Deutschlandpremiere: LG Dortmund zur Haftung von Konzernunternehmen

Deutschlandpremiere: LG Dortmund zur Haftung von Konzernunternehmen

Das Kartellschadensersatzrecht bleibt ein Dauerbrenner bei allen möglichen europäischen Gerichte. Mit besonderer Vorliebe beobachten wir, wer eigentlich in diesen Verfahren haften muss, wenn es um Konzernunternehmen geht. Christian Kersting und Hans-Markus Wagener berichten von einem neuen Urteil des LG Dortmund, einem der wichtigen deutschen Kartellgerichte, das diese Diskussion in Deutschland befeuern dürfte.

Die zivilrechtliche Haftung für Verstöße gegen das europäische Kartellrecht beschäftigt immer mehr nationale Zivilgerichte, die als Tatsacheninstanz über entsprechende Schadensersatzansprüche zu befinden haben. Dabei begegnet ihnen mit dem Kartellzivilrecht eine dynamische Materie, die zu einem großen Teil vom Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Recht geprägt ist, wobei der Grenzverlauf zwischen EU-Wettbewerbsrecht und nationalem Haftungsrecht nach wie vor nicht vollends ausbuchstabiert ist.

Zwar hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Rahmen einiger Vorabentscheidungsverfahren Stellung zu einzelnen rechtlichen Aspekten des Kartellschadensersatzrechts beziehen können. Dabei hat er zwar einige Fragen geklärt, häufig aber auch neue und zum Teil grundlegende Fragen aufgeworfen, wie etwa in Skanska die Frage, inwieweit der kartellrechtliche Schadensersatzanspruch materiell-rechtlich dem Unionsrecht zu entnehmen ist und ob dadurch nationales Zivilrecht und auch EU-Sekundärrecht verdrängt wird (dazu Kersting, WuW 2019, 290 ff.). Zudem ist die nationale Rechtsprechungspraxis in den Mitgliedstaaten nach wie vor weit vom Idealzustand verlässlicher Rechtssicherheit entfernt. Apropos Verlässlichkeit: Wenn man sich derzeit in Zusammenhang mit Rechtsprechungspraxis der nationalen Zivilgerichte zum Kartellschadensersatz auf irgendetwas verlassen kann, dann wohl am ehesten auf beständige Versorgung mit immer neuem Diskussionsstoff.

Dauerbrenner Passivlegitimation

Einen grundlegenden Streitpunkt markiert die Bestimmung des Personenkreises, auf den sich die zivilrechtliche Haftung erstreckt. Das kritische Potential dahinter betrifft speziell Konstellationen, in denen die gerichtliche Geltendmachung gegenüber einer (Konzern-) Gesellschaft erfolgt, die selbst nie Adressatin einer kartellbehördlichen Entscheidung im betroffenen Verstoßkomplex war, allerdings mit einer der feststellungsgemäß beteiligten Personen eine wirtschaftliche Einheit bildet.

Bislang wurde die somit aufgeworfene Frage der Passivlegitimität der einzelnen Rechtsträger eines Unternehmens im Sinne von Artt. 101, 102 AEUV jedenfalls von deutschen Gerichten (soweit ersichtlich) ausschließlich zu Gunsten der Beklagtenseite beurteilt. So lehnte das Landgericht Mannheim im vergangenen Jahr unter Verweis auf die angeblich fehlende Passivlegitimation zunächst die Haftung einer beklagten Gesellschaft für einen Kartellverstoß ihrer Schwester ab (LG Mannheim, Urt. v. 24.4.2019, 14 O 117/18 Kart = WuW 2019, 540). Aus demselben Grund wies das Landgericht München I eine Klage zurück, mittels derer die Ersatzpflicht einer Tochtergesellschaft für eine Zuwiderhandlung ihrer Mutter geltend gemacht wurde (LG München I, Urt. v. 7.6.2019 − 37 O 6039/18 = WuW 2019, 482).

Beide Gerichte verwiesen zur Begründung dieser rechtlichen Bewertung auf die fehlende Zurechenbarkeit des kartellrechtswidrigen Verhaltens der Schwester bzw. der Mutter zu der konkret beklagten Konzerngesellschaft. Da schließlich die Haftung für Fremdverhalten im Raum stünde, bedinge es der haftungsrechtliche Grundsatz der persönlichen Verantwortung, dass die Zuwiderhandlung der in Anspruch genommenen Person zurechenbar sein müsse. Das dafür speziell im kartellrechtlichen Bereich heranzuziehende Kriterium des bestimmenden Einflusses sei angesichts seines Einbahnstraßencharakters jedenfalls nicht geeignet, die Ersatzpflichtigkeit von gleich- bzw. nachgeordneten Gesellschaften zu begründen.

