Ermittlungsbefugnisse im Kartellbußgeldverfahren 4.0

Ermittlungsbefugnisse im Kartellbußgeldverfahren 4.0

Bei der GWB-Reform standen in der öffentlichen Diskussion die digitalen Themen ganz im Vordergrund. Anlass der Änderungen war aber die ECN+-Richtlinie, in der es vor allem ums Verfahrensrecht geht. Thomas Wostry hat sich die neugefassten Vorschriften zu den Ermittlungsbefugnissen der Kartellbehörden kritisch angesehen.

Während die Bundesregierung der 19. Legislaturperiode weiterhin über Ob und Wie eines Verbandssanktionengesetzes berät, schreitet sie bei der Reform des Kartellbußgeldverfahrens aufgrund europäischer Verpflichtungen zügig voran und zieht das Netz der Ermittlungsbefugnisse merklich zusammen.

Wenn man dem vollständigen Titel des GWB-Digitalisierungsgesetzes v. 18.1.2021 Glauben schenken darf, so bringt es „ein fokussiertes, proaktives und digitales Wettbewerbsrecht 4.0“. Die Begriffe „fokussiert“ und „proaktiv“ erwecken Aufmerksamkeit, weil mit der Reform bekanntlich auch die Vorgaben des vierten Kapitels der ECN+-Richtlinie (EU) 2019/1 umgesetzt werden sollen, die umfangreiche Ermittlungsbefugnisse der für Wettbewerb zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden zur Durchsetzung von Kartellverboten und Bekämpfung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verlangen. 

Seit dem 19.1.2021 finden sich die entsprechenden Ermächtigungen in den neu gefassten §§ 58 – 59b GWB, die zwar unmittelbar das Kartellverwaltungsverfahren betreffen, aber durch einen Verweis in § 82b GWB in Teilen auch in Verfahren zur Festsetzung einer Kartellgeldbuße nach § 81 GWB gelten: § 58 GWB regelt die Beschlagnahme von Gegenständen mit potenzieller Beweisbedeutung, § 59 GWB betrifft die Erteilung von Auskünften und die Herausgabe von Unterlagen, § 59a GWB enthält Bestimmungen über die Einsichtnahme in geschäftliche Unterlagen und im Rahmen dieser kleinen Kritik besonders wichtig: § 59b GWB normiert die Befugnis zur Durchsuchung von Geschäftsräumen, Wohnungen, Grundstücken und Sachen.

Nach bisherigem Recht ergaben sich die Rechtsgrundlagen für Ermittlungsmaßnahmen gegen Verbände in Verfahren zur Festsetzung einer Kartellgeldbuße aus § 46 OWiG, der auf das Strafverfahrensrecht verweist. Der bisherige § 81b GWB a.F. verpflichtete die betroffene juristische Person oder Personenvereinigung außerdem dazu, im Verfahren zur Festsetzung einer Geldbuße Auskunft über Umsätze, unternehmerische Verbindungen und mögliche Umwandlungen betreffende Umstände zu erteilen. Diese Befugnis der Kartellbehörden zur Einholung von Auskünften sollte das Ermittlungsverfahren erleichtern (vgl. Achenbach in: Jaeger/Kokott/Pohlmann/Schroeder, Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, 91. Lieferung 08.2018, § 81b GWB, Rn. 1). Hervorzuheben ist, dass sowohl § 46 OWiG iVm. dem Strafverfahrensrecht als auch § 81b GWB a.F. unabhängig voneinander den behördlichen Zugriff auf Beweise, die zur Festsetzung des Bußgeldes erhoben werden konnten, erlaubten. Insbesondere eine Ermächtigung zur gezielten Befragung von auskunftsverpflichteten Beschäftigten eines Verbandes im Rahmen von Durchsuchungen sah das alte GWB nicht vor. Das eigentlich aus gutem Grund, denn beide Grundrechtseingriffe verlangen autonome Verhältnismäßigkeitsprüfungen.

