SSNIPpets (32): Traffic Jam

SSNIPpets (32): Traffic Jam

Viele Kartellrechtssüchtige wollen in den Urlaub oder wollen zurück aus dem Urlaub und stehen im Stau. Macht nichts, denn es gibt noch genug Lesestoff, mit dem wir sozusagen durch die Rettungsgasse direkt auf Ihren Bildschirm fliegen. Es passiert ja auch genug! Rupprecht Podszun hat gesammelt, was ihm als Ablenkung für Sie wichtig scheint. Hier sind seine sommerlichen SSNIPpets – small but significant news, information and pleasantries, unser pet project!


Infrastruktur für Wettbewerb

In Salzburg kamen kürzlich zur allerhöchsten Festspielzeit einige sehr wohlhabende, einige sehr kluge und einige sehr wohlhabende und sehr kluge Menschen zum Convoco-Forum zusammen. Corinne Flick, die Gastgeberin, ist Juristin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, sie zählt zur dritten Kategorie. In diesem Jahr diskutierten ihre Gäste die „Rolle Europas in einer bedeutenderen Weltgeschichte“. In einem Panel ging es um Europas Wettbewerbsfähigkeit. Monika Schnitzer, die Münchner VWL-Professorin, die auch in der Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 sitzt, moderierte und richtete ihre erste Frage an Roberto Viola, Generaldirektor bei der Europäischen Kommission für so ziemlich alles Digitale (und er bloggt darüber!); er ist der Laitenberger der DG CONNECT.

Schnitzer: „What percentage of the EU budget goes into agriculture and what percentage goes into digital, and do you think the EU sets the right priorities?”

Viola: “About one third of the budget goes into agriculture, and 3 % of the budget into digital.”

Das Publikum lachte laut und verzweifelt.

Im selben Panel gab Stefan Oschmann, CEO von Merck, klippklar zu verstehen, was er von der Politik erwartet, damit europäische Unternehmen im Wettbewerb bestehen können: Nicht Industriepolitik, die überkommene Geschäftsmodelle schützt, sondern eine digitale Infrastrukturpolitik. Europa braucht, um nicht von China und den USA marginalisiert zu werden, eine eigene Cloud, die Entwicklung von Mikrochips mit KI und die Förderung von Supercomputern. Das sind die Brücken, Straßen und Schienen, die die EU dringend bereitstellen sollte. Generaldirektor Viola (der auf mich einen sehr gescheiten Eindruck machte) sieht das übrigens genauso. Jetzt müsste nur noch — irgendetwas passieren.


Von Microsoft lernen

Ein Teil dieser wettbewerblichen Infrastruktursicherung ist „der Digitalmächtigen Zähmung“ (um es mit den poetischen Worten eines hochrangigen Kartellbeamten zu sagen). Auch darüber besteht bei deutschen Unternehmern Konsens, scheint mir. Der Druck auf die GAFA-Unternehmen steigt. So berichtet die New York Times, dass Chris Hughes, der ehemalige Mitbewohner von Mark Zuckerberg in Harvard und Mitgründer von Facebook, bei den Kartellbehörden vorstellig geworden ist, um deren kartellrechtliche Untersuchungen gegen Facebook zu befeuern.

Der Economist empfiehlt, Zuckerberg, Bezos & Co. sollten bitte aus den Microsoft-Erfahrungen lernen. Immerhin habe der frühere Lieblingsfeind der Kartellbehörden es in letzter Zeit geschafft, zum wertvollsten Unternehmen der Welt aufzusteigen, ohne auf der Antitrust-Landkarte eine größere Rolle zu spielen. Ratschlag Nummer 3 als Lehre aus dem Microsoft-Case der Nuller-Jahre:  „Third, work with regulators rather than try to outwit or overwhelm them.”


Infrastruktur für Gerechtigkeit

Infrastruktursicherung steht auch in der Justiz an. Der Präsident des Landgerichts Stuttgart, Andreas Singer, hat dringend Verstärkung gefordert. Sein Gericht werde mit Klagen gegen Daimler lahmgelegt. Der Fokus liegt natürlich in der Diesel-Thematik, aber auch zum Kartellrecht lieferte Singer eindrucksvolle Zahlen:

„Aktuell sind rund 250 Klagen zum Lkw-Kartell anhängig. Nahezu sämtliche dieser Klagen richten sich zumindest auch gegen Daimler. In den vorangegangenen 15 Jahren sind jeweils nur 1-2 solcher Kartellschadensersatzklagen eingegangen. Das Landgericht Stuttgart hat trotz der verfahrensbedingt nicht vermeidbaren langen Verfahrensdauern allein in 2018 und 2019 bereits über 20 Urteile zum Lkw-Kartell verkündet.“

Ein Stern, der Deinen Namen trägt...
Das hier dargestellte Unternehmen ist der wichtigste Zulieferbetrieb des LG Stuttgart.

