Doppelte Bescherung: Zu DMA und GWB10

Doppelte Bescherung: Zu DMA und GWB10

Zum Jahresende meinen es die Gesetzgeber noch einmal gut mit der Kartellrechts-Community: Die Europäische Kommission veröffentlichte ihren Entwurf zum Digital Markets Act rechtzeitig zur Weihnachtspause. Der Deutsche Bundestag hingegen lässt der EU den Vortritt: Seine Mitglieder sind über die GWB-Novelle noch einmal ins Grübeln geraten und haben sie nicht vor Weihnachten verabschiedet. Dr. Thomas Lübbig und Ole Schley blicken auf die Hintergründe.

2020 war ein Jahr, in dem „Big Tech“ kartellrechtlich einiges zugemutet wurde. Nahezu im Wochentakt eröffneten Wettbewerbsbehörden rund um den Globus neue Verfahren. In der EU steuerte alles auf den Höhepunkt zum Jahresende zu, die Vorstellung des Verordnungsentwurfs zum Digital Markets Act (DMA-E) durch die Vizepräsidentin der Europäische Kommission, Margrethe Vestager, und ihren Kommissarskollegen Thierry Breton. Noch im Sommer 2020 war nicht weniger als ein New Competition Tool (NCT) angekündigt worden, um das altehrwürdige Kartellrecht fit zu machen für die digitale Zukunft. 

Nach einigen Verzögerungen war es am 15.12.2020 dann so weit, und das Ergebnis darf als Überraschung bezeichnet werden. Das NCT ist zwar nach Aussage der Wettbewerbskommisssarin Margrethe Vestager bei der begleitenden Pressekonferenz in den DMA-E integriert worden. Der Gesetzesentwurf sieht auch Durchsetzungsbefugnisse vor, die nicht nur ein wenig an die kartellrechtlichen Instrumente der VO 1/2003 erinnern. Erwähnung findet das NCT im Verordnungsentwurf selbst indes nicht mehr; stattdessen macht der nunmehr allein auf die Binnenmarktkompetenz des Art. 114 AEUV gestützte DMA-E deutlich, kein Kartellrecht im klassischen Sinne zu sein und auch nicht sein zu wollen.

Ein neuer regulierungsrechtlicher Ansatz

Zu behäbig, zu einzelfallbezogen, zu wenig effektiv – für die bisherige kartellrechtliche Praxis zu Art. 102 AEUV im digitalen Sektor finden die Begleitmaterialien zum DMA-E nicht nur lobende Worte. Deshalb soll es nunmehr zu dem Paradigmenwechsel im Enforcement kommen, über den im Vorfeld der Veröffentlichung viel spekuliert worden war. 

Gatekeeper – im Unionsdeutsch die „Torwächter“ – und teils auch ihre möglichen Nachfolger oder Epigonen, die „emerging gatekeepers“, sollen nicht mehr nur einer einzelfallbezogenen ex-post-Betrachtung am Maßstab der Missbrauchskontrolle unterworfen werden, sondern einem umfassenden ex-ante-Ansatz. Werden sie aufgrund der in Art. 3 DMA-E näher umrissenen Kriterien durch einen Verwaltungsakt der Kommission als Gatekeeper eingeordnet, unterliegen sie den weitergehenden Anforderungen der Art. 5, 6 DMA-E. Bestimmte Verhaltensweisen sind ihnen dann von Gesetzes wegen verboten, etwa das sog. Self-Preferencing eigener Dienste gegenüber denen der Konkurrenz. 

Quelle: Screenshot von https://ec.europa.eu/info/strategy/priorities-2019-2024/europe-fit-digital-age/digital-markets-act-ensuring-fair-and-open-digital-markets_en

Interessant ist nun die Frage, welches Rechtsgut der DMA-E schützen soll. Da die Kommission gerade nicht Art. 103 AEUV als Rechtsgrundlage gewählt hat, wäre der Schutz des Wettbewerbs im Sinne des klassischen Kartellrechts nach den Art. 101 f. AEUV, wie ihn Kartellrechtler kennen und schätzen, wohl eher ein Reflex des neuen Regelwerkes. Schutzgut des DMA-E ist vielmehr eine neue Begrifflichkeit, welche man mit „Marktoffenheit“ übersetzen könnte. Letztlich geht es um die jederzeitige „Angreifbarkeit“ bestehender Marktpositionen. In Erwägungsgrund 10 DMA-E heißt es dazu: 

This Regulation [aims] to ensure that markets where gatekeepers are present are and remain contestable and fair, independently from the actual, likely or presumed effects of the conduct of a given gatekeeper.“ 

Ziel ist also, ein sektorspezifisches Regulierungsrecht zu schaffen, wie es etwa im Telekommunikationssektor bereits existiert. 

Und was wird nun aus dem Kartellrecht?

Die Europäische Kommission beeilt sich, in Erwägungsrund 9 des Entwurfstexts zu versichern, die neue Gatekeeper-Regulierung sei „komplementär“ zur Anwendung des europäischen wie auch des nationalen Kartellrechts, und überhaupt erfolge die Anwendung dieser Regelungen „unbeschadet“ des DMA. Auch Art. 1 Abs. 6 DMA-E greift diese Formulierung auf. 

