AGENDA 2025: Das strukturelle Kartellrecht – Zeit für ein Comeback?

AGENDA 2025: Das strukturelle Kartellrecht – Zeit für ein Comeback?

Dieser Artikel ist Teil der D-Kart Spotlights: Agenda 2025. In diesem kommentieren Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis einzelne Aspekte der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) vorgelegten Wettbewerbspolitischen Agenda. Die schon erschienenen Beiträge finden Sie hier.

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Die Hoffnung war groß, dass Wettbewerb große Unternehmen disziplinieren würde. Nach Dominik Piétron sind im Gegenteil die Konzerne immer mächtiger geworden und haben neue Instrumente entwickelt, um private Willkür durchzusetzen. Um die Gesellschaft wirksam vor wirtschaftlichen Oligarchen zu schützen, muss das Kartellrecht an den strukturellen Ursachen der Marktmacht ansetzen – so wie es das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz vorschlägt.

Die Marktkonzentration hat in den letzten Jahrzehnten zweifellos zugenommen. Große Unternehmen verdanken ihr Wachstum sowohl dem technologischen Fortschritt als auch einer unwirksamen Gesetzgebung im Kartellrecht, einem übermäßigen Schutz geistigen Eigentums und aggressiven Fusions- und Übernahmestrategien. In den letzten 35 Jahren wurden weltweit mehr als eine Million Fusionen und Übernahmen (M&A) abgeschlossen (Khan/Vaheesan 2016). Fusionen und Übernahmen hatten im Jahr 2021 den höchsten Transaktionswert in der Geschichte. Zudem wurde die Marktmacht großer Unternehmen durch ineffektive Wettbewerbsregulierungen und eine Ausweitung der Patentrechte weiter gestärkt (UNCTAD 2017). Der Teufelskreis aus Marktmacht und politischer Lobbymacht hat dazu geführt, dass schädliches rent-seeking-Verhalten von Unternehmen legitimiert wird und systematisch zu wachsenden Einkommensungleichheiten und Machtungleichgewichten in der Weltwirtschaft beiträgt.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Konzentration von wirtschaftlicher Macht können nicht länger ignoriert werden: Da das Eigentum und Anteile an Unternehmen sehr ungleich verteilt sind, landen die Gewinne meist bei den Eigentümern, Investoren und Managern. Vermögensverwalter, die viele Aktien von Unternehmen des gesamten Sektors halten, treiben börsennotierte Unternehmen dazu an, ihre Renditen zu steigern und aggressive Fusionen und Übernahmen zu tätigen, um dieses Ziel zu erreichen. Mächtige Unternehmen können ihre Gewinnspannen erhöhen, indem sie Lieferanten zu Preissenkungen zwingen, den Marktzugang kontrollieren und Größenvorteile nutzen. Es gehört zum allgemein ökonomischen Sachverstand, dass steigende Marktmacht privatwirtschaftlicher Unternehmen zu außerordentlichen Übergewinnen, sinkenden Anteilen am Arbeitseinkommen, geringeren Investitionen und geringerer Produktion führt.

Besonders deutlich wird dies in der digitalen Wirtschaft, in der Plattformen zu einer neuen Art von Monopsonen, d.h. nachfrageseitigen Monopolen, führen (Aghion et al 2021). Aufgrund ihrer Marktmacht sind Internetkonzerne wie Alphabet, Amazon, Apple, Meta, aber auch kleinere Plattformunternehmen wie Spotify oder Booking zum Gatekeeper für spezifische Markt(-segmente) geworden, in denen Unternehmen ihren Kunden digitale Inhalte, Dienstleistungen oder Produkte anbieten wollen. Aufgrund ihrer Macht, den Zugang zu „proprietären Marktplätzen“ (Staab 2019) zu kontrollieren, können sie die Marktregeln festlegen, ihre eigenen Produkte bevorzugen und wertvolle Marktinformationen gewinnen. Sie üben Druck auf ihre Geschäftskunden aus, schreiben die Preise vor, beeinflussen die Kaufentscheidungen ihrer Kunden und kopieren sogar profitable Produkte (Kolf 2021). Selbst Nischenplattformen wie Booking oder Spotify verwenden undurchsichtige Algorithmen, so dass es besonders schwierig ist, diese Imperien zu überwachen und zu regulieren. Angetrieben durch große Risikokapitalfonds investieren sie große Summen, um potenziellen Wettbewerb zu verhindern und ihre Marktposition durch den Aufkauf innovativer Newcomer zu festigen.