Die Forderungen lägen zwischen 3.500 und 100 Mio. Euro, allein in einem Fall gehe es um 12.500 LKW, jeder Beschaffungsvorgang sei einzeln zu prüfen. Die 30. Zivilkammer hat darüber hinaus noch eine 261-Millionen-Euro-plus-Zinsen-Klage wegen des Rundholzkartells auf dem Tisch, bei dem die geltend gemachten Ansprüche bis 1978 zurückreichen sollen (Az. 30 O 176/19).

Ich denke an Christian Morgensterns Gedicht „Die zwei Wurzeln“. Was soll man der Stuttgarter Justiz auch sonst noch tröstend zurufen? Knig. Knag.


Neue Leitlinien, neue Verordnung, neue Bußgelder

  • Die Generaldirektion Wettbewerb (auf deren Website ich mich leider immer nur so mittelmäßig zurecht finde, geht Ihnen das auch so? Kann Google das mal schönmachen?) hat „Leitlinien für die nationalen Gerichte zur Schätzung des Teils des auf den mittelbaren Abnehmer abgewälzten Preisaufschlags“ veröffentlicht, kurz: Passing-on-Guidelines.
  • Zum Umgang mit Geschäftsgeheimnissen in Kartellschadensersatzprozessen wird konsultiert – noch bis 18.10.2019.
  • Die P2B-Verordnung ist veröffentlicht worden, sie ist Kartellrecht light mit allerlei Transparenzpflichten im Platform-2-business-Bereich.
  • Die Kommission hat gegen General Electric (schon im April) ein Bußgeld verhängt wegen falscher Angaben bei der Fusionskontrolle zur Übernahme von LM Wind (52 Mio. €).
  • Canon soll 28 Mio. € wegen Verstoß gegen das Vollzugsverbot beim zweistufigen Erwerb von Toshiba Medical Systems zahlen.


Weniger Arbeit, weniger Bußen

Wenn ich einen Subunternehmer einschalte, um einen Auftrag für mich zu erledigen, bezahle ich dem etwas, klar. Und wenn der noch Schulden bei mir hat, rechnen wir auf. So ungefähr macht das die Europäische Kommission auch in Bußgeldverfahren.

Gegen das Unternehmen Sanrio hat sie eine Geldbuße in Höhe von 6,2 Mio. € verhängt, da Sanrio Gebietsbeschränkungen in Lizenzverträgen für den Vertrieb von Hello Kitty-Merchandise vorgesehen hatte. Wegen der feinen Mitarbeit durch Sanrio an dieser Sache wurden allerdings 40 % der Geldbuße erlassen, heißt es in der Pressemitteilung der Kommission. Die Kommission treibt damit die Geldbußenreduktion in Nicht-Kartellfällen weiter voran. Im Guess?-Verfahren hatte sie das schon einmal ausbuchstabiert.

Dass die Mitwirkung an der Aufklärung bußgeldmindernd berücksichtigt werden kann, wird wohl so seine Richtigkeit haben. (Auch wenn ich mich frage, wie das eigentlich mit dem nemo tenetur-Grundsatz vereinbar ist. Letztlich wird ja hier ein Anreiz zur Selbstbelastung gesetzt, der zwar keine echte Verpflichtung beinhaltet, aber doch stark wirkt.) In Kartelltaten ist die Bußgeldminderung durch das bekannte spieltheoretische Modell legitimiert: Der Bonus wird vor allem dafür gewährt, dass man das Kartell zum Einsturz bringt und andere mit in den Abgrund reißt.

Auch niedlich.
Hello Kitty!