Doch der Teufel könnte im Detail stecken. Denn Art. 1 Abs. 5 S. 1 DMA-E, die begleitenden Materialien und nicht zuletzt auch die gewählte Ermächtigungsgrundlage machen klar, dass im Anwendungsbereich der Gatekeeper-Regulierung eine Vollharmonisierung angestrebt wird: 

Member States shall not impose on gatekeepers further obligations by way of laws, regulations or administrative action for the purpose of ensuring contestable and fair markets.“

Eine Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 entsprechende Klausel, die im Kartellrecht die Anwendung strengerer Vorschriften des nationalen Rechts zum Marktmachtmissbrauch gestattet, sucht man vergebens.

Die Kommission erachtet offensichtlich Insellösungen, wie sie entstehen könnten, wenn nationale Regelungsregimes an die Gatekeeper verschärfte Anforderungen stellen, als Gefahr für den digitalen Binnenmarkt und auch als einen Grund für die vergleichsweise geringe Anzahl europäischer Digitalkonzerne (Lübbig, NZKart 2020, 494 (495); SWD 2019, 444 final, S. 45 ff.). 

In letzter Konsequenz könnte dies bedeuten, dass abweichende, vor allem strengere nationale Ansätze zur Regulierung von Plattformen nur noch einen begrenzten Anwendungsbereich für nationale Gatekeeper haben könnten. Die Europäische Kommission jedenfalls scheint sich (erst einmal?) auf dieses Szenario vorzubereiten. Sie geht davon aus, dass für die Durchsetzung des DMA eine Einheit mit 80 Vollzeitkräften zur Gatekeeper-Regulierung aufgebaut werden soll. Ein System paralleler Zuständigkeiten, wie es das Kartellrecht im Verbund nationaler und europäischer Wettbewerbsbehörden kennt, ist bisher nicht vorgesehen.

Mögliche Auswirkungen auf die 10. GWB-Novelle

Diese Überlegungen führen aus Brüssel nach Berlin und dort zur 10. GWB-Novelle, dem „GWB-Digitalisierungsgesetz“. Bekanntlich sind auch in diesem Gesetzeswerk eine Reihe neuer Vorschriften zur Plattformökonomie vorgesehen, die etwa „Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“ (§ 19a GWB-E), das Konzept der Intermediationsmacht (§ 18 Abs. 3b GWB-E) und einen Eingreiftatbestand zur Vermeidung des sog. Tipping von Märkten (§ 20 Abs. 3a GWB) betreffen. Welchen praktischen Anwendungsbereich diesen Normen noch beschieden sein wird, wird maßgeblich davon abhängen, wie die konkreten Zuständigkeiten des DMA-E im weiteren Gesetzgebungsverfahren unter der Beteiligung des Europäischen Parlaments, des Rats und der Mitgliedstaaten ausverhandelt werden – und vielleicht auch davon, wie die Zuständigkeit innerhalb der Kommission zwischen den bisher beteiligten Generaldirektionen Competition, Grow und Connect schließlich verteilt werden.

Auswirkungen auf die 10. GWB-Novelle zeigen sich indes schon jetzt. Die eigentlich für den 17.12.2020 geplante abschließende Beratung im Bundestag wurde kurzfristig abgesetzt. Zwar lag der unmittelbare Anlass der Verschiebung wohl in verfassungsrechtlichen Bedenken über die Zulässigkeit einer Verkürzung des Rechtsschutzes ausgerechnet für die neuen „Unternehmen mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb“ gem. § 19a GWB-E begründet. In letzten Beratungen war vorgesehen worden, die gerichtliche Überprüfung von § 19a-Entscheidungen zwecks Beschleunigung ausschließlich dem BGH zu übertragen. Doch daneben haben die Regierungsfraktionen in einem Entschließungsantrag (Drucksache des Ausschusses für Wirtschaft und Energie 19(9)905 vom 15.12.2020) den Konflikt mit Brüssel klar benannt. Dort ertönen Rufe nach einer „Öffnungsklausel“ im europäischen Recht, und die Aufforderung an die Bundesregierung, sich im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses zum DMA-E dafür einzusetzen, nationalen Regelungen und Wettbewerbsbehörden eine Rolle bei der Umsetzung europäischer Regeln zuzugestehen. 

Das gibt einen Vorgeschmack auf die politischen Auseinandersetzungen, die im Laufe des weiteren Verfahrens noch zu erwarten sein dürften. Die kartell- und regulierungsrechtliche Agenda für 2021 scheint damit gesetzt – und „Big Tech“ bleibt ganz vorne mit dabei.

Dr. Thomas Lübbig ist Of Counsel in der Kartellrechtspraxis im Berliner Büro sowie Leiter der österreichischen Kartellrechtspraxis von Freshfields Bruckhaus Deringer. 

Ole Schley ist Associate in der Kartellrechtspraxis im Düsseldorfer Büro von Freshfields Bruckhaus Deringer.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren wieder.

Hier geht es zu unserem Antitrust Advent Calendar 2020!

3 Gedanken zu „Doppelte Bescherung: Zu DMA und GWB10

  1. Pingback: Offline | D'Kart

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert