AGENDA 2025: Das stumpfe Schwert

AGENDA 2025: Das stumpfe Schwert

Dieser Artikel ist Teil der D-Kart Spotlights: Agenda 2025. In diesem kommentieren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis einzelne Aspekte der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vorgelegten Wettbewerbspolitischen Agenda. Die schon erschienenen Beiträge finden Sie hier.

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Kernpunkt der 9. GWB-Novelle waren die Informations- und Offenlegungsansprüche, die die private Kartellrechtsdurchsetzung erleichtern sollten. Gerhard Klumpe beleuchtet, ob sich diese Instrumente bewährt haben und wo der Gesetzgeber nachbessern sollte.

Die wettbewerbspolitische Agenda des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bis 2025 behandelt in ihrem Zehn-Punkte-Papier „für nachhaltigen Wettbewerb als Grundpfeiler der sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ den in der aktuellen Gerichtspraxis hochrelevanten Aspekt der Kartellschadensersatzklagen eher stiefmütterlich. Allein in der Erläuterung zu Punkt 9 findet eine Reform der Kartellschadensersatzrichtlinie 2014/104/EU Erwähnung.

War der Kartellschadensersatz schon in der 10. GWB-Novelle nur Gegenstand geringfügiger, durch die bis dahin ergangene Rechtsprechung veranlasster Korrekturen (vgl. den Überblick bei Klumpe in Bien/Käseberg/Klumpe/Körber/Ost, Die 10. GWB-Novelle, Überblick vor Kapitel 4, Rn. 2), so darf dies ebenso wenig wie der Bericht der Kommission vom 14. Dezember 2020, der eine Evaluierung u.a. aufgrund mangelnden  Fallmaterials für verfrüht hielt, darüber hinwegtäuschen, dass die Notwendigkeit weiterer Reformen bereits offen zu Tage tritt.  

Dies zeigt sich vor allem im Hinblick auf die Informations- und Offenlegungsansprüche, welche als einer der Kernpunkte der 9. GWB-Novelle im Zuge der Richtlinienumsetzung im deutschen Recht eingeführt wurden. Die Einführung dieser bisweilen als „Discovery light“ bezeichneten Ansprüche, die in dieser Ausprägung Deutschland und den meisten kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen zuvor unbekannt waren, sollte dazu dienen, das bekannte Problem der Informationsasymmetrie zwischen den Beteiligten eines Kartellschadensersatzprozesses zu lösen. Insbesondere sollte potentiellen Klägern ein Instrument zur Erfüllung ihrer Darlegungs- und Beweislast an die Hand geben werden. Doch blieb die Performance bislang äußerst überschaubar, obwohl viele der derzeit an den Gerichten anhängigen Kartellschadensersatzklagen in den durch § 186 Abs. 4 GWB gezogenen zeitlichen Anwendungsrahmen fallen würden. 

Seinen Grund findet dies unter anderem darin, dass die Konzeption der Offenlegungsansprüche in vielerlei Hinsicht an den Bedürfnissen möglicher Geschädigter vorbeigeht und aufgrund der konkreten Ausgestaltung in der Praxis kaum nutzbar ist. Anders gewendet: Die Offenlegungsansprüche erweisen sich als ein reichlich stumpfes zudem noch schwer zu führendes Schwert.

Der sprichwörtliche Jedermann, nämlich die durch Kartelle geschädigten Verbraucher oder kleineren Unternehmen profitieren von Offenlegungsansprüchen praktisch überhaupt nicht. Diese potentiellen Klägergruppen sind aufgrund begrenzter Finanz- und infrastruktureller Mittel regelmäßig gar nicht in der Lage, größere Mengen von Daten tatsächlich selbst für ihre Rechtsverfolgung auszuwerten oder darauf spezialisierte Anwaltskanzleien oder Wirtschaftsprüfer zum marktüblichen Stundensatz damit zu beauftragen. Zudem hätten sie in der Rolle als Offenlegungsgläubiger nach § 33g Abs. 7 GWB die Kosten der Offenlegung zu tragen,wodurch die Informationsgewinnung für die meisten potentiellen Kartellgeschädigten endgültig unfinanzierbar wird, zumal aufgrund der gesetzlichen Konzeption vieles dafür spricht, dass den Offenlegungsschuldnern ein Vorschussanspruch oder jedenfalls ein Zurückbehaltungsrecht zuzubilligen ist (zum Ganzen schon Klumpe/Thiede NZKart 2017, 332, 337). Dass die Offenlegungsgläubiger schließlich in vielen Konstellationen auch die Kosten von Geheimnisschutzmaßnahmen, also insbesondere das durch die 10. GWB-Novelle in den Fokus gerückte Tätigwerden von Sachverständigen zu bevorschussen haben (vgl. ausführlich Klumpe/Thiede in Bien/Käseberg/Klumpe/Körber/Ost, Kapitel 4, C, Rn. 181 ff.), rundet das Bild ab.

Damit ist aber bereits ein großer Teil möglicher Kartellkläger aus dem Spiel oder anders gewendet: „Jedermann“ kann dieses Schwert gar nicht ergreifen.