Wenn, wie im Fall Sanrio, nur ein einzelnes Unternehmen Täter ist, fällt dieser Legitimationsstrang weg. Dann ist die Bußgeldminderung eigentlich nur noch das Dankeschön der Behörde, dass ihr die Arbeit abgenommen wurde. Dass dieses Motiv – wie jetzt bei den niedlichen Kitties – dazu führen kann, dass auf 40 % oder wie bei Guess? auf 50 % (!) der Geldbuße verzichtet wird, scheint mir übertrieben. Mit einer solchen Bußgeldpolitik mutiert die Europäische Kommission von einer Instanz der Rechtsdurchsetzung zum Notar der unternehmerischen Selbstbezichtigung.


Reisetipps

Da Sie ja doch nicht vom Kartellrecht lassen können, wenn Sie sich auf Kap York durch die Wildnis schlagen, auf Cape Cod nach Martha’s Vineyard übersetzen oder am Kap der Guten Hoffnung segeln, haben wir zumindest für diese drei Destinationen noch die Amtlichen Reisehinweise und berichten, was die anderen sich Neues ausgedacht haben, während wir an der 10. GWB-Novelle werkeln:


Australien

Die Australian Competition & Consumer Commission (ACCC) hat ihren Report on Digital Platforms in der finalen Fassung vorgelegt. Caron Beaton-Wells, die den Podcast Competition Lore macht, nannte den Bericht ein „thundering tome“, also einen kolossalen Wälzer. Das ist bei über 600 Seiten sicher keine Untertreibung. Ich habe nur durch die Executive Summary geblättert, auch die hat schon 42 Seiten, für Fachleute sind S. 30 ff. spannend. Und dann auch wieder nicht so spannend. Denn: „There are no quick fixes or magic bullet solutions“, schreibt Beaton-Wells in einer ersten Einschätzung.

Wenig im Beutel, ehrlich gesagt.
Ja, da schau her!

Immerhin werden ohne Scheuklappen Kartellrecht, Verbraucherschutz, Datenschutz und Medienregulierung in einem Aufwasch abgearbeitet. So startet die Kommission mit der Forderung, „large digital platforms“ sollten künftig mit der ACCC ein Anmelderegime aushandeln, nach dem alle Akquisitionen mit Auswirkungen für Australien bei der ACCC anzumelden wären. Das ist, aus europäischer kartellrechtlicher Sicht, aber auch schon fast alles. Es wird viel nach Europa verwiesen. Die Pioniere reisen hier.

Wird als Reiseziel empfohlen für: Margrethe Vestager und Andreas Mundt. Zur Bestätigung, dass sie vieles richtig gemacht haben.


USA

Diese Nachricht versöhnt vielleicht den einen oder anderen mit den USA, der/die in letzter Zeit nur den Kopf schüttelte über die da drüben: Compliance Programme werden künftig bei der Sanktionierung vom Department of Justice berücksichtigt. In einer Pressemitteilung des US-DoJ heißt es:

“The Antitrust Division is committed to rewarding corporate efforts to invest in and instill a culture of compliance,” said Assistant Attorney General Delrahim. (…) The Justice Manual previously explained the Antitrust Division’s policy “that credit should not be given at the charging stage for a compliance program.” That text has been deleted.”

Wird als Reiseziel empfohlen für: Inhouse-Juristen.


Südafrika

In Südafrika ist das Competition Act Amendment 18/2018 teilweise in Kraft getreten. Schalten Sie bitte noch nicht ab, wenn Sie weder in Kapstadt Urlaub noch Geschäfte machen, denn Südafrika ist kartellrechtlich superspannend. (Das weiß ich, seit ich einen Blick in die Dissertation von Balthasar Strunz geworfen habe.) Durch die gruselige Apartheid schleppt das Land ein schwieriges Erbe mit sich, auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Manche Märkte sind enorm konzentriert, die schwarze Bevölkerung ist ökonomisch nach wie vor strukturell benachteiligt.

Let freedom ring.
Still a lot to do – Nelson Mandela.

Ein Thema fürs Wettbewerbsrecht? Auf jeden Fall. Im südafrikanischen Kartellgesetz finden sich immer wieder Hinweise auf „historically disadvantaged persons“, deren kleine und mittlere Betriebe besonders geschützt und gefördert werden. So wird in der Fusionskontrolle künftig auf folgendes Kriterium geschaut: “a greater spread of ownership, in particular to increase the levels of ownership by historically disadvantaged persons and workers in firms in the market”.

