AGENDA 2025: Missbrauchsunabhängige Entflechtung in der Wettbewerbspolitischen Agenda des BMWK

AGENDA 2025: Missbrauchsunabhängige Entflechtung in der Wettbewerbspolitischen Agenda des BMWK

Dieser Artikel ist Teil der D-Kart Spotlights: Agenda 2025. In diesem kommentieren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis einzelne Aspekte der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vorgelegten Wettbewerbspolitischen Agenda. Die schon erschienenen Beiträge finden Sie hier.

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Die missbrauchsunabhängige Entflechtung ist eines der umstrittensten Themen der wirtschaftspolitischen Agenda 2025 des BMWK. Daniel Zimmer hat sich Gedanken über mögliche Anwendungsfälle und Umsetzungen gemacht.

In der am 21. Februar 2022 vorgestellten „Wettbewerbspolitischen Agenda“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz lässt der neunte Abschnitt „EU-Wettbewerbspolitik stärker und transparenter gestalten“ aufhorchen. Auf ein – zu erwartendes – Bekenntnis zum Digital Markets Act folgt die weitere Aussage: „Wir setzen uns langfristig für eine missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeit auf europäischer Ebene als Ultima Ratio auf verfestigten Märkten ein.“ Den etwas Älteren unter den Lesern mag das wie ein Déjà lu vorkommen: Ein aus dem Wirtschaftsministerium stammender Vorschlag für eine missbrauchsunabhängige Entflechtung – das gab es doch schon einmal!

Tatsächlich war zu Beginn der Wahlperiode 2009-2013 im Ministerium ein Entwurf zur Änderung des GWB erarbeitet worden, der unter bestimmten Voraussetzungen Entflechtungsmaßnahmen auch ohne nachgewiesene Kartellrechtsverletzung ermöglichen wollte. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP von 2009 war das Vorhaben vereinbart worden, wer den Vorschlag weiter zurückverfolgt, wird im FDP-Bundestagswahlprogramm von 2009 fündig. Ganz ähnlich ist die Entstehungsgeschichte des neuen Vorhabens des Ministeriums: Auch diesmal findet sich das Projekt bereits im Koalitionsvertrag, mit einem Unterschied: Im Vertrag von 2021 geht die Forderung auf das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen zurück. Also: Ein gelb/grünes Projekt?

Der Entwurf von 2010 wurde nicht realisiert. Zu groß war der Widerstand aus Wirtschaftskreisen. Ein vom Bundesverband der Deutschen Industrie in Auftrag gegebenes Gutachten hielt den Vorschlag – wen mag es wundern? – für verfassungswidrig (Frage an die Leser dieses Blogs: Hat schon einmal jemand ein Gutachten gesehen, das nicht zu einem für den Auftraggeber günstigen Resultat gelangt ist?). Mit der Union ließ sich das im Koalitionsvertrag von 2009 vereinbarte Vorhaben daraufhin nicht mehr realisieren.  

Dem Vorschlag von 2010 lag eine tragfähige Überlegung zugrunde: Zu einer aus Wettbewerbssicht nachteiligen Marktstruktur kann es nicht allein durch externes, sondern auch durch internes Wachstum kommen. Im deutschen und europäischen Recht ist eine Marktstrukturkontrolle bisher aber grundsätzlich nur für Fälle externen Wachstums (Zusammenschlüsse) vorgesehen. Daneben kann eine Wettbewerbsbehörde allenfalls in Fällen des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung eine Entflechtung durch Veräußerung von Unternehmenswerten (als „Abhilfemaßnahmen struktureller Art“) anordnen. Das wird sich künftig auch durch den DMA nicht ändern; hier kommen „strukturelle Abhilfemaßnahme“ gegen einen Gatekeeper nur im Fall von „Zuwiderhandlungen“ gegen Ge- oder Verbote des Act in Betracht.

Erkennt man, dass Wettbewerbsprobleme – wie in den Bestimmungen über die Zusammenschlusskontrolle zum Ausdruck kommt – aus der Marktstruktur resultieren können, erscheint es konsequent, eine Marktstrukturkontrolle nicht nur in Fällen externen, sondern auch in solchen internen Wachstums in Betracht zu ziehen. Freilich gibt es valide Gegenargumente gegen eine missbrauchsunabhängige Entflechtungsmöglichkeit. Ein besonders gewichtiges ist, dass eine drohende Entflechtung volkswirtschaftlich schädliche Anreize setzen könnte: müssten erfolgreiche Unternehmen nach Erlangung von Marktmacht regelmäßig mit einer Entflechtung rechnen, so hätten sie allen Grund, Wachstum zu vermeiden. Letztlich könnte die Aussicht auf eine drohende Entflechtung Unternehmen an Innovation und Effizienzsteigerung hindern und damit einen gesamtwirtschaftlich nachteiligen Effekt haben.