Ein anderer, bislang in der Literatur (die Rechtsprechung hatte praktisch noch kaum Gelegenheit, sich zu äußern) wenig thematisierter Aspekt folgt aus der – in gleichsam überschießender Umsetzung der Richtlinie erfolgten – Gestaltung der Informations- und Offenlegungsansprüche als materiellrechtliche Anspruchsgrundlagen.

Der materiellrechtliche Offenlegungsanspruch kann bekanntlich sowohl isoliert nach § 33g Abs. 1 GWB als auch im Rahmen des Schadensersatzprozesses selber i.S.v. § 89b Abs. 3 GWB in Form einer Art von Stufenklage (wohl h.M., vgl. Klumpe/Thiede NZKart 2016, 471, 472 sowie ausführlich Preuß in: L/M/R/K/M, Kartellrecht, § 89b GWB Rn. 18 ff.) geltend gemacht werden. Beides führt im Falle der Offenlegungsanordnung zu einem selbständig vollstreckbaren Titel. Dies wirft aber nach allgemeinen prozessualen Regeln die Frage nach der Formulierung des Klageantrags beziehungsweise der exakten Abfassung des Tenors (s. dazu schon Preuß in: L/M/R/K/M, Kartellrecht, § 89b GWB Rn. 89 f.) auf die Herausgabe der Informationen unter Berücksichtigung des Geheimnisschutzes für das Gericht auf. Zudem stellt sich im nicht völlig fernliegenden Fall, dass der Offenlegungsschuldner Obstruktion betreibt, die Problematik der zwangsweisen Durchsetzung des Titels. 

Selbst wenn man hier im Rahmen der Antragstellung angesichts der Formulierungen in § 33g Abs. 2 GWB („wenn dieser die Beweismittel so genau bezeichnet, wie dies auf Grundlage der mit zumutbarem Aufwand zugänglichen Tatsachen möglich ist“) im Vergleich zu den üblichen Anforderungen des § 253 II ZPO großzügig sein will, treten spätestens bei der Abfassung des Urteilstenors die allgemeinen Regeln des Prozessrechts in den Fokus, wonach der Tenor grundsätzlich aus sich selbst heraus verständlich und hinreichend bestimmt sein muss, damit den Parteien und den Vollstreckungsorganen klar ist, welche Informationen oder Beweismittel unter Beachtung welcher Geheimnisschutzmaßnahmen herauszugeben sind. All dies ist im Urteilsausspruch jedoch kaum zu bewerkstelligen, weil das Gericht insbesondere schwerlich abschätzen kann, wie der Geheimnisschutz im Einzelnen auszugestalten wäre und auf welche der offenzulegenden Informationen er sich genau beziehen muss. Die gesamte Konzeption des § 89b Abs. 7 GWB zielt auch erkennbar darauf ab, dies erst im Rahmen der Offenlegung selber, also nachgelagert zum Urteil, einzelfallabhängig zu gestalten. 

Daher wird man sich spiegelbildlich zum Antrag auch im Tenor mit einer eher groben Bezeichnung der offenzulegenden Informationen (so auch Bornkamm/Tolkmitt in Langen/Bunte, Kartellrecht, 13. Aufl., Band I, § 89b Rn. 59) nebst eines Hinweises darauf, dass der Geheimnisschutz entsprechend § 89b Abs. 7 S. 2 GWB in die Hände eines Sachverständigen zu legen ist, begnügen müssen. Damit ist aber vorgezeichnet, dass der Rechtsstreit im Rahmen der Zwangsvollstreckung seine Fortsetzung nehmen wird, indem sodann darüber gestritten wird, ob die Herausgabe bestimmter Informationen/Beweismittel nun wirklich vom Urteilstenor erfasst sind, ober ob etwa durch einen Sachverständigen vorgeschlagene Geheimnisschutzanordnungen ausreichend oder zu weitgehend sind.

So unerfreulich dieser Umstand ohnehin schon wäre, so führt er, denkt man die Vorgehensweise im Rahmen der Zwangsvollstreckung einmal zu Ende, zu Ergebnissen, die bei der Schaffung materiellrechtlicher Herausgabeansprüche gewiss nicht bedacht wurden: 

Denn im Rahmen der Zwangsvollstreckung eines Titels nach § 89b Abs. 3 GWB auf Herausgabe lediglich bestimmbarer Beweismittel wäre es letztlich der Gerichtsvollzieher, der sich gleichsam auf die Suche nach diesen Beweismitteln, beispielsweise bestimmten elektronischen Dokumenten machen müsste (darauf hinweisend auch Bornkamm/Tolkmitt in Lange/Bunte, Kartellrecht, 13. Aufl., Band I, § 89b Rn. 58 f.). Zwar darf er sich dabei zulässigerweise geeigneter Hilfspersonen – also entsprechender Sachverständiger – bedienen, doch dürfte der Gerichtsvollzieher auch mit sachverständiger Unterstützung ohne stete Rückkoppelung mit dem erkennenden Gericht kaum in der Lage sein, die „richtigen“ Daten zu finden und nebenbei noch den notwendigen Geheimnisschutz in geeigneter Weise zu gewährleisten. 