Weil manche Märkte so hoch konzentriert sind, werden market inquiries zu einem wichtigen Instrument: Findet die Competition Commission bei einer solchen einen „adverse effect“, darf sie diesen abstellen – wenn nötig mit Entflechtungen. Da kriegt eine Sektoruntersuchung scharfe Zähne. Und noch ein Schmankerl: Für Wiederholungstäter von Kartelltaten wird die maximale Geldbuße von 10 % auf 25 % des Jahresumsatzes hochgeschraubt. Nein, ich hatte nicht gesagt, dass es zur Nachahmung empfohlen wird, ich hatte lediglich gesagt, es sei superspannend.

Wird als Reiseziel empfohlen für: Jedenfalls nicht für das wettbewerbspolitische Referat des BMWi.


Der Hai im Goldfischteich

Andrea Orcel hat ein Wettbewerbsproblem der besonderen Art. Der Italiener ist einer der erfolgreichsten Investmentbanker der Welt, hielt Top-Positionen bei Merrill Lynch und UBS. Wegen seiner italienischen good looks kürten Medien ihn zum „George Clooney of Investment Banking“, andere nannten ihn „el tiburón de las finanzas globales“, was in seinen Kreisen wahrscheinlich auch als Auszeichnung verstanden wird. Dann hat er bei UBS aufgehört, um zur Banco Santander zu wechseln. Das hat nicht geklappt. (Offizieller) Grund: Santander konnte die „Ablösesumme“ nicht schultern.

Andrea Orcel (Abb. ähnlich)

Nach Medienberichten (etwa hier oder hier) hatte Orcel bei UBS noch Ansprüche auf immense Boni, die nicht direkt ausbezahlt werden durften. Eine Folge der Finanzmarktregulierung. Wechselt Orcel zu einem Konkurrenten, so steht wohl in seinem Vertrag, verfallen seine Ansprüche auf die Summe. Santander sollte das, was sich da angestaut hatte, kompensieren. Das aber wurde den Spaniern zu viel. Der arme Herr Orcel tut nun erst einmal wettbewerbsverbotsbedingt nichts und wartet auf den Geldsegen, wenn er das Paket abrufen darf. Fängt er in der Branche an zu arbeiten, muss er entweder jemanden finden, der die Kompensation stemmen kann oder auf sehr viel Geld verzichten. Schreckliche Schicksale gibt es. Mir fiel Eric Posners Vortrag bei der Ascola-Konferenz 2019 ein: „Why has antitrust law failed workers?“

Neuesten Meldungen zufolge war aber auch gar nicht der Streit um das Geld und das Wettbewerbsverbot das Problem, sondern ein Kompetenzgerangel zwischen „George Clooney“ und Ana Botín, der selbsternannten Feministin an der Spitze von Santander. Es zeichnet sich eine gepflegte „Schlammschlacht“ (Handelsblatt) ab. Wunderbar!

Apropos Wettbewerbsverbote: Das OLG Düsseldorf hat kürzlich mal wieder zu einem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot entschieden: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.05.2019, Az. VI-W(Kart) 4/19.


Noch kurz dies!

Wenn Sie noch über die Belastung des LG Stuttgart nachdenken und ihren Teil beitragen mögen, die Justiz vor dem Infarkt zu retten, empfehlen wir einen Blick auf einen schönen Satz aus einem Urteil des OLG Düsseldorf. Die Rechtsanwälte Löffel Abrar haben in den sozialen Medien darauf hingewiesen:

„Die Länge eines Schriftsatzes sagt nichts über dessen inhaltliche Qualität aus und es trifft auch nicht zu, dass sich Richter, insbesondere im Bereich des Wettbewerbsrechts oder des gewerblichen Rechtsschutzes tätige Richter, durch die Länge der Schriftsätze einer Partei einseitig beeinflussen lassen.“ (OLG Düsseldorf, 4.7.2019, Az. 2 U 46/18)

Schreiben Sie sich das bitte auf einen Post-It-Zettel, den Sie an Ihren Bildschirm kleben und zitieren Sie den Satz in Ihrem nächsten Rundbrief an Mandanten.

Da auch wir nicht durch Länge beeindrucken wollen, mache ich Schluss für heute. Wir melden uns wieder, wenn etwas Außergewöhnliches passiert, etwa wenn eine Ministererlaubnis ergeht oder ein Referentenentwurf vorliegt.


Bis dahin – einen schönen Sommer!

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