Zunehmende Abweichung vom allgemeinen Ordnungswidrigkeitenverfahren

Mit dem GWB-Digitalisierungsgesetz hält neuerdings eine Verbindung von Durchsuchung und darauf gerichteter Auskunftsmaßnahmen Einzug in das Kartellbußgeldverfahren, die zu einer Anpassung des deutschen Kartellbußgeldrechts an europäische Standards führen soll (BT-Drs. 19/23492, S. 137 f.). Im Zuge der jüngsten Reform dieser Ermittlungsbefugnisse weicht das Kartellbußgeldverfahren damit von Prinzipien des Strafprozess- und Ordnungswidrigkeitenrechts ab: Im allgemeinen Verfahren zur Festsetzung einer Geldbuße ist eine Verwaltungsbehörde über § 46 Abs. 1 OWiG weiterhin an das Prinzip der strafprozessualen Einzelermächtigung gebunden – Grundsatz: eine Rechtsgrundlage für eine Ermittlungsmaßnahme –, das lediglich durch den Einzug der Verwaltungsbehörde in die Position der Staatsanwaltschaft modifiziert wird (§ 46 Abs. 2 OWiG). Das Prinzip der Einzelermächtigung hat eigentlich seinen guten Sinn, denn es gewährleistet, dass die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme mit klaren Bezugspunkten bei Normierung, Anordnung und Vollzug gewahrt werden kann. Im fokussierten und proaktiven Kartellbußgeldverfahren 4.0 greifen allerdings die Kartellbehörden vor allem bei Durchsuchungen auf verbundene Haupt- und Nebenbefugnisse zurück, die zu einer weiteren Effektivitätssteigerung der Ermittlungen führen sollen. Dadurch wird allerdings eine neue und gesonderte Abwägung der von den Ermittlungen betroffenen Interessen erforderlich, die nicht mit einem Verweis auf die Vorgaben europäischer Richtlinien getan ist:

Die Voraussetzungen der Durchsuchung richten sich künftig weiterhin nach §§ 102 f. StPO iVm. § 46 Abs. 1, Abs. 2 OWiG, während neuerdings gemäß § 82b Abs. 1 Satz 1 GWB die Regelung des § 59b Abs. 3 Satz 1 GWB bei Durchsuchungen in Verfahren zur Festsetzung einer Geldbuße gemäß § 81 GWB entsprechend gilt. Das heißt: Die Bediensteten der Kartellbehörde sowie von dieser ermächtigte oder benannte Personen sind in Verfahren zur Festsetzung einer Geldbuße gemäß § 81 GWB im Rahmen einer Durchsuchung befugt,

1. sämtliche Bücher und Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorhanden oder gespeichert sind, zu prüfen und Zugang zu allen Informationen zu erlangen, die für den von der Durchsuchung Betroffenen zugänglich sind,

2. betriebliche Räumlichkeiten, Bücher und Unterlagen jeder Art für die Dauer und in dem Ausmaß zu versiegeln, wie es für den Zweck der Durchsuchung erforderlich ist, und

3. bei der Durchsuchung von Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen von allen Vertretern oder Mitarbeitern des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung Informationen, die den Zugang zu Beweismitteln ermöglichen könnten, sowie Erläuterungen zu Fakten oder Unterlagen, die mit dem Gegenstand und dem Zweck der Durchsuchung in Verbindung stehen könnten, zu verlangen und ihre Antworten zu Protokoll zu nehmen.

Haupt- und Nebenbefugnisse der Kartellbehörden vs. Verhältnismäßigkeit?

Die Regelung erweiterter Durchsuchungsbefugnisse verlagert Auseinandersetzungen über die Verhältnismäßigkeit zunehmend auf die Ebene des Maßnahmevollzugs. Mit Macht geht allerdings Verantwortung einher und aufgrund der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht (Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG) ist abzusehen, dass sich eine intensive Diskussion über die Verhältnismäßigkeit nicht nur der Hauptmaßnahme (der Durchsuchung), sondern insbesondere der zitierten Begleitmaßnahmen entfachen wird. 