Leider ist das urteilende Gericht hier mit Ausnahme der Vollstreckung von Auskunftsansprüchen, welche es nach § 888 ZPO selbst durchzuführen hat, gar nicht mehr am Zuge. Denn soweit die Herausgabe von Daten oder Beweismitteln zu vollstrecken wäre, hätte diese nach § 883 ZPO zu erfolgen. Sämtliche Rügen gegen das Vorgehen des Gerichtsvollziehers, sei es die Frage, ob bestimmte Daten unter den Urteilstenor fallen, sei es im Hinblick auf die Durchführung des Geheimnisschutzes mit Hilfe eines Sachverständigen oder in anderer Weise, wären aber über § 766 ZPO geltend zu machen und würden nach § 764 ZPO in die Zuständigkeit des Amtsgerichts als Vollstreckungsgericht fallen. Dass dies kaum sinnvoll und die materiellrechtliche Konzeption der Offenlegungsansprüche somit eine Fehlkonstruktion ist, liegt auf der Hand.

Abermals anders gewendet: Das für viele potentielle Kläger ohnehin nicht ergreifbare Schwert ist auch stumpf und unhandlich.

Zwar besteht auch die Option einer gerichtlichen Vorlageanordnung nach § 89b Abs. 1 GWB i.V.m. §§ 142, 144 ZPO innerhalb eines anhängigen Schadensersatzprozesses, bei der das den Kartellprozess führende Gericht das Heft in der Hand behielte. Doch setzt diese Option in Ansehung der herkömmlichen zivilprozessualen Regeln zu spät ein, hilft sie doch dem Kläger nicht bei der Erfüllung seiner Darlegungslast, im Rahmen derer er auch im follow on-Fall häufig genug für eine schlüssige Klage auf weitere, allein bei der Gegenseite vorhandene Informationen angewiesen sein wird. Dies gilt insbesondere bei den Fragen der Schadensentstehung und der Schadenshöhe, bisweilen aber auch, wenn es um die Darlegung der Erwerbsvorgänge selber, etwa über mehrere Marktstufen hinweg, geht.

Stellt sich die derzeitige Konzeption der Offenlegungsansprüche demnach als ungeeignet zur Überwindung der Informationsasymmetrie im Kartellschadensersatzprozess dar, so bleiben zwei Ansätze, über die bereits geschaffenen gesetzlichen Vermutungen der §§ 33a, 33c GWB hinaus gerade im Bereich der Schadenshöhe aus der Asymmetrie eine Symmetrie zu machen:

Ein erster Ansatz wäre insbesondere die Einführung einer Schadenshöhenvermutung (so jetzt auch Meier-Beck, Wiedemann-Festschrift S. 628). Andere Mitgliedsstaaten der EU, nämlich Ungarn, Lettland und Rumänien machen es bereits vor (vgl. dazu Klumpe/Weber NZKart 2021, 492, 495).

Ein zweiter, deutlich weitergehender, aber auch wirksamerer Ansatz wäre, den mit der Möglichkeit der Vorlageanordnung nach § 89b Abs. 1 GWB begonnenen Weg weiterzugehen. Denn diese Option, gepaart mit dem durch das Gericht ohnehin zu gewährleistenden Geheimnisschutz, beinhaltet bereits eine nicht zu unterschätzende Hinwendung zur Amtsermittlung. Dieser Weg könnte durch Schaffung einer eigenen, dem Amtsermittlungsgrundsatz – ergänzt um Mitwirkungspflichten der Parteien – unterworfenen Verfahrensordnung weiter gegangen werden (Klumpe/Thiede in Bien/Käseberg/Klumpe/Körber/Ost, Kapitel 4, C, Rn 150). 

Eine solche Verfahrensordnung, deren Blaupause das von ähnlichen Problemkonstellationen gekennzeichnete Spruchverfahrensgesetz liefern könnte (vgl. dazu Klumpe NZKart 2019, 405, 406 und Kersting im Blog hier), ließe sich recht einfach in die Verfahrensvorschriften der §§ 87 ff. GWB implementieren. Der Königsweg bliebe insoweit der große Wurf in Form der Konzentration sämtlicher ein Kartell betreffender Schadensersatzverfahren an einem einzigen erstinstanzlichen Gerichtstand. 

Festzuhalten bleibt, dass die „Discovery light“ de lege lata jedenfalls auf der Kostenseite sowie auch in ihrer verfahrenstechnischen Ausarbeitung misslungen ist. Angesichts der großen praktischen Bedeutung von Kartellschadensersatzverfahren sollte die Überarbeitung dieser Vorschriften beziehungsweise die Arbeiten an einer Reform der Schadensersatzrichtlinie kein untergeordneter Punkt auf der Agenda 2025 bleiben.

Dr. Gerhard Klumpe ist Vorsitzender Richter am Landgericht Dortmund und Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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