicht in Ideologie oder schlichtem Festhalten am Status quo erschöpfte. Für die Nachhaltigkeitsdebatte im Kartellrecht deutet sich gelegentlich Ähnliches an.

Die konkrete Problemlösung muss aber, zweiter wesentlicher Schritt in „Unsere Aufgabe“, immer im Rahmen der Wirtschaftsverfassung erfolgen:

„Die Wirtschaftsverfassung ist als eine politische Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens zu verstehen. Nur die Ausrichtung an dieser Idee gibt die Handhabe, wirklich zuverlässige und schlüssige Grundsätze für die Auslegung vieler Teile des öffentlichen oder privaten Rechts zu gewinnen.“

Die Wirtschaftsverfassung gibt also den Rahmen vor. Der Gedanke einer Wirtschaftsordnung muss bei jedem einzelnen wirtschaftspolitischen Schritt mitgedacht werden. 

Wirtschaftsordnung als Verfassung

Walter Eucken hat später konstitutive Prinzipien der Wirtschaftsordnung entwickelt, ich gehe darauf noch ein. Interessant scheint mir aber, dass in diesem interdisziplinären Programm der Begriff der Verfassung eine zentrale Rolle spielt. Selbst Eucken, der Ökonom, nimmt diesen Begriff immer wieder auf. Der Rechtsstaat ist ein wesentlicher Baustein seiner ökonomischen Theorie. 

Mit der Bezugnahme auf die Verfassung weist Eucken in einen weiten intellektuellen Bezugsraum – er meinte nicht die konkrete Verfassung des Grundgesetzes oder der Weimarer Reichsverfassung. Ihm geht es um die „Gesamtentscheidung über die Ordnung des Wirtschaftslebens eines Gemeinwesens“. Für diese Entscheidung, die Interdependenzen zu „allen übrigen Lebensordnungen“ aufweist, werden die „geistigen Wurzeln“ der Freiburger Schule relevant (der Präsident der Schweizer Wettbewerbskommission, Andreas Heinemann, hat vor vielen Jahr darüber geschrieben). Eucken war der Sohn eines Literaturnobelpreisträgers, Böhms Vater war Kultusminister in Baden, seine Schwiegermutter die Schriftstellerin Ricarda Huch. Diese großbürgerlichen Herren waren in Kunst und Kultur verwurzelt. Sie hatten Adam Smith gelesen, aber auch Immanuel Kant und ihren Goethe. Recht und Religion, Kunst und Kultur – allerlei Vorverständnis – schwingt in den Arbeiten der Ordoliberalen mit.

Die Verkehrswirtschaft zieht er nicht nur aus purer Effizienz der Planwirtschaft vor. Für ihn ist es selbstverständlicher Teil der Freiheitsausübung, sich in seinen wirtschaftlichen Belangen zu entfalten. Wie bei Friedrich von Hayek, ab 1962 Freiburger Ökonomieprofessor, der manchen Staub vom ordoliberalen Programm pustete, ist auch für Eucken der „Weg zur Knechtschaft“ (Hayek) eine Schreckvorstellung. Bei Eucken heißt es, ganz ähnlich, „Tendenz zur Staatssklaverei“. 

Menschenwürde als Ausgangspunkt

Wenn ich auf die Wirtschaftsverfassung heutiger Prägung blicke, wird der Ausgangspunkt deutlich, der heute die Wettbewerbspolitik bestimmen muss. Art. 1 der Grundrechte-Charta ebenso wie Art. 1 des Grundgesetzes stellen die Menschenwürde ins Zentrum. Dass die Menschenwürde so selten in der wettbewerbspolitischen Diskussion eine Rolle spielt, ist ein überraschendes Versäumnis. Sie ist der Fixpunkt der Wirtschaftsverfassung unserer Zeit. Erst in jüngster Zeit wurde sie die Menschenwürde als Thema des Wirtschaftsrechts wiederentdeckt, als die Praktiken der GAFA-Unternehmen auf dem Prüfstand standen. Der BGH-Beschluss im Facebook-Verfahren, der die Selbstbestimmung des Einzelnen im digitalen Zeitalter betont, ist in dieser Hinsicht von ordoliberalem Denken geprägt. 

Wenn sich das BMWK der Ordnungspolitik verschreibt, dann ist das Wirtschaftspolitik im Dienst der Menschenwürde. Das mag nach Sonntagsrede und Moral klingen. Wer wollte schon widersprechen, wenn gefordert wird, „der modernen industrialisierten Wirtschaft eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung“ (Eucken) zu geben? Wenn das allerdings bedeuten soll, Kinderarbeit zu stoppen, kommt der Konsens rasch an seine Grenzen. Die Auseinandersetzungen um das Lieferkettengesetz zeigen, welches Konfliktpotenzial in einer derartigen Wirtschaftspolitik schlummert. Beim Lieferkettengesetz blieb – in der vorhergehenden Bundesregierung – das Wirtschaftsministerium äußerst vorsichtig. Wäre das heute anders?

