Die Säge am RDG

Die Säge am RDG

Effektivitätsgrundsatz & Anspruchsbündelung im Kartellschadensersatzprozess

Der Europäische Gerichtshof hat auf Vorlage des LG Dortmund Fragen zum Sammelklagen-Inkasso beantwortet: Dürfen Sägewerke für die kartellrechtlichen Schadensersatzprozesse ihre Ansprüche abtreten? Manchmal wird bezweifelt, ob das mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG) vereinbar ist. Prof. Dr. Christian Kersting, Direktor des Instituts für Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat sich die Post aus Luxemburg genauer angesehen. Hier im Blog schlägt er eine Schneise durch den Fall ASG2 des EuGH (Urteil vom 28.1.2025, Rs. C-253/23, ECLI:EU:C:2025:40).

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        I.    Hintergrund

Kartellschadensersatzprozesse sind aufwendig und kostenträchtig, so dass es sich kaum lohnen wird, kleine Schadenssummen individuell einzuklagen. Man denke nur an die Kartelle, die so gut wie jeden betroffen haben: Zucker, Kaffee, Bier. Welcher Endverbraucher hat hier seinen Schaden geltend gemacht? Auch das LKW-Kartell dürfte zu Preiserhöhungen auch bei den Endverbrauchern geführt haben, die Ware erworben haben, die mit LKW transportiert wurde. Hat hier jemand geklagt? Es lohnt sich schlichtweg nicht. Aber auch auf den höheren Marktstufen lohnen sich individuelle Klagen häufig nicht, so dass mutmaßliche Geschädigte – mangels Verfügbarkeit von Maßnahmen des kollektiven Rechtsschutzes (vgl. LG Dortmund, Beschl. v. 13.3.2023, 8 O 7/20 (Kart), NRWE Rn. 63 ff., 69 ff. = BeckRS 2024, 5354 Rn. 25 ff., 28 ff.) – zur Klagebündelung greifen, um kostensparend gemeinsam vorzugehen.

Dabei ist im deutschen Recht keineswegs letztlich geklärt, ob diese Klagebündelung im Rahmen von Abtretungsmodellen zulässig ist (LG Dortmund, NRWE Rn. 63 ff. = BeckRS 2024, 5354 Rn. 25 ff.). Beklagte haben sich immer wieder erfolgreich dagegen gewehrt. In der Folge haben Gerichte Abtretungen für nichtig gehalten, so dass die Ansprüche bei den Zedenten verblieben und dort verjährt waren (Nachweise bei LG Dortmund, NRWE Rn. 63 ff. = BeckRS 2024, 5354 Rn. 25 ff). Soweit also keine kollektiven Rechtsschutzmöglichkeiten bestehen und dann auch das Abtretungsmodell den Klägern nicht zur Verfügung steht, stellt sich die Frage, wie Kläger ihre Rechte überhaupt effektiv durchsetzen können. Dies ist der Hintergrund des Vorlageverfahrens des LG Dortmund in der Rechtssache ASG2.

      II.    Vorlagefragen

Das LG Dortmund betont in seinem Vorlagebeschluss zunächst, dass das Abtretungsmodell jedenfalls im stand-alone-Fall unzulässig sei (NRWE Rn. 63 ff. = BeckRS Rn. 25 ff.). Sodann weist es im Einzelnen sorgfältig nach, dass andere „zulässige und in gleicher Weise geeignete Möglichkeiten zur Durchsetzung von durch einen Kartellverstoß verursachte Massen-/Streuschäden […] in Deutschland nicht [existieren].“ (NRWE Rn. 69-104 = BeckRS Rn. 28-38). Das Gericht sieht sich damit vor eine Situation gestellt, in der Kläger in Deutschland keine effektive Möglichkeit haben, ihre unionsrechtlich fundierten Ansprüche geltend zu machen, was aus seiner Sicht gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz sowie den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes verstößt (NRWE Rn. 110 = BeckRS Rn. 42). Es legt dem EuGH daher drei Fragen zur Vorabentscheidung vor:

Gerhard Klumpe, Vorsitzender Richter der Kammer am Landgericht Dortmund, die den EuGH angerufen hat, ist in diesem Jahr zum Honorarprofessor der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf bestellt worden – im Bild zu sehen mit der Dekanin der Juristischen Fakultät, Prof. Dr. Charlotte Kreuter-Kirchhof.
  1. Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 101 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte sowie Art. 2 Nr. 4 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU, dahin auszulegen, dass es einer Auslegung und Anwendung des Rechts eines Mitgliedstaats entgegensteht, durch welches einem möglicherweise durch einen – aufgrund des Art. 9 der Richtlinie 2014/104 bzw. der diesen umsetzenden nationalen Vorschriften mit Bindungswirkung feststehenden – Verstoß gegen Art. 101 AEUV Geschädigten verwehrt wird, seine Ansprüche – insbesondere in Fällen von Massen- oder Streuschäden – an einen zugelassenen Rechtsdienstleister treuhänderisch abzutreten, damit dieser sie gebündelt mit Ansprüchen anderer vermeintlich Geschädigter im Wege einer Follow‑on-Klage durchsetzt, wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen nicht bestehen, insbesondere weil sie nicht zu Leistungsurteilen führen oder aus sonstigen prozessualen Gründen nicht praktikabel bzw. aus wirtschaftlichen Gründen objektiv nicht zumutbar sind, und somit insbesondere die Verfolgung geringfügiger Schäden praktisch unmöglich oder jedenfalls übermäßig erschwert würde?
  2. Ist das Unionsrecht jedenfalls dann in dieser Weise auszulegen, wenn die fraglichen Schadensersatzansprüche ohne eine vorangehende und mit Bindungswirkung im Sinne nationaler, auf Art. 9 der Richtlinie 2014/104 beruhender Vorschriften versehenen Entscheidung der Europäischen Kommission oder nationaler Behörden im Hinblick auf die vermeintliche Zuwiderhandlung verfolgt werden müssen (sogenannte „Stand-alone-Klage“), wenn andere gleichwertige gesetzliche oder vertragliche Möglichkeiten der Bündelung von Schadensersatzforderungen zur zivilrechtlichen Verfolgung aus den in Frage 1 bereits genannten Gründen nicht bestehen und insbesondere wenn ansonsten eine Verletzung des Art. 101 AEUV überhaupt nicht, also weder im Wege des „public enforcement“ noch des „private enforcement“, verfolgt werden würde?
  3. Wenn mindestens eine dieser beiden Fragen zu bejahen ist, müssen dann die entsprechenden Normen des deutschen Rechts, wenn eine europarechtskonforme Auslegung ausscheidet, unangewendet bleiben, was zur Folge hätte, dass die Abtretungen jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt wirksam sind und eine effektive Rechtsdurchsetzung möglich wird?

 

   III.    Entscheidung des EuGH

Bei unbefangener Betrachtung können diese drei Fragen aus Sicht des Europarechts nur bejaht werden. Selbstverständlich kann es nicht sein, dass das nationale Recht europarechtlich gewährte Rechte unterläuft, indem es keinen Durchsetzungsmechanismus zur Verfügung stellt. Selbstverständlich muss in einem solchen Fall der Vorrang des Europarechts dazu führen, dass die entsprechenden Normen des nationalen Rechts unangewendet bleiben müssen. Ganz so einfach kann und will der EuGH es sich jedoch nicht machen. Bejaht er nämlich ohne weiteres diese drei Fragen, so wird im Ergebnis nicht nur die Entscheidung des Richtliniengesetzgebers unterlaufen, gerade keine Methoden des kollektiven Rechtsschutzes vorzuschreiben, sondern es kommt auch zu einem durchaus erheblichen Eingriff in das nationale Prozessrecht. Damit sieht sich der EuGH hier auch vor die unangenehme Aufgabe gestellt, abstrakt festzulegen, ab wann das nationale Prozessrecht unzureichend ist, um die effektive Durchsetzung europäisch gewährter Rechte zu garantieren. Letztlich erfordert dies eine Gesamtbewertung des nationalen Rechts, die der EuGH nur schwer leisten kann. Es verwundert daher nicht, dass sich der EuGH ausgesprochen vorsichtig zeigt.

1.  Erste Frage zur follow-on-Situation

Zunächst lehnt der EuGH es ab, sich mit der ersten Frage zu befassen, indem er diese als unzulässig bewertet. Auch wenn die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Frage grundsätzlich allein Sache des vorlegenden Gerichts sei, so könne der EuGH die Beantwortung ablehnen, „wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht“ (C-253/23 Rn. 39 ff.). Dies sei hier der Fall. Entscheidend ist für den EuGH, dass es im Vorlagefall an einer Bindungswirkung fehlt, so dass es sich gerade nicht um eine follow-on-Klage, sondern um eine um eine stand-alone-Klage handelt (C-253/23 Rn. 36 ff., 43 ff.). Er schließt sich damit Generalanwalt Szpunar an, der überdies noch die Theorie des Bundeskartellamtes von einer hybriden follow-on-Klage zurückgewiesen hatte (Schlussantrag, Rn. 59). Hierauf geht der EuGH nicht mehr ein. In der Tat befasst sich die erste Frage mit der Situation einer follow-on-Klage, die im Vorlagefall des LG Dortmund gerade nicht gegeben ist.

2.  Zweite und dritte Frage zur stand-alone-Situation

Die zweite und dritte Frage behandelt der EuGH gemeinsam. Beide betreffen die Situation einer stand-alone-Klage.

a)         Zulässigkeit

Da der Vorlagefall eine stand-alone-Situation betrifft und die zweite Frage darauf abzielt, welche Anforderungen das europäische Recht an die Durchsetzungsmechanismen im nationalen Recht in diesen Fällen stellt, hat der EuGH keine Zweifel daran, dass die zweite (und damit verbunden auch die dritte) Frage zulässig ist. Auf die Einwände der Beklagten geht der EuGH überhaupt nur insoweit ein als diese geltend machen, die Fragen des LG Dortmund beruhten auf unzutreffenden Prämissen.