Wegen dieser – zweifellos bedenklichen – möglichen negativen Anreizwirkungen einer missbrauchsunabhängigen Entflechtungsmöglichkeit formulieren (auch) deren Befürworter regelmäßig, dass eine solche nicht in allen Fällen einer marktbeherrschenden Stellung, sondern – als „ultima ratio“ – nur in Ausnahmefällen zum Tragen kommen soll, in denen die Wettbewerbsbedenken überwiegen. Im Entwurf von 2010 lautete die einschränkende Formulierung: „Sind auf einem Markt mit gesamtwirtschaftlicher BedeutungUnternehmen marktbeherrschend und ist auf absehbare Zeit das Fortbestehen dieser Marktbeherrschung zu erwarten, obwohl Wettbewerb technisch und wirtschaftlich möglich ist, kann das Bundeskartellamt auf der Grundlage einer aktuellen Untersuchung des betroffenen Wirtschaftszweiges anordnen, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen Teile seines Vermögens veräußern oder auf  andere Weise verselbständigen muss, wenn dies eine wesentliche Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen erwarten lässt und verhältnismäßig ist.“ Die Beschränkung auf Märkte „mit gesamtwirtschaftlicher Bedeutung“ sollte den beschriebenen Bedenken Rechnung tragen: Nur dort, wo wegen der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des vermachteten Marktes die Folgen des Fehlens von Wettbewerb über die davon betroffenen Marktteilnehmer hinausreichen, sollte eine Entflechtung in Betracht kommen. Zur Zeit der Diskussion des Vorschlags herrschte weitgehende Einigkeit darüber, dass als Kandidaten für entsprechende Behördenverfügungen allenfalls die großen Energieversorger in Frage kamen. 

Die Erde hat sich seither weiter gedreht, seit einigen Jahren betrachten Wettbewerbsrechtler die großen Plattformbetreiber der Digitalwirtschaft mit besonderen Argwohn. Netzwerkeffekte und konzentrationsfördernde Kostenstrukturen haben hier die Entstehung sehr starker Marktstellungen begünstigt, bei einzelnen digitalen Dienstleistungen sind Quasi-Monopole zustande gekommen. Das bestehende Wettbewerbsrecht hat diese Entwicklung nicht aufhalten können. Dies kann an Beispielen deutlich gemacht werden:

Die Zusammenschlusskontrolle hat nicht verhindert, dass Facebook sich mit Instagram und WhatsApp zwei Dienste einverleiben konnte, die – wie die weitere Entwicklung gezeigt hat – mindestens das Potenzial hatten, dem Stammhaus in der einen oder anderen Hinsicht Konkurrenz zu machen. Dass die Fusionskontrolle hier nicht gegriffen hat, mag viele Gründe haben: jenseits des Atlantiks eine Administration, der– während der Amtszeit von Präsident Obama – wohl nicht zu Unrecht eine Nähe zu den Tech-Unternehmen des Silicon Valley nachgesagt wurde; diesseits des Ozeans das Vorherrschen von Fusionskontrollregimes, die in ihren Aufgreiftatbeständen in erster Linie auf bereits erzielte Umsätze abstellten und damit für eine Erfassung von Übernahmen junger Technologieunternehmen mit viel Potenzial nicht gerüstet waren. Deutschland und Österreich haben das System bekanntlich durch zusätzliche Aufgreiftatbestände nachgebessert (§ 35 Abs. 1a GWB, § 9 Abs. 4 öst. KartG). 

Es fehlte aber in Europa womöglich auch der politische Wille, eine von der amerikanischen Behördenpraxis abweichende Entscheidung zu treffen: Immerhin lag der Europäischen Kommission im Jahr 2014 aufgrund der Auffangregelung in Art. 4 Abs. 5 der Fusionskontrollverordnung der Facebook/WhatsApp-Zusammenschluss zur Entscheidung vor. Die Kommission hätte also zumindest eine vertiefte Prüfung des Zusammenschlusses anstellen können. Stattdessen entschied sie nach Art. 6 Abs. 1 lit. b der Verordnung, das Verfahren nicht einzuleiten. Viele Wettbewerbsökonomen und Kartellrechtler halten die Freigabe des Zusammenschlusses durch die Kommission im Oktober 2014 im Rückblick für eine Fehlentscheidung. An der kurz gefassten Entscheidungsbegründung – deren Lektüre erhellend ist – wird aber auch deutlich, wie schwierig behördliche Prognoseentscheidungen gerade auf den dynamischen Märkten der Technologiewirtschaft sind. Insofern hat die hergebrachte Fusionskontrolle hier notwendigerweise Wirkungsgrenzen. 