Konstitutionalisierung der Wirtschaftspolitik ist rechtliches Gebot, in der EU ebenso wie in Deutschland. Dass sie dem Kartellrecht bislang weitgehend fremd blieb, ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Wettbewerbspolitik bislang eher als unzuständig für die globale Wirtschaftsproduktion und die zukünftigen Lebensverhältnisse betrachtete. Das liest sich in der Agenda nun anders: „Gerechte Globalisierung“ ist das Schlagwort dazu, Menschenrechte werden ausdrücklich als Thema des Nachhaltigkeitsdiskurses benannt. Das Postulat der intergenerationellen Gerechtigkeit, das das Bundesverfassungsgericht in seinem Klimaschutzbeschluss aus der Verfassung gelesen hat, ließe sich ohne weiteres auch als eine Frage der Menschenwürde konstruieren. 

Die grüne Transformation

Damit ist das Hauptthema aufgerufen, für das das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz eigens umbenannt wurde. Es geht dem neuen Minister und seinem Team um die Transformation hin zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Die Wettbewerbspolitik wird von diesem Paradigmenwechsel erfasst. In der Agenda heißt es:

„Die Klimakrise erfolgreich in immer knapper werdender Zeit zu bekämpfen und die Transformation unserer Wirtschaft zu meistern, erfordert auch einen modernen, effizienten und investierenden Staat sowie die Mobilisierung aller privaten und öffentlichen Kräfte im gemeinsamen Interesse. Diese Transformation ist die „Mondlandemission“ unserer Generation. Dabei nutzen wir markt- und wettbewerbskompatible Instrumente – wie beispielsweise Klimaverträge (Carbon Contracts for Difference), um Innovation und deren Diffusion zu fördern. Ordnungspolitik ernst nehmen heißt daher, über die erfolgreichen Wettbewerbsregeln hinaus den Ordnungsrahmen einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft um regelgebundene und effektive Instrumente zu ergänzen.“

Ich bin nicht sicher, ob es Eucken ähnlich formuliert hätte. Der „investierende Staat“, „die Mobilisierung aller privaten und öffentlichen Kräfte im gemeinsamen Interesse“ – das weicht doch von der Idee einer Rahmenordnung ab, die die Wettbewerbskräfte entfesselt. 

Die Träger der Wirtschaftspolitik

Was die privaten Kräfte angeht, so ist aber in der Wettbewerbspolitischen Agenda durchaus ein Ansatz dafür erkennbar, dass Franz Böhms „Privatrechtsgesellschaft“ nicht vergessen ist: Die private Rechtsdurchsetzung soll gestärkt werden (siehe Punkt 2 der Agenda), die Gesetzgebung soll partizipativ und transparent verlaufen. Und es gibt einen weiteren schönen Satz, den man geradezu ausdrucken und im Deutschen Bundestag aufhängen will:

„Ordnungspolitik bedeutet auch, unnötige Privilegien und Subventionen zugunsten durchsetzungsstarker Partikularinteressen abzubauen.“

Wen die Autorinnen und Autoren dieses Papiers als die Vertreter „durchsetzungsstarker Partikularinteressen“ ansehen, darüber darf spekuliert werden. Möge sich jeder selbst sein Bild machen, auf wen das BMWK bei der laut Ziffer 2 der Agenda geplanten Evaluation des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen hören sollte.

Walter Eucken identifiziert mit aller Deutlichkeit, wer die Wettbewerbsordnung trägt, und wer ihr im Wege steht. Die Träger – das sind die Einzelnen. Nicht als Egoisten, sondern als selbstbestimmte Menschen, die sich in Freiheit und Verantwortung im Gemeinwesen verhalten. Auf der Gegenseite sieht Eucken „die Leiter von Konzernen und Syndikaten und Gewerkschaften, Funktionäre von monopolistischen Gruppen aller Art und die ganze Bürokratie, die in diesen Gruppen arbeitet“. Aus Euckens Zeilen spricht – selbst bei seinem nicht gerade unpathetischen Stil – ein wunderbarer Groll gegen diese „eigenartig zusammengesetzte Gruppe“. 

Es kommt auf die Privaten an und auf die Unternehmer – das ist eine gute Nachricht für die Wettbewerbscommunity.

