SSNIPpets (47): Voilà – le DMA

SSNIPpets (47): Voilà – le DMA

Endlich! Der Digital Markets Act #DMA ist da! Noch hat Rupprecht Podszun die kleine Schwester des EU-Kartellrechts nicht gesehen, aber er hat die ziemlich stolzen Eltern bei der Pressekonferenz erlebt. Zudem hat er Anmerkungen zum Krieg in der Ukraine und zu Gerichten, die ihren Job gut oder weniger gut machen. Hier sind seine SSNIPpets – small but significant news, information and pleasantries – our pet project!

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Zum Krieg

In anderen Zeiten wäre das die große Nachricht gewesen: Der Digital Markets Act kommt.

Aber die Zeiten sind nicht so wie sonst, leider. Der DMA findet irgendwo versteckt im Wirtschaftsteil der Zeitungen statt. Andere Nachrichten sind wichtiger – und erschütternder. Wenn ich mit der Brille des Kartellrechtlers auf den Krieg blicke, dann bewegt mich zunächst eine große Enttäuschung: Freier Handel, abgesichert durch Kartellrecht, Abkommen und WTO-Regeln, war für mich immer eine Friedensversicherung. Wer wirtschaftlich eng verflochten ist, schießt nicht aufeinander. Vielleicht war ich naiv.

Andererseits: Wäre Russland weniger vermachtet, hätte es dort ein stärkeres Kartellrecht gegeben, wäre Politik in einem freien, fairen Wettbewerb möglich gewesen, hätte es diesen Krieg wahrscheinlich nicht gegeben. Möglicherweise muss ich die Hoffnung, dass wirtschaftlicher und demokratischer Wettbewerb friedensstiftend wirkt, noch nicht ganz aufgeben.

Ein Lichtblick ist das Engagement für die Ukraine. Als mein Kollege (und Podcast-Partner) Justus Haucap kürzlich bei einigen Anwaltskanzleien anfragte, ob jemand eine geflüchtete ukrainische Kartellrechtlerin aufnehmen könne, kamen sehr schnell viele Zusagen.

Abhängigkeiten

Die deutsche Reaktion auf die Invasion ist determiniert von einer Energiepolitik, die sich über die Jahre in unerträgliche Abhängigkeiten verstrickt hat. Abhängigkeit – das bedeutet bekanntlich fehlende Ausweichmöglichkeiten. Die Verhaltensspielräume der überlegenen Seite sind bei Abhängigkeit kaum zu kontrollieren. Das Analysebesteck haben wir.

Wenig hilfreich ist aus wettbewerblicher Perspektive, dass das Thema Spritpreise in Deutschland immer noch dazu taugt, um jegliches ordnungspolitische Verständnis an der Kasse abzugeben und selbige zu plündern. Das ist aber natürlich nur einer der kleinen Kollateralschäden, die wir hinnehmen.

Wettbewerblich interessant wäre jetzt eine Sektoruntersuchung auf Rüstungsmärkten. Ich muss gestehen, dass ich mich mit diesen seit der Ministererlaubnis Daimler/MBB 1989 nicht mehr beschäftigt habe, und damals wusste ich nicht einmal, wofür die Abkürzung GWB steht. Im jüngsten Ministererlaubnis-Fall Miba/Zollern wurden allerdings rüstungspolitische Argumente als Gemeinwohlgrund vorgetragen. Der damalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat lieber auf die sanften grünen Argumente abgestellt, um die Ministererlaubnis zu rechtfertigen. Gleitlager für Windräder statt Gleitlager für Panzermotoren.

Weitere Infos zu Krieg & Kartellrecht:
Das ECN will Kooperationen, die etwa wegen der Disruption von Lieferketten notwendig werden, entsprechend des Covid-Frameworks großzügig behandeln.

ICN-Chairman Andreas Mundt hat die russische Kartellbehörde von der Mitwirkung am International Competition Network suspendiert.

Was aus dem Öl-Kartell OPEC geworden ist, schreibt die Wirtschaftswoche auf; was es zu den Tankstellenpreisen zu sagen gibt, hat mir Justus Haucap in einer Spezialfolge unseres Podcasts „Bei Anruf Wettbewerb“ erzählt.

Eugen Wingerter, Anwalt in Düsseldorf und Professor in Dortmund mit russischen Wurzeln, hat mir für die WuW ein berührendes Interview gegeben. Darin sprechen wir auch über die kartellrechtlichen Implikationen des Themas.