Hier darf die Frage gestellt werden, ob Freigabeentscheidungen in Fällen, in denen sich die Marktverhältnisse post-merger anders entwickelt haben als von den Unternehmen und Behörden vorhergesehen, notwendigerweise mit Ewigkeitswirkung fortgelten müssen. Gerade der unsichere Charakter solcher Zukunftsvorhersagen könnte ein Grund dafür sein, bei bedenklichen Konzentrationsentwicklungen Jahre nach einer Freigabe von behördlicher Seite nachzusteuern und in Fällen wie Facebook/WhatsApp die Veräußerung eines Dienstes zu fordern. In den USA – von vielen als das Stammland des Kapitalismus gepriesen oder verteufelt – bestehen weniger Skrupel als in Deutschland, existierende Unternehmensstrukturen aufzubrechen.

Aber nicht nur Situationen von bedenklichen Konzentrationsentwicklungen, die nach behördlichen Freigabeentscheidungen eingetreten sind, geben Anlass, über eine missbrauchsunabhängige Entflechtung nachzudenken. Auch Fälle internen Wachstums, die zu einer bedenklichen Marktkonzentration führen, geben Anlass zu einem Überdenken des bestehenden Rechtszustandes. Hier kann eine Struktur wie die im Alphabet-Konzern als Beispiel dienen. Zwar ist auch diese Unternehmensgruppe durch zahlreiche Zukäufe stark gewachsen. Doch die Google-Suchmaschine verdankt ihre monopolähnliche Stellung auf ihrem Stamm-Markt – der „allgemeinen Suche“ – offenbar keinem Zukauf, sondern einem sehr attraktiven Produkt: In weiten Teilen der Welt zieht die große Mehrzahl der Menschen, die eine Suchmaschine nutzen wollen, Google den Diensten der Konkurrenz vor. Freilich können auch in dieser Situation Wettbewerbsgründe für eine Umstrukturierung sprechen: Zu dem von der Europäischen Kommission in ihrer Entscheidung vom 27. Juni 2017 festgestellten Missbrauch durch die bevorzugte Anzeige eines eigenen Dienstes (Google Shopping) wäre es nicht gekommen, wenn die allgemeine Suchmaschine nicht mit anderen wirtschaftlichen Aktivitäten und Diensten verwoben wäre. Betrachtet man die Google-Suchmaschine als eine Infrastruktur, auf die andere Marktteilnehmer – Suchende sowie Webseitenbetreiber, die gefunden werden wollen – angewiesen sind, liegt eine Trennung von Suchmaschine und anderen wirtschaftlichen Services nahe. Dass bei Infrastrukturen eine Trennung von Netz und Betrieb oft Voraussetzung für einen funktionierenden Wettbewerb ist, ist in der Regulierungstheorie ein Gemeinplatz.

Gute Gründe können also dafür angeführt werden, auch außerhalb der Situation herkömmlicher Zusammenschlüsse eine wettbewerbsorientierte Marktstrukturkontrolle zu schaffen. Die Monopolkommission hat im Jahr 2010 einen Vorschlag entwickelt, mit dem die volkswirtschaftlich ungünstigen Anreizwirkungen einer Entflechtungsregelung überwunden werden können (Sondergutachten 58: Gestaltungsoptionen und Leistungsgrenzen einer kartellrechtlichen Unternehmensentflechtung). Einen bedenklichen Effekt könnte eine Entflechtungsregelung – wie dargelegt – haben, wenn sich Unternehmen durch die Aussicht auf eine möglicherweise drohende Entflechtung von wachstumsfördernden Innovationen und Effizienzsteigerungen abbringen lassen würden. Eine solche nachteilige Wirkung müsste das Bestehen einer Entflechtungsregelung nicht haben, wenn im Fall der behördlichen Anordnung der Veräußerung von Vermögenswerten oder Unternehmensteilen eine Entschädigungsregelung greifen würde: Unternehmen müssten für die Vorteile, die ihnen – auch bei Inrechnungstellung eines Veräußerungserlöses – durch die Entflechtung entgehen, entschädigt werden. Eine entgehende Rendite auf Investitions- und Innovationsanstrengungen wäre demnach zu ersetzen. Dagegen dürfte die Entschädigung sich – bei Berücksichtigung der wettbewerbspolitischen Zielsetzung des Vorschlags – nicht auf Monopolrenten erstrecken, die nur durch den Fortbetrieb des verflochtenen Marktbeherrschers erzielbar wären.

Prof. Dr. Daniel Zimmer, LL.M. ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Handels- und Wirtschaftsrecht und des Center for Advanced Studies in Law and Economics (CASTLE) der Universität Bonn.

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