Dieser Aspekt ist interessant, weil er letztlich den Fall entscheiden wird: macht das deutsche Recht die Verfolgung geringfügiger Schäden unmöglich oder übermäßig schwierig? Bejaht man das, wird man auch die zweite und dritte Frage bejahen müssen. Denn einer solchen Auslegung muss das europäische Recht entgegenstehen, was dann zur Unanwendbarkeit der entsprechenden Normen des nationalen Rechts führen muss, wenn keine andere, unionsrechtskonforme Auslegung möglich ist. Verneint man es, ist alles in Ordnung und es besteht kein Handlungsbedarf (auch wenn man auch in diesem Fall die Fragen zu bejahen haben wird). Besonders schwierig ist jedoch der Umstand, dass dieser Aspekt doppelgesichtig ist. Einerseits ist es natürlich eine Frage des nationalen Rechts, welche Möglichkeiten zur Durchsetzung von Kartellschadensersatz­ansprüchen bestehen, ob und inwieweit und unter welchen Umständen Abtretungen zur Bündelung von Ansprüchen zulässig sind etc. Andererseits ist die Bewertung, ob die vom nationalen Recht zur Verfügung gestellten Durchsetzungsmechanismen ausreichend sind, ob sie eine effektive Durchsetzung unionsrechtlich gewährter Rechte ermöglichen oder deren Durchsetzung unmöglich machen oder übermäßig erschweren, eine Frage des europäischen Rechts. Die erste Frage müssen die nationalen Gerichte beantworten, die zweite Frage kann nur der EuGH beantworten. Diese Differenzierung fehlt im Urteil, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Im Rahmen der Zulässigkeit erkennt der EuGH nicht, dass die von ihm referierten Einwände der Beklagten (C-253/23 Rn. 55) sowohl Prämissen des nationalen Rechts als auch Wertungen des europäischen Rechts betreffen. Zu Recht sieht er die Einwände zwar nicht als Problem der Zulässigkeit an. Er betont insofern, dass da „allein das vorlegende Gericht für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig ist, der Gerichtshof in Bezug auf den rechtlichen Kontext, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen“ hat. Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit, die für die Vorlagefragen gelte, könne „nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bestimmen“ (C-253/23 Rn. 57). Das ist richtig und genügt, um die Zulässigkeit der Klage zu bejahen.

Soweit der EuGH allerdings formuliert, dass die Prämissen des vorlegenden Gerichts, wie er sie in Rn. 55 referiert hat, allein von diesem zu beurteilen und durch den EuGH nicht zu überprüfen seien (C-253/23 Rn. 58), übersieht er, dass diese Prämissen im Hinblick auf die Frage des Unmöglichmachens oder übermäßigen Erschwerens unionsrechtliche Wertungen enthalten. Diese Wertungen muss er sehr wohl überprüfen. Zwar gehört dies in die Begründetheit, jedoch ist mit diesen Aussagen in der Zulässigkeit bereits der falsche Ton für die Begründetheit gesetzt. Es fehlt dort an klaren Aussagen hierzu (dazu sogleich).

b)         Begründetheit

a.     Prüfungsmaßstab

Die Erörterung der Begründetheit beginnt mit allgemeinen Ausführungen, welche die bisherige Rechtsprechung zum Primärrecht zusammenfassen (C-253/23 Rn. 60-63). Sodann referiert der EuGH das Sekundärrecht und betont, dass die KSERL weder einen Sammelklagenmechanismus fordere noch die Voraussetzungen regele, unter denen die Abtretung von Kartellschadensersatzansprüchen gültig sei (C-253/23 Rn. 65-69).

Hieraus folgert der EuGH (C-253/23 Rn. 70-75), dass sowohl die Einführung eines Sammelklagenmechanismus als auch die Abtretung von Kartellschadensersatzforderungen zum Zweck der Erhebung einer Sammelklage nicht zu den von der KSERL geregelten Modalitäten der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gehören. Dies führt ihn dann zu seiner ständigen Rechtsprechung zurück, wonach die Modalitäten für die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs „in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung Aufgabe der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten [ist], wobei der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz zu beachten sind“ (Rn. 71). Damit ist für den Gerichtshof der Weg zur Beantwortung der Vorlagefragen allein anhand des Effektivitätsgrundsatzes eröffnet. Er ergänzt die Heranziehung des Effektivitätsgrundsatzes freilich um den Hinweis, dass die „Mitgliedstaaten für die Wahrung des in Art. 47 Abs. 1 der Charta verbürgten Rechts auf effektiven gerichtlichen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind“ (Rn. 75).

Damit hat der EuGH den Prüfungsmaßstab herausgearbeitet. Nicht maßgeblich sind die Vorschriften der KSERL, insbesondere ist Art. 2 Nr. 4 KSERL – entgegen der Auffassung des LG Dortmund (NRWE Rn. 110-133 = BeckRS Rn. 42-57) – nicht einschlägig (C-253/23 Rn. 69 f.). Zu messen ist das nationale Recht daher am primärrechtlichen Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 Abs. 1 Grundrechtecharta.

b.     Primärrechtliche Prüfung

Die nachfolgende Prüfung anhand des Primärrechts ist von großer Zurückhaltung des EuGH geprägt. Einerseits muss er es als unionsrechtswidrig betrachten, wenn die Geltendmachung von durch das Unionsrecht verliehenen Rechten unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Andererseits will der EuGH keineswegs leichtfertig in das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht hineinregieren. Zwischen diesen Polen sucht der EuGH seinen Weg.

(1)             Prüfungskompetenz des nationalen Gerichts?