Aber welche sind die richtigen Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung? Wer ist Adressat wievieler Maßnahmen? Wie ist das staatliche Aufklärungsinteresse im Verhältnis zu den grundrechtlich geschützten Interessen des betroffenen Unternehmens (bzw. des betroffenen Verbandes) und der zur Mitwirkung verpflichteten Mitarbeiter/innen zu gewichten? Es ist ja zumindest vorstellbar, dass die Verhältnismäßigkeit beispielsweise einer durch Informationsrechte gestützten Durchsuchung künftig nicht allein anhand ihrer Auswirkungen auf den Schutzbereich der Art. 13 iVm. Art. 19 Abs. 3 GG, sondern auch und insbesondere in Bezug auf die Interessen der betroffenen Mitarbeiter/innen zu beurteilen ist. 

Die Gesetzesbegründung verweist zur Rechtfertigung der Ausweitung von Ermittlungsbefugnissen im Kartellbußgeldverfahren lediglich auf die Vorgaben der ECN+-Richtlinie (BT-Drs. 19/23492, S. 137 f.) und vermeidet die Auseinandersetzung mit der Frage, ob diese Erweiterungen mit den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) an ein faires Sanktionsverfahren vereinbar sind.

Gesetzliche Leitprinzipien in den Ermächtigungsgrundlagen für diesen Diskurs fehlen jedenfalls und das erschwert sowohl die Verteidigung als auch die gerichtliche Beurteilung ex-post, beispielsweise im Zuge der Entscheidung über ein Beweisverwertungsverbot. Den Dialog über die Strukturen der Gewährleistung von Grundrechtsschutz zu führen, ist eine Aufgabe, die auch künftig der Praxis überantwortet ist und zahlreiche mögliche Abwägungsgesichtspunkte einzubeziehen hat: etwa die Schwere des Vorwurfs, die Stärke des Verdachts, die Grundrechte von Verbänden und Beschäftigten etc.

Das Logo des ECN.

Keine ausdrückliche Regelung des legal privilege?

Aus behördlicher Sicht gestalten sich die Ermittlungsbefugnisse „fokussiert“ und „proaktiv“, aus der Sicht der Verteidigung mangelt es jedoch an gesetzlichen Gewährleistungen, wie insbesondere das Fehlen einer Regelung über das legal privilege im Kontext derartiger Untersuchungen aufzeigt. Auch insoweit wären geschriebene Vorgaben sinnvoll, denn natürlich ist bspw. die wenig befriedigende, aber wohl symptomatische „Lösung“ aus dem „Verfahrenskomplex AkzoNobel“ in Erinnerung – hier zitiert aus einer Entscheidung des Gerichts der Europäischen Union von 2007:

The Commission officials then informed the applicants’ representatives that it was necessary for them to examine briefly the documents in question so that they could form their own opinion as to whether the documents should be privileged. Following a long discussion, and after the Commission officials and the OFT officials had reminded the applicants’ representatives of the consequences of obstructing investigations, it was decided that the leader of the investigating team would briefly examine the documents in question, with a representative of the applicants at her side“ (EuG Urt. v. 17.9.2007 – 253/03, BeckRS 2007, 70724).

Freilich liegt der Kontext dieses Zitats über ein Jahrzehnt zurück. Aber bei weiterhin fehlender spezialgesetzlicher Grundlage darf man vielleicht fragen, ob auch künftig bei Durchsuchungen nur „nach langen Diskussionen … über die Schulter“ der Ermittlungsbehörden geschaut wird? Dass die Auseinandersetzung über die Verhältnismäßigkeit der Ermittlungen und die Verfahrensfairness in geregelten Bahnen eines gesetzlich vorgesehenen legal privilege verlaufen sollte, ist eine Forderung, die in der Kartellrechtspraxis schon im Vorfeld der Reform erhoben und begründet worden ist (Giese/Heinichen/Janssen/Klumpp/Schelzke/Steinle Kartellbußgeldrecht in der 10. GWB-Novelle – Teil 2, NZKart 2020, 646 [649 f.]), und es wäre doch in der Tat zu begrüßen, wenn beide Seiten des Verfahrens auf gesetzlich niedergelegte Kriterien zur Beurteilung von Dokumenten und Datenbeständen zurückgreifen könnten – sowohl in Bezug auf den materiellen Umfang eines legal privilege als auch hinsichtlich des Verfahrens zur Beurteilung privilegierter Unterlagen. 