Marktkompatible neue Instrumente

In erster Linie will das BMWK für die grüne Transformation „markt- und wettbewerbskompatible Instrumente“ nutzen. Carbon Contracts for Difference (gelegentlich auch „Klimaschutzverträge“ genannt) gelten insoweit offenbar als beispielhaftes Modell. Contracts for Difference werden solche Verträge genannt, bei denen Preisschwankungen ausgeglichen werden, sodass das Investitionsrisiko geringer wird. Für den Klimaschutz springt – wer sonst – der Staat als ausgleichender Vertragspartner ein, wenn eine CO2-schonende Technologie zunächst mit hohen Investitionen verbunden ist, die aber später – etwa durch geringere Kosten für CO2-Zertifikate – wieder eingespielt werden. Der Staat bezuschusst die Entwicklung, indem die Kosten über einem Benchmark-Preis übernommen werden. Dafür muss das Unternehmen dann, wenn sich die Investition (z.B. in eine neue Technologie) rentiert, bei einer Abweichung vom Benchmark-Preis nach unten zurückzahlen. Kurz gesagt: Es handelt sich um eine Art Anschubfinanzierung des Staates für klimafreundliche Technologien, bei denen darauf spekuliert wird, dass sich die Investition nach einer Weile rentiert.

Das klingt intelligent, ist es vielleicht sogar. Aber letztlich ist es auch nichts anderes als eine Subvention für grüne Technologien in Branchen, die sich schwer tun, weil sie lange davon gelebt haben, Umweltkosten zu produzieren, ohne dafür haften zu müssen.

Euckens Prinzipien der Wettbewerbsordnung

Sind die Vorschläge zur grünen Transformationen kompatibel mit Eucken? Seine Wettbewerbsordnung ist durch acht konstitutive Prinzipien charakterisiert. Erstens, das Preissystem vollständiger Konkurrenz: 

„Die Hauptsache ist es, den Preismechanismus funktionsfähig zu machen.“

Das Vertrauen auf den Preismechanismus zieht, zweitens, die Stabilität des Geldwerts als Prinzip nach sich. Drittens setzt Eucken auf offene Märkte. Marktzutrittsschranken, Monopole und Kartelle müssen bekämpft werden. Eucken fordert viertens die Anerkennung und den Schutz des Privateigentums und fünftens die Vertragsfreiheit. Das sechste Prinzip ist das der Haftung – darauf wird noch einzugehen sein. Schließlich verlangt er eine Konstanz der Wirtschaftspolitik und die gemeinsame Anwendung dieser Prinzipien.

Die Passage in der Wettbewerbspolitischen Agenda über die notwendige Transformation hin zur Nachhaltigkeit muss sich an diesen Prinzipien messen lassen. Die Anknüpfungspunkte sind da: Angedockt wird, etwa mit den Carbon Contracts, an den Handel mit Emissionszertifikaten. Dieser Mechanismus ist das Paradebeispiel für eine moderne Ordnungspolitik, da der Preismechanismus eingesetzt wird. Von staatlicher Zentralverwaltung hält sich der Vorschlag relativ fern, es wird auf Verträge gesetzt, das Privateigentum nicht angetastet. Die Transformation mit marktkompatiblen Instrumenten, im Sinne einer modernen Ordnungspolitik – das ist jedenfalls ein starkes Bekenntnis gegen eine von oben verordnete Verbots- oder Lenkungspolitik. Ohne den Markt wird die Revolution nicht zu schaffen sein. 

Wer den Schaden hat…

Dieser Markt muss allerdings stärker als bisher externe Kosten internalisieren: Umweltschäden dürfen nicht mehr der Allgemeinheit aufgebürdet werden, sondern müssen sich im Preis wiederfinden. Eucken hatte die Umweltproblematik noch nicht mit dem heutigen Bewusstsein im Blick, aber schon in seinem Aufsatz „Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung“ in ORDO 1949 hat er das Problem externer Effekte am Beispiel der Versteppung Amerikas erklärt:

„Man denke an die Zerstörung von Wäldern in Amerika, die den Boden und das Klima weiter Gebiete verschlechterte und zu einer Versteppung führte. Es geschah, weil in der Wirtschaftsrechnung des Waldbesitzers diese Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft nicht oder kaum zum Ausdruck kamen.“

Eucken sieht mit aller Schärfe, dass die Externalisierung von Kosten keineswegs eine Notwendigkeit ist. Der Ökonom verweist aufs 19. Jahrhundert, als man es hingenommen habe, dass es Kinderarbeit und ungenügenden Schutz gegen Arbeitsunfälle gegeben habe – was erst durch die Setzung von Regeln beseitigt oder gemildert worden sei. Diese Regeln internalisierten die Risiken bei denjenigen, die von Kinderarbeit und unsicheren Arbeitsbedingungen profitierten. 