Im Grunde liegt die Antwort auf die Vorlagefragen bereits in den Vorlagefragen selbst. Das LG Dortmund hat das deutsche Recht sorgfältig analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass es zum Abtretungsmodell im deutschen Recht keine Alternativen gibt (NRWE Rn. 69-104 = BeckRS Rn. 28-38). Legt man diese Analyse zugrunde, so muss der EuGH die Vorlagefragen bejahen. Dies gilt umso mehr, als der EuGH bereits in der Prüfung der Zulässigkeit ausgesprochen hat, dass die Prämissen des vorlegenden Gerichts allein von diesem zu beurteilen und durch den EuGH nicht zu überprüfen seien (C-253/23 Rn. 58) und er diese Aussage in der Prüfung der Begründetheit noch einmal ausdrücklich wiederholt: „Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass allein das vorlegende Gericht darüber zu befinden hat, ob durch eine Auslegung des nationalen Rechts in der Weise, dass ein Sammelklage‑Inkasso in wettbewerbsrechtlichen Streitigkeiten ausgeschlossen ist, eine Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs, den das Unionsrecht den durch eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht Geschädigten verleiht, unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird und ihnen ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz verwehrt wird.“ (C-253/23 Rn. 82).

Wie bereits oben (A.III.2.a)) ausgeführt, übersieht der EuGH dabei jedoch, dass sich die Einschätzung des nationalen Gerichts im Hinblick auf ein praktisches Unmöglichmachen oder übermäßiges Erschweren nicht mit den Anforderungen des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes decken muss und es dem EuGH obliegt, dies letztverbindlich zu entscheiden. Er müsste also die Frage beantworten, ob mögliche Alternativen des deutschen Rechts die Anforderungen des Unionsrechts erfüllen. Nur wenn das nicht der Fall ist, wäre es unionsrechtswidrig, kein Abtretungsmodell zur Verfügung zu stellen. Das war auch der Kern der Fragen des LG Dortmund: ist meine Einschätzung des nationalen deutschen Rechts, dass es die Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen in den genannten Fällen praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unionsrechtlich betrachtet richtig?

Diese Fragen beantwortet der EuGH jedoch nicht. Stattdessen zitiert er ausführlich die Aussagen von Parteien des Ausgangsrechtsstreits, mit denen diese die Feststellungen des LG Dortmund anzugreifen versuchen (C-253/23 Rn. 78-81). Korrekterweise weist er diese zwar als unerheblich zurück (C-253/23 Rn. 82). Aber er verzichtet darauf, auf Grundlage der vom Landgericht Dortmund festgestellten Tatsachen konsequent weiter zu prüfen. Richtigerweise hätte der EuGH nun zu prüfen, ob aus unionsrechtlicher Sicht die Schlussfolgerung des Landgerichts Dortmund richtig ist, dass es im deutschen Recht keine Alternative zum Abtretungsmodell gibt, die eine dem Effektivitätsgrundsatz entsprechende Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen erlaubt. Dazu hätte er sich intensiv und im Rahmen einer Gesamtwürdigung mit dem deutschen Recht (und zwar so wie es vom Landgericht Dortmund festgestellt wurde) auseinandersetzen müssen. Der Verzicht hierauf mag verständlich sein. Dies könnte nämlich nicht nur übergriffig wirken, sondern der EuGH würde sich auch dem Risiko aussetzen, dass ihm der Vorwurf eines mangelnden bzw. unzutreffenden Verständnisses des deutschen Rechts gemacht wird. Auf der anderen Seite erkauft sich der EuGH diese Erleichterung damit, dass er auch die unionsrechtlichen Schlussfolgerungen in die Hände des nationalen Gerichts zu legen scheint. Doch scheint er auch diesen Schritt nicht konsequent gehen zu wollen.

Koen Lenaerts, Präsident des Europäischen Gerichtshof, bei der Urteilsverkündung am 28.1.2025.
(2)             Hinweise des EuGH trotz Beurteilungskompetenz des nationalen Gerichts

Der EuGH gibt dem vorlegenden Gericht nämlich noch eine Vielzahl von Hinweisen zur Anwendung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes in diesem Zusammenhang. Dabei fällt jedoch auf, dass diese teilweise bereits von dem vorlegenden Gericht berücksichtigt wurden. Dies gilt zunächst für den einleitenden Hinweis, dass das nationale Recht in seiner Gesamtheit zu würdigen ist (C-253/23 Rn. 83). Das Landgericht Dortmund hat dies gesehen und berücksichtigt (NRWE Rn. 142 = BeckRS Rn. 62. Dem vorlegenden Gericht ist auch nicht entgangen, dass es zur Begründung der Unvereinbarkeit des deutschen Rechts mit dem Europarecht zeigen muss, dass es keine Alternative zu dem in Rede stehenden Abtretungsmodell (Sammelklage-Inkasso) gibt (C-253/23 Rn. 84, 87 und NRWE Rn. 143 ff. 69 ff. = BeckRS Rn. 63 ff., 28 ff.).