Ist Marktmacht per se ein Problem?

Auf bittere Weise führt die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas vor Augen, wie zerstörerisch Abhängigkeit ist. Über Jahre aber wurde uns eingehämmert, dass Marktmacht per se nicht problematisch sei, sondern nur der Missbrauch von Marktmacht. Ich habe das nie so recht verstanden. In jedem VWL-Lehrbuch steht doch unter Marktversagen: „Ursache Monopol oder monopolähnliche Strukturen“. Aber ich traute mich nicht so recht, das Mantra in Frage zu stellen, seit ich bei der Fordham Konferenz 2009 in den USA von einem Journalisten die Microsoft-Entscheidung des EuG unter die Nase gehalten bekam (literally!), verbunden mit der Frage:

„So do the Europeans say that market power as such is illegal???“

Das Beweisstück für diese aus Sicht des Fragestellers abstruse Auffassung sollte eine missverständliche Randnummer in der EuG-Entscheidung sein (die ich leider jetzt auf die Schnelle nicht mehr finde). Ich habe ihn damals bestimmt beruhigt.

Heute würde ich differenzieren: Der Missbrauch von Marktmacht ist kartellrechtlich untersagt. Das bedeutet noch nicht, dass Marktmacht als solche wettbewerbsökonomisch unproblematisch ist, insbesondere wenn sie in Form eines Monopols daherkommt. Das wiederum bedeutet nicht, dass jedes Monopol zerschlagen und jede Marktmachterreichung unterbunden werden muss. Aber das Mantra, so sind Mantras, hat unseren Blick darauf verstellt, dass es für eine funktionierende Marktwirtschaft nicht genügt, nur Missbräuche nachzuweisen. Was ja, bekanntermaßen, schwierig genug ist.

Vielleicht ist Abhängigkeit der bessere Begriff als Marktmacht. Er bringt deutlicher zum Ausdruck, dass es beim Schutz des Wettbewerbs um Freiheit geht. Eine Freiheit, die Deutschland jetzt in der politischen Reaktion auf den russischen Angriffskrieg fehlt.

DMA – die stolzen Eltern

Das war jetzt ein etwas längerer Anlauf zum DMA. In den Trilogverhandlungen gelang am 24.3.2022 kurz vor Mitternacht der Durchbruch, die Einigung auf einen Text. Der Text (der D’Kart noch nicht vorliegt) muss jetzt noch redaktionell überarbeitet, durch die drei EU-Verhandlungspartner – Rat, Kommission, Parlament – offiziell bestätigt und sodann veröffentlicht werden. Sechs Monate später ist der DMA anwendbar. Sodann haben Unternehmen drei Monate Zeit, ihren Gatekeeper-Status anzumelden, die Kommission wiederum hat maximal 60 Tage, um das Unternehmen als Gatekeeper einzustufen. Kurzum: Wenn alles glatt läuft, sehen wir die ersten Auswirkungen des DMA im Frühjahr 2023. Aber wann läuft schon mal alles glatt?

Die EU tritt dann in eine neue Phase: Es bricht die Ära der Regulierung der digitalen Gatekeeper an. Ein Stück weit endet damit die Ära des Kartellrechts.

Der Digital Markets Act reguliert Unternehmen, von denen die meisten über 20 Jahre hinweg ziemlich ungestört von rechtlichen Regeln wachsen konnten. Diese Starthilfe für Google & Co. läuft nun aus. Das ist richtig so, denn längst sind zahllose Unternehmen und Verbraucher/innen in Abhängigkeiten von digitalen Ökosystemen geraten. Damit ist nicht immer ein Missbrauch von Marktmacht verbunden, aber oft ein Freiheitsverlust. (Menschen, die das nicht so empfinden oder sogar begrüßen, sind diejenigen, die im Supermarkt am Regal mit Convenience Food zugreifen und sagen: Das sieht ja sehr gesund aus!)

