Wake Me Up When September Ends – Conferences Debriefing
Anders als Green Day hat die Kartellrechts-Community im September 2024 nicht geschlafen, im Gegenteil, es liegt ein äußerst ereignis- und konferenzreicher Monat hinter uns. Helena Drewes und Elisabeth Wondracek waren unterwegs und berichten von zwei Konferenzen in Wien und dem Deutschen Kartellrechtstag in Düsseldorf.
Der September 2024 lieferte reichlich Stoff für Diskussionen auf den Bühnen diverser Konferenzen, darunter prominent die Urteile des EuGH in Illumina, Google Shopping und Irland/Kommission, die EuG-Entscheidung in AdSense, die Veröffentlichung des Draghi-Reports („EU competitiveness: Looking ahead“) sowie die Nominierung einer neuen Wettbewerbskommissarin (Teresa Ribera Rodríguez). Daneben gab es auch beim Digital Markets Act Neues. So hat die Kommission am 19. September zum ersten Mal Art. 8 Abs. 2 DMA angewandt und zwei Verfahren gegen (oder für?) Apple zur Konkretisierung von Maßnahmen hinsichtlich der Interoperabilitätsverpflichtungen von Apples iOS und iPadOS (Art. 6 Abs. 7 DMA) eingeleitet. Neben diesen bedeutsamen Ereignissen drehten sich viele Debatten in Wien und Düsseldorf um Grundsatzfragen und allgemeine Weichenstellungen im Kartellrecht.
Das 7. Düsseldorfer Doktorandenseminar am 2. und 3. September 2024 bildete den Aufschlag eines intensiven Konferenzmonats. Den Highlights des Seminars haben sich Leon Kümmel und Moritz Zwilling bereits in einem eigenen Beitrag gewidmet. Von Düsseldorf aus zog die junge Truppe weiter in eine andere Kartellrechtshauptstadt – nach Wien.
Young Competition Law Scholars Conference in Wien
Auf Einladung von Ranjana Achleitner (Universität Linz), Eva Fischer (LMU München), Lena Hornkohl (Universität Wien) und Bernadette Zelger (Universität Innsbruck) fanden sich am 5. und 6. September 2024 zahlreiche junge Kartellrechtler aus (nahezu) aller Welt in den Räumlichkeiten der Universität Wien zusammen. Ganz im Stil habsburgischer Bescheidenheit lautete das Motto: „THINK BIG“. Die Generaldirektorin der Bundeswettbewerbsbehörde, Natalie Harsdorf-Borsch, eröffnete die Konferenz mit einer Keynote.
Die Generaldirektorin betonte die Notwendigkeit der Kooperation der Kartellbehörden untereinander sowie die Nutzung vorhandener und neuer technologischer Mittel. Handlungsbedarf sehe sie insbesondere unter dem Stichwort „feminist competition law“. So würden Märkte, die insbesondere weibliche Verbraucher ansprechen, zu selten von Kartellbehörden in den Blick genommen. Eine gewisse Zurückhaltung, das Kartellrecht für wettbewerbsfremde Ziele und Prinzipien zu öffnen, ließ sie anklingen – und gab damit einen Teaser für einige der folgenden Vorträge.
Silvia Retamales Morales (Chilean Competition Tribunal/Universidad de Chile) referierte in rechtsvergleichender Betrachtung über die Möglichkeiten der Berücksichtigung öffentlicher Interessen und Ziele im Kartellrecht. Am Beispiel Südafrikas arbeitete sie ein Modell aus, in welchem konkrete öffentliche Interessen anstelle von Generalklauseln in die Gesetzestexte eingebunden werden.