In diesem Kontext spielt vor allem der zeitliche Geltungsbereich des legal privilege für interne Untersuchungen eine besondere Rolle, die m.E. bei einer Aufarbeitung von sanktionsbedrohtem Fehlverhalten das Verteidigerprivileg erhalten sollten (Wostry, Kritische Betrachtung ausgewählter Aspekte der Entscheidungen des BVerfG zur Beschlagnahme von Dokumenten aus internal investigations, NZWist 2018, 356 ff.). Der Verweis des § 46 Abs. 1 OWiG auf die Interessenabwägungen, die der Strafprozessordnung zugrunde liegen, kann diese Aufgabe naturgemäß nicht bewerkstelligen und auch die ECN+-Richtlinie setzt in Art. 3 Abs. 2 zumindest grundlegende Regelungen voraus: 

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei der Ausübung der [in der Richtlinie vorgesehenen Ermittlungsbefugnisse] angemessene Garantien gelten, damit die Verteidigungsrechte der Unternehmen gewahrt sind, darunter das Recht auf rechtliches Gehör und das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“

Fazit

Das GWB-Digitalisierungsgesetz richtet das Kartellbußgeldverfahren 4.0 in erster Linie auf das staatliche Aufklärungsinteresse aus. Es fehlen insbesondere gesetzliche Leitprinzipien für die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Ihre künftige Normierung würde unterstreichen, dass (1) die Verhältnismäßigkeit durchweg zu prüfen und (2) sie umfassend anhand aller von der Maßnahme zweckgerichtet betroffenen Grundrechte im Licht des jeweiligen Verfahrensgegenstands zu beurteilen ist.

Es ist außerdem an der Zeit, auch die Verteidigungsrechte auf den „Stand 4.0“ zu bringen und sie zu diesem Zweck gesetzlich fokussiert sowie proaktiv zu gestalten. Man darf gespannt darauf sein, wie die Kartellrechtspraxis in Zukunft mit den Regelungen in §§ 58 ff. GWB umgehen wird, und hoffen, dass auf beiden Seiten im Sinne einer „Waffengleichheit“ auch in puncto Bußgeld von einem echten Kartellverfahrensrecht 4.0 gesprochen werden kann.

Dr. Thomas Wostry ist Habilitand am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

2 Gedanken zu „Ermittlungsbefugnisse im Kartellbußgeldverfahren 4.0

  1. Vielen Dank für diesen sehr interessanten Beitrag! Ich kann mir gut vorstellen, dass § 59b GWB noch mal das Bundesverfassungsgericht beschäftigen wird. Großen Sprengstoff sehe ich auch in der Selbstbelastungsverpflichtung aus § 59b Abs. 3 S. 2 GWB. Die Norm sieht als begrenzenden Schutz einerseits die — vom Betroffenen einzuschätzende — Erforderlichkeit vor und andererseits eine Art „Chinese Wall“ in den Köpfen der Ermittler. Beides bringt erhebliche praktische Schwierigkeiten mit sich. Wie soll der Betroffene beurteilen können, ob seine Selbstbelastung erforderlich ist, also ob sich die Ermittler die Informationen auch anderweitig beschaffen können, ohne dass dies wesentlich schwerer (unbestimmter Rechtsbegriff!) wird? Und wie sollen die Ermittler diese Informationen in ihren Ermittlungen gegen die betreffende Person ausblenden? Ich bin gespannt, wie das Bundesverfassungsgericht diesen Spagat zwischen Europarecht und Grundgesetz beurteilt, wenn es Gelegenheit dazu erhält.

  2. Sehr interessanter Beitrag. Zum Vergleich kann ich bemerken, dass auch im polnischen Recht die Frage des LPPs nicht ausreichend und konkret geregelt ist. Beim Implementierung der ECN+-Richtlinie (https://legislacja.rcl.gov.pl/projekt/12342403) will der Gesetzgeber einige Aspekte des LPPs einführen. Das ist aber immer noch nicht befridigend… Man kann sagen, dass die Untersuchungen einer Kartellbehörde in jedem Staat ein problemvolles Thema ist.

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