Bedeutsamer sind die Hinweise des EuGH, dass Möglichkeiten zur Anspruchsbündelung gerade bei stand-alone-Klagen die Anspruchsdurchsetzung zwar erleichterten (Rn. 85), die Komplexität von Schadensersatzklagen und die damit verbundenen Verfahrenskosten allerdings noch nicht den Schluss zuließen, dass eine individuelle Klage praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde (Rn. 86). Um zu der Feststellung zu gelangen, „dass konkrete Gesichtspunkte des nationalen Rechts der Erhebung solcher individueller Klagen entgegenstehen“, verlangt der EuGH eine „Würdigung sämtlicher rechtlicher und tatsächlicher Umstände des Einzelfalls“ (C-253/23 Rn. 85 f.).

Auch wenn er dies in den Kontext einer alleinigen Entscheidungsbefugnis des vorlegenden Gerichts stellt, stellt er damit in der Sache jedoch Anforderungen des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes auf, die einer letztverbindlichen Beurteilung durch das nationale Gericht (natürlich) entzogen sind. Leider bleiben diese Anforderungen kryptisch und erscheinen in sich nicht widerspruchsfrei. Es ist natürlich richtig, dass die Anspruchsbündelung die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen erleichtert. Es ist auch richtig, dass eine Erleichterung nicht zwangsläufig bedeutet, dass ohne sie individuelle Klagen praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert seien. Jedoch geht der EuGH über diese Aussage hinaus und betont, dass die Komplexität von Kartellschadensersatzklagen und die damit verbundenen Verfahrenskosten für sich genommen nicht die Schlussfolgerung tragen könnten, dass eine Durchsetzung der Schadensersatzansprüche praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert würden (C-253/23 Rn. 86). „Ja, was denn sonst?“, möchte man fragen. Der EuGH kann kaum gemeint haben, dass die Verfahrenskosten, die ja wesentlich durch die Komplexität der Materie verursacht werden, unerheblich sind. Denn wenn Kosten keine Rolle spielen, dann ist natürlich keine individuelle Klage praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert. Dann kann – man verzeihe das argumentum ad absurdum – der Endverbraucher auch seinen Schaden von 1,50 € aus dem Zuckerkartell individuell einklagen und dafür ein Kostenrisiko eingehen, das in die tausende, zehntausende oder hunderttausende Euro geht. Das kann der EuGH nicht ernsthaft gemeint haben.

Da der EuGH im folgenden Satz eine Einzelfallabwägung aller rechtlichen und tatsächlichen Umstände fordert, kann man dies als Aufforderung verstehen, keine generellen Aussagen zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu treffen, sondern sich stets auf den konkreten Einzelfall zu beschränken (C-253/23 Rn. 86). Allerdings lässt sich natürlich überhaupt nicht verhindern, dass einzelfallbezogene Aussagen verallgemeinert werden und jedenfalls auf gleichgelagerte Fälle auch übertragen werden müssen. Es stellt sich auch die Frage, welche weiteren Kriterien gemeinsam mit den Kriterien Komplexität und Verfahrenskosten denn ausreichend sein können. Denn unabhängig von solchen weiteren Kriterien gilt doch: wenn Chancen und Risiken nicht in ein ökonomisch tragfähiges Verhältnis gebracht werden können, dann ist die Anspruchsdurchsetzung praktisch unmöglich oder jedenfalls übermäßig erschwert. Eine kleinteilige Einzelfallbetrachtung, die einer Verallgemeinerung nur in geringem Maße zugänglich ist, würde dieses Verhältnis von Chancen und Risiken zu Lasten der Kläger weiterhin verschlechtern. Der mit ihr verbundene Verlust an Vorhersehbarkeit erhöhte das Prozessrisiko für die Kläger immens. Diese müssten dann stets damit rechnen, dass die Abtretungen doch unwirksam und die Ansprüche daher bei den Zedenten verjährt sind. Das kann nicht im Sinne des Effektivitätsgrundsatzes sein. Letztlich wird man in der Forderung nach einer Einzelfallabwägung nur die Mahnung des EuGH an die nationalen Gerichte sehen können, sich bei der Annahme der Unionrechtswidrigkeit nationaler Verfahrensrechte zurückzuhalten und dies nur als ultima ratio zu betrachten.

(3)             Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen Unionsrecht

Im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines Verstoßes des deutschen Rechts gegen den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz kommt der EuGH wenig überraschend zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall das deutsche Recht unangewendet bleiben müsse (C-253/23 Rn. 90 ff.). Interessant ist, dass der EuGH durch seine Formulierungen dem Landgericht Dortmund eine nochmalige Prüfung ans Herzen legt. So weist er nicht nur auf die Notwendigkeit der unionsrechtskonformen Auslegung hin (C-253/23 Rn. 91), sondern betont, dass die Bestimmungen des nationalen Rechts nur dann unangewendet gelassen werden können, wenn „überhaupt keine“ unionsrechtskonforme Auslegung möglich wäre (C-253/23 Rn. 93). Das ist eine überflüssige Betonung des Selbstverständlichen, die überhaupt nur Sinn ergibt, weil sie der EuGH in einen Zusammenhang mit den Zweifeln einiger Verfahrensbeteiligter an den Feststellungen des vorlegenden Gerichts stellt (C-253/23 Rn. 92). Letztlich bittet der EuGH das vorlegende Gericht, doch noch einmal ganz genau zu prüfen, ob es wirklich sicher ist, dass es keine Alternative dazu gibt, Vorschriften des deutschen Rechts unangewendet zu lassen.