Neben der Frage nach außerwettbewerblichen Schutzzwecken im Kartellrecht beschäftigten sich die Vortragenden und Teilnehmer der Konferenz mit der effektiven Gestaltung von Abhilfemaßnahmen (Elaine Dunne, DLA Piper Dublin und Linus J. Hoffmann, University of Strathclyde), neueren Konzepten wie „Dynamic Competition“ (Selçukhan Ünekbas, European University Institute Florence) und relativer Marktmacht (am Beispiel von § 19a GWB) (Annika Stöhr, TU Ilmenau) sowie dem Begriff der Fairness und dessen Bedeutung für das Kartellrecht (Christiane Wakonig, Bundeswettbewerbsbehörde). Diskutiert wurden auch sozialpolitisch höchst relevante Fragen wie die Anwendung von Artikel 102 AEUV auf Missbräuche auf den Märkten für Saisonarbeit in der Landwirtschaft (Luca Graf und Giulia Aurélie Sonderegger, Universität Zürich).
Zum Ende der Veranstaltung weitete sich der Blick thematisch und territorial aus, auf das Zusammenspiel von Wettbewerbsrecht und Geopolitik (Sophie Bohnert, Wirtschaftsuniversität Wien), Staatsbeihilfen unter dem Covid-19 Temporary Framework (Nicole Deneka, University of the National Education Commission of Krakow) und die Anwendung der Foreign Subsidies Regulation auf Zusammenschlüsse (Pierfrancesco Mattiolo, Universiteit Antwerpen) sowie die internationalen Auswirkungen des europäischen Kartellrechts unter dem Stichwort „Brussels Effect“ (Richard Bunworth, University College Dublin) und die europäische Nachbarschaftspolitik im Rahmen der Östlichen Partnerschaften (Georgien, Republik Moldau und Ukraine) (Tamta Margvelashvili, Ivane Javakhishvili Tbilisi State University).
Den Abschluss bildete ein Talk von Chris Meyers (Associate General Counsel, EU Competition, Amazon) und eine anschließende Panel-Diskussion zum Thema „EU-Competitiveness in a Globalized World: Competition Law and OR vs. Regulation?“ mit Tabea Bauermeister (Universität Regensburg), Martin Gassler (Wolf Theiss), Heike Lehner (Freiberufliche Ökonomin) und Florian Tursky (Ehemaliger Staatssekretär für Digitalisierung und Telekommunikation) unter Moderation von Bernadette Zelger (Universität Innsbruck). Meyers sparte nicht mit klaren Ansagen: Das EU-Kartellrecht werde politisiert, es sei nicht mehr vorhersehbar, der Binnenmarkt gehe über Regeln wie § 19a GWB verloren, Compliance müsse bitte schlank bleiben. Die Panelisten ordneten den DMA zumindest als „großes Experiment“ ein, betonten die Vorreiterrolle der EU und die potentiellen Auswirkungen auf andere Jurisdiktionen unter dem Stichwort „Brussels Effect“.
Save the Date: Die Young Competition Law Scholar Conference 2025 findet voraussichtlich Ende September/Anfang Oktober in Florenz auf Einladung der EUI Competition Law Working Group statt (Weitere Informationen erfolgen über den Newsletter der EUI Competition Law Working Group.)
Vienna Competition Law Days
Eine Woche später wurde in Wien erneut das Kartellrecht diskutiert und über den Tellerrand hinausgeblickt. Die Vienna Competition Law Days, organisiert vom Competition Law Hub unter Leitung von Professorin Viktoria Robertson, fanden in den Räumlichkeiten der Wirtschaftsuniversität Wien statt.
Die vier Panels umfassende Konferenz drehte sich um Fragen der Künstlichen Intelligenz, der Reform des Art. 102 AEUV, Nachhaltigkeit und um eine grundlegende Auseinandersetzung mit Herausforderungen der Kartellrechtsdurchsetzung. Stavros Makris, jüngst von Glasgow ans University College London gewechselt, stellte zudem sein in Kürze erscheinendes Werk „Responsive Antitrust – An Inquiry into the European Commission’s Commitment Practice“ vor.