Dass diese rechtliche Wertung jedoch keinesfalls zwingend ist, zeigen die Entscheidungen anderer europäischer Zivilgerichte, die zu dem exakt gegenläufigen Ergebnis kommen, indem sie die Passivlegitimation beziehungsweise den einschlägigen Haftungsgrund schon in der Zugehörigkeit einer Gesellschaft zu einer verstoßbeteiligten wirtschaftlichen Einheit erkennen (für einen Überblick siehe Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 13 f. m.w.N.). In diesem Sinne mehrfach entschieden haben bis dato beispielsweise spanische Gerichte und sich insoweit auf die Rechtsprechungspraxis des EuGHs berufen (vgl. Wagener, NZKart 2019, 535 ff.).

Obiter Dictum des LG Dortmund

Mit dem Landgericht Dortmund hat sich nun erstmals ein deutsches Gericht im Zuge eines Obiter Dictum für die allgemeine Haftung von Konzerngesellschaften für Kartellrechtsverstöße der wirtschaftlichen Einheit ausgesprochen (LG Dortmund, Urt. v. 8.7.2020 – 8 O 75/19 Kart, hier abrufbar). Das Gericht merkt dazu in seinem Urteil an, „dass die kartellrechtliche Zuwiderhandlung der einzelnen Konzerngesellschaft vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Einheit auch für alle anderen Unternehmensteile ein Eigenverhalten im haftungsrechtlichen Sinne darstellt“ (zur Natur der Zuwiderhandlung als Eigenverhalten jedes einzelnen Rechtsträgers bereits Wagener, NZKart 2020, 238, 239; NZKart 2019, 535, 537).

Demgemäß sei ferner davon auszugehen, dass die allgemeine Ersatzpflicht einer Konzerngesellschaft unmittelbar in ihrer Zugehörigkeit zu einem verstoßbeteiligten Unternehmen im Sinne der Artt. 101, 102 AEUV begründet ist (in diesem Sinne bereits Kersting, ZHR 182 (2018), 8, 15 f.; Wagener, NZKart 2020, 238, 240 f.). Dazu verweist das Gericht ausdrücklich auf das Urteil des EuGHs in der Vorlagesache Skanska (EuGH, Urt. v. 14.3.2019, C-724/17 – Skanska; ausführliche Besprechung bei Kersting, WuW 2019, 290 ff.).

Zuletzt hatte ein spanisches Berufungsgericht dem EuGH Fragen zur zivilrechtlichen Haftbarkeit von Konzerngesellschaften vorgelegt (dort Rs. C-882/19 – Sumal; siehe dazu hier sowie Wagener, NZKart 2020, 238 ff.). Demnach bleibt abzuwarten, ob die noch ausstehenden Antworten aus Luxemburg endgültig für Klarheit in der Debatte um die Haftung der Rechtsträger einer wirtschaftlichen Einheit schaffen werden. Nichtsdestotrotz unterstreichen die Ausführungen des LG Dortmund, dass die bisherige deutsche Rechtsprechung zur Passivlegitimation von Konzerngesellschaften nicht Ausdruck einer eindeutigen Rechtslage ist, sondern vielmehr auf einer unterkomplexen Auseinandersetzung mit der unionsrechtlichen Kartellrechtsdoktrin beruht. Demgegenüber ist das LG Dortmund zum richtigen Ergebnis gekommen: jeder Träger einer wirtschaftlichen Einheit haftet für die von dieser begangenen Kartellrechtsverstöße.

Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale) ist Direktor des Instituts für Kartellrecht und Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Hans-Markus Wagener ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Kersting.

4 Gedanken zu „Deutschlandpremiere: LG Dortmund zur Haftung von Konzernunternehmen

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag, Herr Prof. Kersting! Und meinen Glückwunsch, dass diese — mindestens im deutschen Recht — maßgeblich von Ihnen entwickelte und vertretene Auffassung nun ihren Siegeszug durch die Rechtsprechung antritt!

    Ich habe nur ein Urteil eines deutschen Gerichts im Kopf, das in die Richtung einer Konzernhaftung geht. Das ist das Urteil des Kammergerichts zum Berliner Transportbeton-Fall. Dort hat das Kammergericht eine nicht bebußte Konzerngesellschaft über den Anscheinsbeweis mithaften lassen. Es hat allerdings nicht auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt, sondern darauf dass (1) diese Konzerngesellschaft unter der Leitung eines persönlich Betroffenen stand und (2) nach dem Bußgeldbescheid nahezu der gesamte Markt kartelliert war (WuW 2010, 189, 191).

  2. Ob Skanska so weit geht wie von Ihnen vermutet, ist nicht sicher. Dort hatten die kartellbeteiligten Gesellschaften ja versucht, durch Umstrukturierung der Haftung zu entgehen. Dann den Nachfolger haften zu lassen, ist ein Paradefall für den effet utile. Weshalb ein Geschädigter immer die gesamte wirtschaftliche Einheit als Schuldner erhalten sollte, ist weniger klar. Der EuGH wird schon auch die Folgen seiner Entscheidung bedenken.

    Aber klar, Sie liegen mit Ihrer Ansicht voll im Trend. Ich finde die Tendenz, mit dem effet utile nationale Haftungsstrukturen zu durchschlagen und nachzuholen, was die KOM sich bei der Kartellschadensersatzrichtlinie nicht getraut hat, schon fragwürdig.

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