Conference Debriefing (8): Kartellschadensersatzklagen und europäischer Justizwettbewerb aus französischer Sicht
Paris ist natürlich die Stadt der Liebe – aber auch die Hauptstadt des französischen Kartellrechts. Florian Bien hat sich, in zweiterer Mission, an die Seine begeben. Anlass war eine Tagung zum Kartellschadensersatzrecht. Hier ist, pour les amis de D’Kart, sein Conference Debriefing.
Tagungen zur Umsetzung der (überwiegend minimalharmonisierenden) Schadensersatzrichtlinie sind mittlerweile in Mode gekommen (siehe nur hier und hier). Das Thema hat unter Kartellrechtlern das Interesse an der innereuropäischen Privatrechtsvergleichung neu geweckt. Die Praxis folgt gebannt, bieten sich für Kläger aufgrund verbleibender Unterschiede doch interessante Möglichkeiten des forum shoppings. Der Wettbewerb der Justizstandorte ist entfacht, ein Spiel, dessen Karten aus Anlass des vielleicht irgendwann bevorstehenden Brexits ohnehin neu gemischt werden.
Die Publikations- und Tagungsmaschine des „Institut du droit de Concurrences“ veranstaltete am 28. März 2019 schon seine dritte Tagung zum Thema Actions en réparation des pratiques anticoncurrentielles: État des lieux en France et en Europe. Der Veranstaltungsort, la Première Chambre der Pariser Cour d’Appel, macht einiges her. Das muss auch einräumen, wer sich für einen ähnlichen Zweck gerade noch des Toscanasaals bemächtigt hat. Während man sich hier bemüht, die Attraktivität der ältesten Universität Bayerns für die mehr oder weniger weit angereisten Referentinnen und Referenten mit Weinproben im Residenzweinkeller, musikalischen Intermezzi und privaten Abendeinladungen zu steigern, ließ sich der französische Gastgeber gleich ganz entschuldigen (und durch seine Pariser équipe de charme et de choc durchaus würdig vertreten): Er verteilte in Washington zeitgleich die Concurrences Antitrust Awards 2019.
Fallbesprechung à la française
Die vier Tables rondes des Tages kreisten (1) um die einigermaßen technische, aber praktisch ungeheuer wichtige Frage des zeitlichen Anwendungsbereichs der neuen Bestimmungen, (2) die Verjährung von Kartellschadensersatzansprüchen, (3) den Schutz von Geschäftsgeheimnissen und (4) die Bestimmung der Schadenshöhe. Abgerundet wurde der Tag durch die Besprechung eines (an den französischen Universitäten ja eher selten zu findenden) Cas pratique – animiert von einem Juristen und einem Ökonomen.
EuGH im Fall Cogeco: Manfredi reloaded
Besondere Aktualität verdankte die Tagung dem EuGH. Er hatte freundlicherweise sein interessantes Urteil zum portugiesischen Cogeco-Fall gerade rechtzeitig während der Diskussionen des ersten Panels veröffentlicht. Der Fall handelt wieder einmal vom Zusammenspiel zwischen Verjährung und intertemporalem Privatrecht. Die alte Courage-/Manfredi-Leier spielt hier eine neue Variation des Evergreens von der wirksamen Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV. Eine Anwendung der neuen Bestimmungen auf Altfälle ist damit gar nicht erforderlich: Die frühere portugiesische Regelung (Verjährungsfrist von drei Jahren, die zu laufen beginnt, bevor das Missbrauchsopfer Kenntnis von der Identität des Täters hat, und deren Ablauf auch nicht durch eine Hemmung aufgehalten wird) verstößt unmittelbar gegen Art. 102 AEUV. Für die absoluten Verjährungshöchstfristen des deutschen Rechts (NL und FR haben Ähnliches: 20 Jahre) sehe ich danach schwarz, Erwägungsgrund 36, letzter Satz, hin oder her. Wenn man wie der EuGH das gesamte private Kartellschadensersatzrecht unmittelbar aus ein oder zwei Bestimmungen des AEUV ableitet, bleibt auch für den europäischen Gesetzgeber nicht mehr viel Gestaltungsspielraum. Das Diktum der Primärrechtswidrigkeit kann hinter jeder Ecke hervorlugen. Vielleicht müssen ja demnächst auch einzelne Artikel der Richtlinie für und gegen Kartellschadensersatzansprüche daran glauben (Schutz der Kronzeugenunterlagen – dazu schon DonauChemie – und bloß subsidiäre Kronzeugenhaftung?).
Wettbewerb der europäischen Justizstandorte (nach dem Brexit)
Mindestens so interessant wie manche Einzelheit der Panelbeiträge waren ein paar Hinweise zum Thema Wettbewerb der Justizstandorte: Die Präsidentin der ehrwürdigen Cour d’appel (sie wird auch als Nachfolgerin der bald aus dem Amt scheidenden Präsidentin der Cour de Cassation gehandelt) beschrieb einleitend die ersten Erfolge der neu eingerichteten „Chambres commerciales internationales de Paris“, in der angeblich perfekt englischsprachige Juges und unterstützt von ebenso sprachgewandten Greffiers etc. komplette Verfahren in englischer Sprache und gerne auch mit Cross-Examination durchziehen. 21 Verfahren sollen in dieser Form schon anhängig gemacht, sieben Entscheidungen erlassen, davon sogar vier abschließend, die (französischsprachigen) Urteile teilweise auch schon ins Englische übersetzt und veröffentlicht worden sein. Dem Betreiber dieses Blogs mag das eine weitere Bestätigung seines Petitums sein. Natürlich würde auch ich ein entsprechendes Vorhaben diesseits des Rheins sofort unterstützen, z. B. mit einer Einladung der ganzen (selbstverständlich in Düsseldorf ansässigen) Truppe in den Staatlichen Hofkeller …
Französische Urteilsbegründungen, die ihren Namen verdienen?