Bei der Pressekonferenz wurde der DMA von vier Akteuren vorgestellt: Andreas Schwab für das Europäische Parlament, das sich durch Hartnäckigkeit, viele Vorschläge und Schwabs Sachverstand auszeichnete; Margrethe Vestager und Thierry Breton für die Kommission; Cédric O, dem französischen „Secrétaire d’Etat chargé de la Transition numérique et des Communications électroniques“ für den Europäischen Rat. Thierry Breton vergab Noten für die Mitstreiter, alle kriegten eine glatte 1. Seine vorgesetzte Kommissions-Vizepräsidentin Vestager etwa musste sich von Breton als weltweit Beste im Kartellrecht belobigen lassen; er scheint sich da auszukennen. Breton selbst (der vorab übrigens eine Spotify-Playlist zum DMA veröffentlicht hatte) stellte sein Licht nicht unter den Scheffel und verwies darauf, dass er mit 28 oder 30, die Angabe variierte, schon ein Buch zum Thema geschrieben habe. Wahrscheinlich meinte er Softwar – La Guerre douce, ein Buch, das 1984 ein Bestseller wurde.

Inspired by the United States

Vor allem die Franzosen hatten Druck gemacht, und so sagte O bei der Vorstellung (natürlich auf Französisch):

„L’Europe, elle, est parfois caricaturée pour sa lenteur, pour sa bureaucratie.“

Dass man aber nun den Text so rasch verabschiedet habe, zeige doch, dass man auf der Höhe sei. Hm, hm. Europa schafft es also in überschaubarer Zeit (auch dieser Maßstab dürfte überprüft werden), neue Regulierung rauszuhauen. Digitale Spitzentechnologie haben wir zwar nicht, aber feine Regeln. (Ähnlich irritiert war ich kürzlich darüber, mit welchen Worten die Bundesregierung das neue Tesla-Werk als Symbol für Speed feierte; immerhin hatte Tesla das Werk auf eigenes Risiko ohne Genehmigungen errichtet.)

Die EU-Politiker/innen haben US-amerikanischen Lobby-Versuchen widerstanden. Was die GAFA-Konzerne an Lobbygeldern in Brüssel ausgegeben haben, und das war nicht gerade wenig, scheint sinnlos verbrannt. Allerdings sind wir ja geschult darin, das Counterfactual mitzudenken: Vielleicht wären die Regeln zu Fusionskontrolle, Zerschlagung, targeted advertising oder Datenkombination ohne US-Druck aus Wirtschaft und Politik noch deutlich härter ausgefallen?

Die Biden-Administration hatte ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem: Hier Gina Raimondo, Secretary of Commerce, die beständig gegen den DMA wetterte. Auf der anderen Seite FTC-Chefin Lina Khan, Präsidentenberater Tim Wu & Co., die selbst versprechen, Big Tech zu zähmen. Zu einem Treffen verschiedener agencies im September 2021 schrieb Wu, sie wollten

„boldly go where no antitrust agency has gone before”.

Der Satz ist gut formuliert, wie so vieles von Tim Wu, allerdings – wie mir ein hochkulturell geschulter Doktorand erklärte: Aus Star Trek gekupfert. Nun gut: Mit dem DMA stoßen wir tatsächlich in unbekannte Galaxien vor, die das Bundeskartellamt bei seinen Pionierfahrten bislang nur von Ferne gesehen hat.

Unklar ist, wie weit die Kartellbehörden jetzt noch gehen können. Selbst wenn § 19a GWB anwendbar bleibt, wie aus einer Pressemitteilung des Bundeskartellamts hervorgeht (und alles andere wäre auch ein Hohn gewesen!), wird faktisch doch eine gewisse Bedeutungsverlagerung stattfinden: Die Kommandozentrale der Sternenflotte liegt in Brüssel. Ich bin gespannt, wie Koordination, Amtshilfe und Ausgleich klappen, und ob sich das Bundeskartellamt wirklich vorerst aus der Digitalszene zurückzieht. Kann und will ich mir nicht vorstellen.

Ob es aber in Brüssel funktioniert, steht auf einem anderen Blatt, von dem wir noch weniger wissen als von dem Papier, auf dem der DMA ausgedruckt ist. (Gruß an Verbraucherschützer Miika Blinn, der mit einem Tweet über sein zerfleddertes DMA-Draft-Printexemplar zumindest mir ein Lachen entlockte – ich hab das Ding auch schon liebgewonnen!) Vizepräsidentin Vestager antwortete auf eine Frage, wie sich die Kommission nun die interne Organisation der Rechtsdurchsetzung vorstelle, das sei ja nun wirklich nur von sekundärem Interesse. Madam Vice President, you underestimate our geekiness!

Noch mehr US-Referenzen

Cédric O berief sich auf den Säulenheiligen des Progressive Antitrust, Louis Brandeis, und nannte den DMA ein Echo des Sherman Acts – gerade auch in seiner Verbindung von wirtschaftlichem und demokratischem Anspruch. Tom Wheeler, früherer Chef der US-amerikanischen Kommunikationskommission FCC, lieferte O den Slogan des Tages:

„Don’t break them up, break them open.”