(4)             Begrenzte Reichweite der Unanwendbarkeit?

Selbst für diesen Fall will der EuGH die Konsequenzen für das deutsche Recht möglichst begrenzen. So betonte er schon zuvor, dass auch wenn der Weg des Sammelklage-Inkasso den einzigen Verfahrensweg für die betroffenen Sägewerke darstelle, um ihre Schadensersatzansprüche geltend zu machen, die Unanwendbarkeit nationalen Rechts beschränkt sei. Die Feststellung, dass das Sammelklage-Inkasso der einzige Verfahrensweg sei, ließe nämlich „die Anwendung der nationalen Bestimmungen unberührt, die im Interesse des Schutzes des Einzelnen die Tätigkeit der Erbringer solcher Inkassodienstleistungen regeln, u. a. um die Qualität dieser Dienstleistungen sowie die Objektivität und Verhältnismäßigkeit der von solchen Dienstleistern erhaltenen Vergütungen zu gewährleisten und Interessenkonflikte wie auch missbräuchliche Verfahrenshandlungen zu verhindern.“ (C-253/23 Rn. 87).

Damit erweist der EuGH dem Anliegen des nationalen Gesetzgebers, dass dieser mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz verfolgt, seine Reverenz und erkennt dies als legitim an. Unklar bleibt jedoch, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Wenn der EuGH der Auffassung gewesen wäre, dass sich diese Regelungsanliegen gegenüber dem unionsrechtlich gewährten Recht auf Schadensersatz durchsetzen sollen, d.h. Regelungen anwendbar bleiben sollen, welche die Durchsetzung dieses Rechts praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, dann hätte er die Vorlagefragen verneinen müssen. Das hat er jedoch gerade nicht getan, obwohl das LG Dortmund die Frage der Rechtfertigung aufgeworfen hatte (NRWE Rn. 158 ff. = BeckRS Rn. 73 ff., dazu unten A.III.3).

Letztlich liegt hierin ein Aufruf des EuGH an das vorlegende Gericht, mit der Unanwendbarkeit des nationalen Rechts möglichst behutsam umzugehen und – im Wege einer Art praktischer Konkordanz – die Regelungsanliegen des nationalen Gesetzgebers zu respektieren. Die Unanwendbarkeit nationalen Rechts soll daher nur so weit wie unbedingt nötig angenommen werden und die Anliegen des nationalen Gesetzgebers sollen so weit wie möglich respektiert werden. Dies wirft interessante Fragen nach dem Ansatzpunkt für die Unanwendbarkeit auf:

(5)             Ansatzpunkt für die Unanwendbarkeit

Es liegt natürlich nahe, bei den Vorschriften des Rechtsdienstleistungsgesetzes anzusetzen und diejenigen Vorschriften entweder unionsrechtskonform auszulegen oder unangewendet zu lassen, die dem Abtretungsmodell entgegenstehen. Aber notwendig ist eine Gesamtwürdigung des deutschen Rechts (C-253/23 Rn. 83). Es gibt keinen zwingenden Grund, beim Rechtsdienstleistungsgesetz anzusetzen. Man könnte genauso gut überlegen, die Restriktionen bei der Verbandsklage nicht anzuwenden oder die Musterfeststellungsklage auch auf Ansprüche von Unternehmen anzuwenden. Am Ende wird das nationale Gericht den schonendsten Weg finden müssen. Will man beim Abtretungsmodell und dessen Einschränkung durch das Rechtsdienstleistungsgesetz bleiben, so kann man auch überlegen, an den Rechtsfolgen eines Verstoßes anzusetzen. Es muss ja nicht in Stein gemeißelt sein, dass Verstöße gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz zwingend zur Nichtigkeit der Abtretung führen, womit regelmäßig das Problem verbunden ist, dass die Ansprüche beim Zedenten verjährt sind. Denkbar wäre es auch, Vorgaben zur Sicherung der Qualität der Inkassodienstleistungen im Wege einer ergänzenden Vertragsauslegung in die Vertragswerke hineinzulesen, gegenüber erhöhten Vergütungsforderungen den Einwand des § 242 BGB zuzulassen oder bei bestehenden Interessenkonflikten Schadensersatzansprüche der Zedenten anzunehmen. All dies wäre möglich, ohne an der Nichtigkeit der Abtretungen festzuhalten. Insofern könnte das deutsche Recht entweder unionsrechtskonform ausgelegt werden oder unangewendet bleiben.

3.  Möglichkeit der Rechtfertigung der praktischen Unmöglichkeit der Kartellrechtsdurchsetzung?

Das LG Dortmund hat in seinem Vorlagebeschluss noch diskutiert, ob die Unmöglichkeit oder übermäßige Erschwerung der Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen ausnahmsweise gerechtfertigt sein kann. Es wirft die Frage auf, ob sich diese Rechtfertigung aus den Zielen der wirksamkeitsbeschränkenden Norm, d.h. dem RDG, ergeben könne (NRWE Rn. 158 ff. = BeckRS Rn. 73 ff.). Der EuGH geht hierauf nicht ein und verneint damit implizit die Möglichkeit einer Rechtfertigung. Dem ist angesichts der vom vorlegenden Gericht betonten Bedeutung des Interesses an der Durchsetzung des Kartellverbots und angesichts des Gewichts der Einschränkung auch ohne weiteres zuzustimmen.