Die Attraktivität der französischen Rechtsprechung wird in Zukunft vielleicht noch zunehmen, wenn sich ab 1. Oktober 2019 (wie schon am Rande der Tagung gemunkelt und inzwischen in den Zeitungen berichtet) am Quai de l’horloge ein neuer Stil der Urteilsbegründung durchsetzt (Pressemitteilung). Die freimütig eingeräumten Schwierigkeiten der internationalen Handelskammer bei der Übertragung des traditionellen französischen Ein-Satz-Urteils („Attendu que…“) ins Englische mag letzte Traditionalisten überzeugt haben.
Überhaupt: Die Cour de Cassation! Wer die ehrwürdigen Gemächer (aus Anlass der Vorbesprechung unserer table ronde – Panel 2) einmal von innen gesehen hat, dem verbietet sich ohnehin jede Kritik am Stil der französischen Rechtsprechung. Unsere wackeren BGH-Richter sind verständlicherweise stolz, wenn sie nicht in einem der Neubauten daneben oder gegenüber sondern im ehemaligen Erbgroßherzöglichen Palais in der Herrenstraße logieren. Eine Conseillère à la C. Cass., die die nüchternen Karlsruher Räumlichkeiten ebenfalls von innen kennt, kann da nur milde lächeln. Man fühlt sich ein wenig an die Heiterkeit erinnert, die der Vorschlag der neuen CDU-Chefin, doch noch einmal über das Projekt eines deutsch-französischen Flugzeugträgers nachzudenken, bei Macron und Co. kürzlich ausgelöst haben muss.
Zuständigkeitskonzentration und Spezialisierung statt überforderter Landgerichte
Aber ich wollte ja noch vom Wettbewerb der europäischen Gerichtsstände sprechen: Die italienische Richterin Marina Tavassi (wie Jacqueline Riffault-Silk und die Spanierin Mercedes Pedraz Mitglieder im exklusiven Club der European Competition Law Judges) berichtete, dass der italienische Gesetzgeber die Zuständigkeit für Kartellschadensersatzklagen auf drei Gerichtsorte konzentriert hat: Mailand, Rom und Neapel. Die Vorstellung, welchen Gewinn an Expertise (und damit Schnelligkeit) diese Form der Spezialisierung mit sich bringen könnte, veranlasste die zahlreich anwesenden CDC-Vertreter vermutlich für kurze Zeit zum Träumen. Weiter geht man wohl nur in London mit den exklusiv zuständigen Gerichten High Court und Competition Appeals Tribunal. (Dessen Vertreter Simon Holmes erzählte nicht nur, dass er sich auf seine Vorlesungen in Aix-en-Provence freut und sich ärgert, dass er sich, obwohl CAT-Richter und Oxford-Fellow, private Visitenkarten im Copyshop anfertigen muss, sondern auch, dass er bei seiner Ernennung der erste Jurist überhaupt im CAT war). Dort scheinen überwiegend Ökonomen, Ingenieure und Wirtschaftsprüfer zu richten, denen die entsprechenden Fälle dann nach Arbeitsbelastung und – vor allem – nach fachlichen Gesichtspunkten (statt nach starren Geschäftsverteilungsplänen) zugeteilt werden.
Justitia ist weiblich
Holmes war übrigens fast schon eine Besonderheit in einer Riege im Übrigen ausschließlich weiblicher Vertreter*innen der rechtsprechenden Gewalt. Speziell im Bereich des Kartellrechts besteht hier in Deutschland ja noch Nachholbedarf. Immerhin: Mit Dr. Birgit Lindner und Dr. Patricia Rombach wurde kürzlich ausgesprochen kartellrechtsaffiner Nachwuchs für den BGH gewählt. Félicitations !
Prof. Dr. Florian Bien ist Inhaber des Lehrstuhls für globales Wirtschaftsrecht, internationale Schiedsgerichtsbarkeit und Bürgerliches Recht an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
One thought on “Conference Debriefing (8): Kartellschadensersatzklagen und europäischer Justizwettbewerb aus französischer Sicht”
Vielen Dank für dieses informative Briefing, ganz im Sinne und Stil dieses Blogs: mit leichter Hand und in der Sache darum nicht weniger präzise und zutreffend!
Hochinteressant natürlich auch, was sich am Rande der Konferenz ergab und thematisch über das Kartellrecht hinausweist — offenbar ist man in Paris schon deutlich weiter bei der Einrichtung Internationaler Handelsgerichte als in Deutschland!
Und das Cogeco Urteil ist nun in der Tat schon das zweite Urteil innerhalb eines Monats, welches das Kartellschadensersatzrecht allein aus Art. 101 und 102 AEUV in Verbindung mit dem Effektivitätsprinzip fortentwickelt! Dennoch sehe ich für die Regelung der Richtlinie über den Schutz von Kronzeugenunterlagen und die Haftungserleichterungen weniger schwarz — das Donauchemie-Urteil befasste sich ja mit der Rechtslage nach nationalem Recht ohne dass eine unionsrechtliche Regelung vorlag; die Vorschriften der Richtlinien hierzu lassen sich durchaus mit dem Effektivitätsprinzip rechtfertigen — hier einmal in etwas anderer Richtung eingesetzt.