„Algorithms & Competition Law“ war Thema des ersten Panels: Ist ein neues Konzept erforderlich, um Marktmacht auf Märkten mit algorithmenbasierten Aktivitäten zu bestimmen oder sind die herkömmlichen Konzepte ausreichend? Wie bestimmt sich der Missbrauch bei der Verwendung von Algorithmen? Hilft der Begriff des Leistungswettbewerbs („competition on the merits“) bei der Frage weiter, ob und inwiefern die Verwendung fortgeschrittener, exklusiver Technologien einen Missbrauch darstellen kann? In diesem Rahmen stellte Jan Blockx (University of Antwerp) Explainable AI (XAI) als Mittel zur Aufdeckung von autonomen algorithmischen Kollusionen vor. Thomas Cheng (University of Hong Kong) setzte sich mit der Erleichterung von Kopplungsgeschäften durch personalisierte Preisgestaltung auseinander und diskutierte die Folgen für die Marktmachtschwelle und die Anwendung herkömmlicher Analyseparadigmen.
Passend zur Veröffentlichung des Entwurfs für neue Leitlinien der Kommission zur Bestimmung von Missbrauch durch marktausschließende Praktiken am 1. August 2024 widmete sich das zweite Panel Artikel 102 AEUV. Albertina Albors-Llorens (University of Cambridge) zeigte mit dem Vergleich der „Effects-Based Analysis“ des EU-Kartellrechts und der Rechtsprechung zur Warenverkehrsfreiheit interessante Parallelen zwischen den häufig separat voneinander betrachteten Rechtsgebieten auf. Fernando Castillo de la Torre, Wettbewerbsexperte im Legal Service der Europäischen Kommission, betrachtete die Entwicklungen und Auswirkungen des „Effects-Based Approach“. Er hat gerade mit Eric Gippini Fourier die 2. Auflage seines Standardwerks zu „Evidence, Proof and Judicial Review“ vorgelegt. Pablo Ibáñez Colomo (London School of Economics) diskutierte vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, wie bei der Anwendung des Artikel 102 AEUV den Prinzipien einer effektiven Durchsetzung, Rechtssicherheit und gerichtlicher Überprüfung Rechnung getragen werden kann. In der regen Debatte wurde insbesondere auch die „Wiederbelebung“ des Prinzips des Leistungswettbewerbs („competition on the merits“) diskutiert: Was genau bedeutet dieses Prinzip und inwiefern kann seine Verwendung zu einer „besseren“, d.h. sowohl effektiven als auch rechtssicheren und sinnvoll gerichtlich überprüfbaren, Anwendung von Art. 102 AEUV beitragen? Spoiler alert: Zu dem Thema haben Tristan Rohner und Helena Drewes (Mitautorin dieses Beitrags) ein Paper verfasst, in dem natürlich alles erklärt wird!
Jan Broulík (University of Amsterdam) analysierte im dritten Panel die Relevanz und Messung der Vorhersehbarkeit im Kartellrecht. Maria Ioannidou (Queen Mary University) referierte zur Umgestaltung der Kartellrechtsdurchsetzung im digitalen Sektor auf Grundlage des Konzepts der „Responsive Regulation“. Andriani Kalintiri (King’s College London) präsentierte eine Untersuchung der Resilienz des Kartellrechts anhand der Anwendungsfälle Covid, Klimawandel und Digitalisierung.
Im vierten Panel diskutierte Max Huffman (Indiana University) die Auswirkungen der Besonderheiten der Kreislaufwirtschaft auf die Marktabgrenzung. Sandra Marco Colino (Chinese University of Hong Kong) analysierte kritisch die aktuelle Behandlung von Umweltschutzgesichtspunkten (überwiegend) im amerikanischen und europäischen Kartellrecht und abschließend referierte Wendy Ng (University of Melbourne) zur kartellrechtlichen Dimension von „Stakeholder Capitalism“ und „Corporate Purpose”“.
Deutscher Kartellrechtstag 2024 des Handelsblatts in Düsseldorf
Am 19. und 20. September 2024 fand der Deutsche Kartellrechtstag des Handelsblatts in Düsseldorf statt. Jährlich kommen hier Kartellrechtspraktiker überwiegend aus Kanzleien und Unternehmen zusammen, um sich über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen auszutauschen. Moderiert wurde die Veranstaltung von Professor Michael Kling (Philipps-Universität Marburg).