(Wobei die Aufspaltung ja wohl auch im DMA noch nicht ganz vom Tisch ist.)

Ich lasse die weiteren Details in der Schublade, bis wir einen belastbaren Text haben – spekuliert wird schon genug, und die Aussagen auf der Pressekonferenz, etwa zu Befugnissen in der Fusionskontrolle, waren für unsere Fach-Community dann doch zu vage.

Letzte Beobachtung: Ratsvertreter O merkte an, er habe beim Trilog-Finale zum ersten Mal Leute von „inside the room“ in laufenden Verhandlungen twittern sehen. Das schien er einigermaßen befremdlich zu finden. Für deutsche Parteigremien ist der Mann definitiv nicht geeignet.

Next big thing: Data Act

Das Next Big Thing im Puzzle der Digitalregulierung ist der Digital Services Act, sodann steht der EU Data Act an, dessen Entwurf von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde. Ich bin mir sicher, dass eine Einigung schwieriger wird. Hier sind essentiell europäische Wirtschaftsinteressen betroffen. Es geht, wie es kürzlich ein Verbandsvertreter in einem Online-Talk formulierte, um die Frage, ob jetzt die deutsche Industrie auch noch ihr Tafelsilber herschenken müsse. Das war natürlich überspitzt, aber es ist schon etwas dran: Als Tafelsilber der Zukunft werden die Daten angesehen, die durch Produktnutzung generiert werden und damit ein riesiges Feld für verbundene Dienstleistungen und Sekundärmärkte eröffnen. Das Tafelsilber-Bild passt allerdings nicht, denn beim Tafelsilber sind die Eigentumsverhältnisse meist relativ klar: „Ursprünglich war Großtante Adelgunde (A) Eigentümerin des Tafelsilbers. Sie schenkte es dem Onkel Gotthold (G). Dieser wiederum vermachte es …“

Adelgundes Tafelsilber

Bei Daten, die durch die Nutzung eines Produkts generiert werden, ist gerade keine rechtliche Zuweisung gegeben. Sie gehören weder ursprünglich noch später irgendjemandem, und es ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass der Hersteller des Produkts automatisch auch Inhaber der Früchte der Nutzung des Produkts sein muss. In der dinglichen Welt fänden wir es ja auch eher eigentümlich, würde das Gartencenter, das den Apfelbaum verkauft hat, sagen: Die Äpfel gehören freilich uns.

Move the dial

Die Kartellrechtscommunity fiebert ja, soweit derzeit nicht positiv getestet – bzw. gerade dann, auf die ersten Großereignisse in Präsenz hin. Ein solches ist ohne Zweifel die von Cristina Caffarra und CRA organisierte Brüssel-Konferenz am Donnerstag, 31. März 2022. Beim Großaufgebot großer Namen auf dem Podium (von A wie Khan über M wie Mundt bis Z wie Coscelli) fällt nicht weiter auf, dass mein No-Name darunter geschmuggelt wurde. Ich darf 30 Minuten lang als Punching Ball Sparringpartner für Marc van der Woude dienen, den Präsidenten des EuG. Es wird um die Frage gehen, ob die europäischen Gerichte einer progressiveren Kartellrechtsanwendung im Weg stehen. Oder, in den Worten von Caffarra: „Will the courts help move the dial?“

CRA 2019

Wenn Zeit ist (also nicht), werde ich van der Woude fragen, wie er es findet, dass viele wichtige Themen sein Gericht gar nicht mehr erreichen. Drei Beispiele aus der Fahrzeugbranche:

  • Das durchaus umstrittene „Emissions Cartel“, in dem Innovationsbeschränkungen der Anlass für eine hohe Geldbuße waren, blieb ohne gerichtliche Überprüfung.
  • Das LKW-Kartell hat zwar zu vielen follow-on-Klagen auf Schadensersatz geführt. Von den betroffenen Unternehmen hat aber nur Scania die Kommissionsentscheidung angefochten, die übrigen haben gesettled. Scania war beim EuG erfolglos, wie wir nun wissen.
  • Zum dritten Beispiel: Später.