4.  Ableitbare Aussagen zur follow-on-Situation

Inhaltlich äußert sich der EuGH nicht zur follow-on-Situation, da er die erste Frage mangels Relevanz für den Ausgangsrechtsstreit bereits als unzulässig angesehen hat (siehe oben A.III.1). Aus seinen Ausführungen zur zweiten und dritten Frage lässt sich jedoch ableiten, wie die erste Frage zu beantworten wäre, wenn sie sich in einem zukünftigen Fall stellen sollte. Auch in diesem Fall dürfte das europäische Recht einer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts entgegenstehen, die in einer follow-on-Situation die Geltendmachung und Durchsetzung eines Kartellschadensersatzanspruchs praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert.

Ob dies der Fall ist, wird der EuGH auch in diesem Fall der Entscheidung des nationalen Vorlagegerichts überlassen. Auch hier wird er auf einer ausgesprochen sorgfältigen Prüfung bestehen. Dabei wird sicher auch eine Rolle spielen, dass Mechanismen zur Bündelung individueller Forderungen nach Auffassung des EuGH „insbesondere die Erhebung von Stand-alone-Klagen auf Schadensersatz erleichtern“ (C-253/23 Rn. 85). Daraus mag sich entnehmen lassen, dass der EuGH die Erleichterung in follow-on-Situationen geringer bewertet. Dies mag ihn zu der Einschätzung führen, dass in diesen Situationen kein zwingendes Bedürfnis für eine Anspruchsbündelung besteht.

Angesichts der hohen Komplexität der Ermittlung der Schadenshöhe und den damit verbundenen hohen Kosten wird man das jedoch nicht für ausschlaggebend halten können. Es ist daher auch bei follow-on-Klagen denkbar, dass Auslegung und Anwendung des nationalen Verfahrensrechts dazu führen, dass die Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird. Sofern dann keine unionsrechtskonforme Auslegung möglich ist, ist das nationale Recht unangewendet zu lassen.

Wie die KI das Urteil interpretiert…

   IV.    Fazit

  1. Dem Urteil des EuGH ist im Ergebnis zuzustimmen. Eine Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts, die die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist mit dem Unionsrecht unvereinbar. Soweit keine unionsrechtskonforme Auslegung möglich ist, müssen die betreffenden Regelungen des deutschen Rechts unangewendet bleiben.
  2. Auffällig an dem Urteil des EuGH ist, dass er die Beurteilung, ob die nationalen Regelungen die Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, in die Hände des vorlegenden Gerichts legen will. Das kann nicht überzeugen. Richtigerweise obliegt die Tatsachenfeststellung, wie das nationale Recht zu verstehen ist, dem vorlegenden Gericht. Die unionsrechtliche Bewertung, ob damit aus Sicht des Unionsrechts die Durchsetzung von aus dem Unionsrecht folgenden Rechten praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, muss jedoch dem EuGH obliegen.
  3. Dieser Aufgabe entzieht sich der EuGH im vorliegenden Urteil weitgehend. Er macht dem nationalen Richter jedoch einige Vorgaben. Wenig hilfreich scheint es dabei zu sein, aus der Komplexität der Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen und den damit verbundenen Kosten allein noch keine unionsrechtliche Notwendigkeit der Anspruchsbündelung ableiten zu wollen. Sofern dies ernst gemeint sein sollte, ist die Betonung des Effektivitätsgrundsatzes in der Antwort auf die Vorlagefrage 2 letztlich bedeutungslos, weil der EuGH dann den Weg zur Anwendung des Grundsatzes verschlösse.
  4. Für das Landgericht Dortmund als vorlegendes Gericht ist das Urteil nur bedingt hilfreich. Es weiß nun, dass es allein auf das Primärrecht ankommt. Der EuGH hat den Effektivitätsgrundsatz bekräftigt. Gleichzeitig hat der EuGH zwischen den Zeilen sehr deutlich gemacht, dass er nicht in die Verfahrensregelungen der Mitgliedstaaten eingreifen will und sich das vorlegende Gericht gut überlegen soll, ob das wirklich nötig ist. Das hat das Gericht in seinem Vorlagebeschluss jedoch bereits getan. Es mag jetzt noch einmal in sich gehen und prüfen. Es wird aber kaum zu einem anderen Schluss kommen können. Denn am Ende des Tages ist entscheidend, ob Chancen und Risiken einer Anspruchsdurchsetzung in ein ökonomisch tragfähiges Verhältnis gebracht werden können.
  5. Die vom Landgericht Dortmund nun vorzunehmende Beurteilung, ob das deutsche Recht bei einer Gesamtwürdigung so ausgestaltet ist, dass es die Durchsetzung von Kartell Schadensersatzansprüchen praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist eine unionsrechtliche Frage. Dieser Aufgabe hätte sich daher der EuGH unterziehen müssen. Sie war in den Vorlagefragen angelegt. Dies hat er nicht getan, weil er den Feststellungen des Landgerichts Dortmund hierzu nicht getraut hat.
  6. Jede neue Entscheidung des Landgerichts Dortmund hierzu wird von der unterlegenen Partei mit der Begründung angegriffen werden, dass das Landgericht den unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz entweder zu lax oder zu streng angewendet habe. Dann ist ein neues Vorlageverfahren veranlasst. Sinnvoll mag es sein, diese Vorlage vom Bundesgerichtshof kommen zu lassen, weil dann – jedenfalls aus praktischer Sicht – kein Streit mehr darüber bestehen kann, wie das deutsche Recht zu verstehen ist.
  7. Viel sinnvoller wäre es jedoch, wenn jetzt der Gesetzgeber (endlich) tätig würde. Der EuGH kann eine umfassende Gesamtwürdigung des deutschen Rechts, um zu beurteilen, ob es dem primärrechtlichen Effektivitätsgrundsatz genügt, kaum in überzeugender Weise leisten. Das wird auch der Grund sein, warum er sich dieser Aufgabe im vorliegenden Urteil entzogen hat. Zudem ist es auch nicht die Aufgabe des EuGH (und an sich auch nicht des nationalen Gerichts) bei einer Vielzahl möglicher Ansatzpunkten im nationalen Recht zu bestimmen, welche Regelungen unangewendet bleiben sollen. Denn dies läuft in der Sache auf eine Rechtsänderung hinaus. Es ist aber Aufgabe des nationalen Gesetzgebers zu bestimmen, ob das RDG geändert oder eine Sammelklage eingeführt oder sonstige Gesetzesänderungen vorgenommen werden sollen. Im Ergebnis hat der EuGH den deutschen Gesetzgeber jetzt vor die Wahl gestellt: stelle sicher, dass der unionsrechtlich gewährte Schadensersatzanspruch effektiv durchsetzbar ist, oder nimm hin, dass diese Aufgabe von den Gerichten übernommen wird.
  8. Der deutsche Gesetzgeber sollte sich das zu Herzen nehmen. Er sollte mindestens klarstellen, dass das Abtretungsmodell sowohl in follow-on-Situationen als auch in stand-alone-Situationen möglich ist. Richtiger wäre es jedoch, endlich eine echte Sammelklage auch in Kartellschadensersatzfällen vorzusehen. Zum einen würde diese bei Massen- und Streuschäden wirklich allen Geschädigten helfen, auch den Endverbrauchern im Zucker-, Kaffee- und Bierkartell. Zum anderen ließe sich damit wohl auch das Problem der Schadensverortung in Fällen der möglichen Schadensabwälzung entschärfen. Ansonsten droht dies irgendwann der nächste Testfall für die Effektivität des deutschen Verfahrensrechts zu werden.