Dass Risiken von demjenigen zu tragen sind, der den korrespondierenden Nutzen für sich verbucht, ist für Eucken eine Selbstverständlichkeit. Es ist das konstitutive Prinzip der Haftung:

„Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen.“

Wie gern möchte man das all denen entgegenrufen, die von Haftungsbeschränkungen profitieren oder hemmungslos auf Kosten der Allgemeinheit produzieren – und das als Marktwirtschaft zu labeln versuchen. Für Eucken ist das Haftungsprinzip eine grundlegende Gerechtigkeitsfrage und Ausdruck von Freiheit und Selbstverantwortung. Haftung ist zudem ein wesentliches Element der Wettbewerbsordnung:

„Den Unternehmen wurde zunehmend die Möglichkeit geboten, sich – z. B. durch Anwendung geeigneter Gesellschaftsformen und durch die allgemeinen Geschäftsbedingungen – der Haftung zu entziehen. Dadurch wurde die Konzentration gefördert und die Funktionsfähigkeit des Preissystems beeinträchtigt. Die Auslesemethode und Kontrolle durch Haftung wurde zurückgedrängt – ohne Ersatz.“

Ohne Haftung können sich Unternehmen, ohne an ihrer Leistung gemessen zu werden, weiter konzentrieren; ein Ausscheiden aus dem Wettbewerb wegen schwacher Performance findet nicht mehr statt. Wer in diesen Bahnen, die Eucken vorgezeichnet hat, denkt, wird rasch auf den Pfad zu einer nachhaltigen Wirtschaft kommen. Die Frage ist bloß, mit welcher Vehemenz der Gesetzgeber das Ausbeuten des Planeten oder anderer Menschen für Unternehmen mit einem Preisschild versieht.

Die soziale Frage

Dann freilich bleibt die Frage, wie der Ausleseprozess, den der Wettbewerb hervorbringt, sozial abgefedert werden kann. Beim Wiederlesen von Eucken ist es eine Überraschung für mich, wie sehr ihn die Lösung der sozialen Frage umtreibt. Für ihn ist es die „Zentralfrage menschlichen Daseins“! Was passiert mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wenn die Kohle-Betriebe geschlossen werden oder Roboter statt Menschen zum Einsatz kommen? Ich lese aus Euckens Ausführungen keine definitive Antwort, aber eine konsequente Hinwendung zur Wettbewerbsordnung, zur Förderung von Privateigentum, zur „Beweglichkeit der Arbeit“, zur „Stärkung der freien Initiative des Einzelnen“. Nur eine leistungsfähige Wirtschaft, so Eucken, kann auch diejenigen versorgen, die von Sozialleistungen abhängig sind.

Dass das Vertrauen auf Markt und Wettbewerb für die Lösung der sozialen Frage nicht ausreicht, ist Eucken mehr als bewusst. Er sieht eine „spezielle Sozialpolitik“ daher als selbstverständlichen Teil seiner Gesamtordnung. Dass der Graben zwischen Sozialpolitik einerseits und Wettbewerbspolitik andererseits heute unüberwindbar scheint, ist ein Verlust. Nach Eucken müsste jeder Wettbewerbspolitiker auch Sozialpolitiker sein (und umgekehrt).

Konstanz der Wirtschaftspolitik

Ein letzter Gedanke: Als siebten Punkt seiner konstitutiven Prinzipien mahnt Eucken an, die Wirtschaftspolitik müsse konstant bleiben. Er diskutiert diesen Aspekt vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass Unternehmen Investitionssicherheit benötigen. Die ohnehin große Unsicherheit an den Märkten würde durch eine sprunghafte Wirtschaftspolitik nur vergrößert. Zudem fördert, laut Eucken, die Unsicherheit die Konzernbildung und damit die Konzentration. 

Das Prinzip entpuppt sich vielleicht als größte Herausforderung in unserer Zeit. Schon bei „normaleren“ Umständen in der Twitterokratie ist man eine stringente, konsequente Politik mit Kompass ja kaum mehr gewohnt. Was muss erst jetzt gelten? Die neue Wirtschaftspolitik im Zeichen des Ordo, deren Renaissance drei Tage vor Kriegsbeginn ausgerufen wurde, muss sich noch als überlebensfähig erweisen. Der exogene Schock des Einmarschs in der Ukraine hat, zumindest für einige Tage, die ordnungspolitische Orientierung der Bundesregierung vollkommen in Frage gestellt. 

Walter Eucken wusste, was Krieg bedeutet. Er hat seine Prinzipien im vollen Bewusstsein konzipiert, dass der Mensch fähig ist, anderen Menschen ein Wolf zu sein. Seine Wettbewerbsordnung ist eine Friedensordnung. Ja, da bin ich mir doch sicher.

Rupprecht Podszun ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wettbewerbsrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Direktor des Instituts für Kartellrecht. Seit 2022 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft.

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