Die Gerichte können sich zu manchen wegweisenden Fällen und spannenden Rechtsfragen nicht mehr äußern, sei es weil die Unternehmen keine Lust auf eine jahrelange Odyssee durch die Justiz haben oder weil es für Behörden und Betroffene einfacher ist, Settlements oder Verpflichtungszusagen zu vereinbaren. Wer will’s ihnen verdenken? Trotzdem schade.

Entscheidung der Woche

Dennoch gibt es ja immer wieder auch Verfahren, die durchgezogen werden, nicht zuletzt im private enforcement. Hoch oben in meinen persönlichen Charts: Die Entscheidung des Kammergerichts zu § 20 Abs. 3a GWB. In diesem 2021 eingeführten Anti-Tipping-Paragraphen heißt es:

„Eine unbillige Behinderung (…) liegt auch vor, wenn ein Unternehmen mit überlegener Marktmacht auf einem Markt im Sinne des § 18 Absatz 3a die eigenständige Erzielung von Netzwerkeffekten durch Wettbewerber behindert und hierdurch die ernstliche Gefahr begründet, dass der Leistungswettbewerb in nicht unerheblichem Maße eingeschränkt wird.“

Ja, Freundinnen und Freunde des ORDO, da steht Leistungswettbewerb, ich weiß, das ist spektakulär, aber darum geht es mir gar nicht. Die Vorschrift eröffnet vor allem eine weitgehende Interventionsmöglichkeit. Das Kammergericht hat nun, als Oberinstanz zum LG Berlin, einen ersten Anwendungsfall in einem umfangreichen Hinweisbeschluss im einstweiligen Verfahren verbeschieden. Es geht um die Auseinandersetzung zwischen zwei Immobilienportalen. Das eine, Marktführer, bietet Maklern Rabatte, wenn diese ihre Angebote zu 95% auf den Websites der Marktführerin platzieren („List-All-Rabatt“) bzw. wenn sie ihre Angebote in den ersten sieben Tagen exklusiv auf den Websites der Marktführerin platzieren („List-First-Rabatt“).

Die Entscheidung ist aus mehreren Gründen lesenswert. Erstens zeigt sie auf, was Kartellrecht in der digitalen Welt leisten kann, ganz ohne DMA. Zweitens ist sie so klar begründet, dass es eine Freude ist, sie zu lesen. Da hat sich wirklich ein/e Berichterstatter/in die Mühe gemacht, das digitale Kartellrecht durchzuprüfen und sorgfältig aufzufächern. Wer einen Crashkurs zu Netzwerkeffekten oder kippenden Märkten braucht, ist hier richtig. Wenn man sich gerade durch eine mäandernde EuG-Entscheidung gequält hat, bei der man am Ende gar nicht mehr weiß, worum es überhaupt ging, weiß man die Klarheit dieser Entscheidung zu schätzen. Drittens: Als Wissenschaftler freut es mich, dass über die Anwendung der neuen Norm zwei herausragende Kollegen für die Parteien gegutachtet haben, die im Beschluss auch anständig gewürdigt werden, Heike Schweitzer und Thomas Ackermann.

Bei der Anwendung von § 20 Abs. 3a GWB liegt die Crux in der Frage, ob es irgendeine Begrenzung braucht. Sind angesichts des weitgehenden Wortlauts Type I-errors nicht programmiert? Das Kammergericht schreibt:

„In dem Wissen um die Schwierigkeit für Gerichte und Behörde, diejenigen Situationen zu identifizieren, in denen ohne Einschreiten ein sog. Tipping wahrscheinlich ist, (vgl. Schweitzer/Haucap/Kerber/Welker, S. 63 f.; Cetintas, WuW 2020, 446, 447), hat der Gesetzgeber sich für eine Erstreckung des Missbrauchsverbots in einer relativ frühen Phase der Gefahrenabwehr entschieden und die damit verbundenen Gefahren für den Wettbewerb bewusst in Kauf genommen.“

Mit anderen Worten: Mit der 10. GWB-Novelle sollte ein intensiveres Einschreiten auf solchen Märkten ermöglicht werden. Dann muss man als Gericht auch springen. Die Zeit der Type-I-error-Paranoia ist vorüber.