Der Autor, Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale), ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Direktor des Instituts für Kartellrecht.

Beitragsbild ganz oben: Lukas Szmigiel (Unsplash)

3 Gedanken zu „Die Säge am RDG

  1. Im Zeitpunkt der Vorlage legten die Instanzgerichte das RDG noch unterschiedlich aus. Seither sind die Landgerichte, die mit einem Verweis auf das RDG zahlreiche Verfahren erledigten, von ihren bisherigen Positionen abgerückt und folgen nunmehr ausdrücklich der Auslegung des BGH (die auch der Bundesgesetzgeber teilt). Einer Nichtanwendung des nationalen Rechts bedarf es also nicht, vielmehr lässt sich das RDG im Sinne einer Wirksamkeit der Abtretungen unionsrechtskonform auslegen. Bereits im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH lag die Entscheidung des OLG München vor, der zufolge auch im Kartellschadenersatz Ansprüche abgetreten und gebündelt werden können. Auch das OLG Stuttgart hat entsprechend entschieden. Das Unionsrecht spricht für die Möglichkeit der Bündelung; entsprechend auszulegen ist das RDG aber auch ohne diesen Rückgriff.

  2. Tonio Walter schrieb zur Einzelfallabwägung (Kleine Rhetorikschule für Juristen, 2. Aufl., 2017, S. 151 f.): >>Ich betrachte es daher als Alarmsignal, wenn in einer gerichtlichen Entscheidung die fast schon übliche Floskel auftaucht, dass sich vorliegender Fall einer „schematischen Lösung“ verschließe und man das Ergebnis nur bei „wertender Betrachtung“ finden könne, und zwar „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls“. Nun trifft es selbstverständlich zu, dass man eine Regel – nichts anderes ist ein Schema – nur anwenden darf, wenn ihr Tatbestand vollständig vorliegt und das Ergebnis keinen Anlass gibt, die Regel zu überdenken. Aber der Verzicht auf eine Regel zugunsten einer Wertung ohne vorher bestimmten Maßstab ist nicht weniger als der Verzicht auf Gerechtigkeit und Rechtssicherheit. Ursache ist ein Mangel an Lust oder Zeit, etwas rechtlich zu Ende zu denken. Nur die Form ist rhetorisch gekonnt: „schematisch“ hat einen schlechten Beigeschmack im Sinne von „blind“, obwohl es um regelgerechte, systemverträgliche, vorhersehbare Lösung geht. Und die Berücksichtigung „aller Umstände des Einzelfalles“ erweckt den Eindruck akribischer Detailarbeit zum Wohle der Kundschaft, obschon man lediglich einem Ergebnis Vorrang vor seiner Begründung einräumen will.<<

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