Besonders lehrreich war der Vortrag von CEO und Co-Founder Leif-Nissen Lundbæk von Noxtua, einer Rechts-KI für die juristische Arbeit, der die besonderen tatsächlichen und rechtlichen Herausforderungen des Einsatzes von KI in der juristischen Arbeit aufzeigte. Erhöhter Aufmerksamkeit und vielfacher Erwähnung erfreute sich die Rechtssache Illumina und insbesondere das Anfang September dazu ergangene EuGH-Urteil. Hier hatte sich der EuGH ja der schon 2021 in diesem Blog vertretenen kritischen Sicht angeschlossen. Thorsten Käseberg, Referatsleiter im BMWK, präsentierte einen (inzwischen schon wieder obsoleten) Zeitplan für die nächste GWB-Novelle. Der Referentenentwurf solle im 3. Quartal 2024 (d.h. bis Ende September) veröffentlicht werden, die Novelle trete dann im ersten Quartal 2025 voraussichtlich in Kraft. Inhaltlich bringt das sog. “GWB-Maßnahmenpaket” eine Erhöhung der Aufgreifschwellen im Bereich der Fusionskontrolle, kleine Änderungen im Kartellschadensersatzrecht, eine Stärkung des Rechtsschutzes bei Ministererlaubnisentscheidungen, Durchsetzungsbefugnisse nach einer verbraucherrechtlichen Sektoruntersuchung, eine Angleichung des deutschen Rechts an Art. 210 GMO sowie erweiterte Kooperationsmöglichkeiten bei Nachhaltigkeitsallianzen.
Helena Drewes und Lennart Meyer – Fotos von Handelsblatt Live
Helena Drewes (Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Rupprecht Podszun und Co-Autorin des Berichts) und Lennart Meyer (Doktorand bei Christoph Busch und Rechtsreferendar am OLG Braunschweig) hielten einen Vortrag zu den Verfahren nach Art. 8 Abs. 2 und 3 des Digital Markets Act (“Festlegungs- und Feststellungsverfahren im DMA – Zwei zentrale Instrumente zur wirksamen und verhältnismäßigen Umsetzung der Verhaltenspflichten“). Passend dazu leitete die Kommission am selben Tag die ersten beiden Verfahren nach Art. 8 Abs. 2 DMA ein.
Die Verfahren nach Art. 8 Abs. 2 und 3 DMA haben bisher noch nicht viel Aufmerksamkeit erhalten, obwohl sie zentrale Compliance-Instrumente zur effizienten und ressourcenschonenden Umsetzung der Verhaltenspflichten und Verwirklichung der DMA-Ziele sind. Für die Kommission bieten die Verfahren präventive Gestaltungsmittel, führen aber ggf. zu einer (Selbst)bindung; für Gatekeeper bieten sie mehr Rechtssicherheit und Schutz vor Sanktionen, stellen aber auch einen erheblichen Eingriff in ihre Gestaltungsfreiheit dar. Neben den Verfahren selbst ist auch ihr Verhältnis zum Public und Private Enforcement teilweise unklar. Alles Weitere steht in WuW 2024, 249 ff.
When September ends…
Das Ende eines Sommers, in dem es kaum eine Pause gab, lässt erahnen: Im Kartellrecht findet ein Umdenken statt. Dafür ist ein Rückgriff auf die Grundlagen des Kartellrechts und die Grundlagenforschung notwendig. Allem Umbruchs- und Aufbruchsgeist zum Trotz braucht das Kartellrecht als Basis aber Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Resilienz, um Bestand zu haben und einen lebendigen Wettbewerb langfristig zu sichern.
Die Autorinnen Helena Drewes, LL.M. (College of Europe) und Elisabeth Wondracek sind Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Doktorandinnen am Lehrstuhl von Professor Podszun an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.