Kein Urteil ist ein gutes Urteil

Beim Bundesgerichtshof gibt es noch keinen neuen Vorsitzenden (m/w/d) für den Kartellsenat, obwohl Peter Meier-Beck ja nun schon seit 30.9.2021 im Ruhestand steckt (was absehbar war). N.N. steht in der Besetzungsliste des Senats. Vor Monaten hatte ich bei der BGH-Pressestelle nachgefragt, wie es steht. Antwort: „Derzeit ist noch nicht absehbar…“. Ob das noch gilt? Zunächst muss das Bundesministerium der Justiz jemanden zum Vorsitzenden Richter ernennen, sodann entscheidet das Präsidium des BGH, wer welchen Senat unter seine/ihre Fittiche bekommt. Einstweilen leitet Prof. Dr. Wolfgang Kirchhoff, in der Kartellrechts-Community bestens bekannt, die Geschäfte des Senats.

Kartellsenat des BGH, noch mit Peter Meier-Beck (1. Reihe, 2. v. r.)

Meier-Beck hat – befreit von den Fesseln des Amtes – der JUVE ein Interview gegeben. Meine Lieblingsstelle bezieht sich auf die Frage, ob er gern eine EuGH-Entscheidung im Connected Cars-Verfahren Nokia/Daimler (bitteschön: Beispiel Nr. 3) gesehen hätte. Die beiden Unternehmen stritten über Patentlizenzen und FRAND. Das LG Düsseldorf legte dem EuGH dazu spannende Fragen vor (Az. 4c O 17/19). Diese Vorlage hat sich jedoch durch einen Vergleich der Parteien erledigt. Ex-Richter Meier-Beck trauert der verpassten Gelegenheit für eine EuGH-Entscheidung nicht hinterher:

„Irgendeine Antwort hätten die Richter natürlich gegeben. Aber im Zweifel wäre die sehr vage ausgefallen, und dann hätten alle Experten das Nachdenken über eine angemessene Lösung des aktuellen Problems eingestellt. Stattdessen hätten sie sich – wie wir das bei dem EuGH-Urteil von 2015 im Fall Huawei/ZTE gesehen haben – auf die Auslegung des mehr oder weniger kryptischen neuen EuGH-Urteils gestürzt.“

Well said! Irgendwie ermutigend, dass ein Richter a.D. die Begrenztheiten der Justiz anerkennt.

Einen guten Start in eine neue Woche, die hoffentlich Besseres bringen mag als die letzten Wochen!

Rupprecht Podszun ist Direktor des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In dieser Woche ist er Global Law Professor an der KU Leuven. Immer informiert: Sie können unseren E-Mail-Newsletter hier abonnieren (bitte Spam-Folder prüfen und Abo bestätigen!)

Hinweis: Das Datum des Abschlusses der Verhandlungen wurde nachträglich auf Hinweis einer aufmerksamen Leserin korrigiert: Die Einigung gelang vor Mitternacht – und damit auf den Tag genau 18 Jahre nach Abschluss des Kommissionsverfahrens gegen Microsoft, siehe im Blog von Simonetta Vezzoso!

4 Gedanken zu „SSNIPpets (47): Voilà – le DMA

  1. I have a question about the decision of Berlin Higher Regional Court on Art 20 GWB. I wonder why the court refused to disclose the name of the claimant and respondent. Is there any relevant legal basis to justify the concealment?

      1. Thank you for your answer. In my opinion, for the sake of transparency and given the increasing role of interim orders in the context of digital market, the courts should disclose the name of the parties.

  2. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen dem Kartellrecht und dem Angriffskrieg Russlands ist die Spieltheorie.

    Johann von Neumann, der Begründer der Spieltheorie, hat lange Zeit bei der RAND Corporation in den USA geforscht und sich dort unter anderem mit der nuklearen Abschreckung befasst. Die RAND Corporation ist im Grunde der „Geburtsort“ der Spieltheorie (auch John Nash und Kenneth Arrow forschten dort). Die Theorie militärischer Abschreckung basiert im wesentlichen auf einem Beitrag von Herman Kahn aus dem Jahr 1960 mit dem Titel The Nature and Feasibility of War and Deterrence, der auch heute noch aktuell ist. Sowohl von Neumann als auch Kahn waren die Vorbilder für Dr. Strangelove im gleichnamigen Film des Regisseurs Stanley Kubrick (1964). Auch Thomas Schelling, der Kartellrechtlern vor allem wegen des Begriffs „fokaler Punkt“ (auch Schelling-Punkt) bekannt ist, war lange Zeit bei RAND tätig und hat gleich zwei wichtige Beiträge zur Abschreckung bzw. der Anwendung der Spieltheorie auf militärische Konflikte geliefert: The Strategy of Conflict (1960) und Arms and Influence (1966) geliefert.

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