Oft wird vergessen, dass erst ein struktureller Eingriff der US-Kartellbehörde den Weg für BigTech frei machte. Durch die Zerschlagung des monopolistischen amerikanischen Telekommunikationsanbieters AT&T im Jahr 1983 öffnete die US-Kartellbehörde den Markt für digitale Newcomer, die sich in der Folge zu mächtigen Plattformunternehmen wie Google und Apple entwickelten (Kushida 2015). Dennoch wurde das strukturelle Kartellrecht in den folgenden Jahren erheblich abgeschwächt im Zuge des Auftstiegs der Chicago School in den Wirtschaftswissenschaften. Die Chicago Boys und ihre Nachfahren haben die traditionellen Ziele des Kartellrechts, wie etwa die Dezentralisierung ökonomischer Macht, untergraben und stattdessen sogar die Unternehmenskonzentration und die Entstehung von Big Playern gut geheißen um die Renditen für Aktionäre zu steigern. Anstatt marktbeherrschende Stellungen zu verbieten, schloss das Chicagoer Kartellrecht nunmehr nur deren Missbrauch aus. Das Paradigma des Wettbewerbsrechts wechselte zur ökonomischen Preistheorie, welche die Effizienz der Unternehmen und das Wohl der Verbraucher zu den einzigen – sehr eng gefassten – Entscheidungskriterien für regulative Maßnahmen machte. Das Kräfteverhältnis verschob sich in Folge eindeutig zugunsten internationaler Konzerne und des Finanzsektors verschoben, zu Lasten kleinerer und national ausgerichteter Unternehmen und Arbeitnehmer.

„We’re now 40 years into the experiment of letting giant corporations accumulate more and more power (…). I believe the experiment failed“

(US-Präsident Joe Biden, 2021)

„Deshalb soll mit der GWB-Novelle im Kartellrecht eine Entflechtungsmöglichkeit geschaffen werden, die unabhängig von einem nachgewiesenen Verstoß gegen das Kartellrecht anwendbar ist.“

(Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, 2022)

Was also ist nun die europäische Antwort auf übermäßige Marktmacht? Die EU-Kommission ist  zwar “possibly the strictest and most efficient antitrust institution” (Affeldt et al. 2021), doch ihre rechtlichen Verfahren gegen Google und Co wegen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung haben nichts an der Marktstruktur oder der Funktionsweise der Märkte geführt. Der neue Europäische Digital Markets Act bietet eine Reihe von Regeln für wirtschaftliche Gatekeeper, gilt aber nur für die digitale Wirtschaft, und selbst dort werden die grundlegenden wirtschaftlichen Missverhältnisse nicht adressiert, die strukturelle Missbräuche überhaupt erst ermöglichen. Darüber hinaus hat die EU-Kommission auch eine konzentrationsfördernde Haltung eingenommen, wenn es um strukturelle Maßnahmen gegen vertikale Integration und vertikale Fusionen geht. Von den rund 15.000 Fusionen pro Jahr werden 400 bei der Kommission angemeldet, circa 30 einer eingehenden Prüfung unterzogen, etwa 15 erhalten Auflagen, und kaum eine Fusion wird blockiert (Europäische Kommission 2021). Hier wird die historische Pfadabhängigkeit der neoliberalen Wettbewerbspolitik deutlich. Als die Kommission 1985 ihren Plan für die Verabschiedung von Fusionsregeln ankündigte, versicherte sie beispielsweise Unternehmensverbänden wie dem European Roundtable of Industrialists (ERT), UNICE (heute BusinessEurope) und AmChamEU, dass sie sich nicht auf den Standpunkt stellen würde, “dass es schlecht ist, die Großen zusammenzubringen” (Wigger/Buch-Hansen 2011). Stattdessen verweist die Kommission auf Synergieeffekte wie niedrigere Kosten und damit niedrigere Preise für die Verbraucher, Produktinnovationen und die Verdrängung ineffizienter Managementstrukturen. Zudem hat Exekutiv-Vizepräsidentin Margarete Vestager wiederholt davon abgesehen, die Macht der großen Technologiekonzerne durch “strukturelle Trennungen” zu beschneiden (Stolton 2020). Möglicherweise sieht die EU-Kommission keine Notwendigkeit, ihre Haltung zu ändern.

Um die Vorherrschaft des Wettbewerbs über soziale und ökologische Aspekte in Frage zu stellen und faire Marktstrukturen zu schaffen, sind mentale und politische Veränderungen erforderlich. Es hängt alles davon ab, dass das EU-Parlament, die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft strengere Wettbewerbsregeln fordern, um der zunehmenden Marktmacht in der EU entgegenzuwirken. Eine Möglichkeit ist, dass die deutsche Regierung die Initiative ergreift. Ihr Koalitionsvertrag sowie die neue „Wettbewerbspolitische Agenda“ des BMWK vom Februar 2022 kündigen an, die Fusionskontrolle und die Aufspaltungsoption auf europäischer Ebene zu stärken. Auch der Entwurf zur elften GWB-Novelle bekräftigt die Ambitionen zur Wiedereinführung struktureller Kartellmaßnahmen und kündigt ein missbrauchsunabhängiges Zerschlagungsinstrument an. Zusammen mit einer Allianz europäischer Länder wie Frankreich könnte es eine Chance geben, die Agenda der EU-Kommission zur Überprüfung des Wettbewerbs zu erweitern.

Die USA sind in dieser Hinsicht ein inspirierendes Beispiel. Unter dem Kabinett Biden ist derzeit ein Comeback des marktstrukturbasierten Wettbewerbsverständnisses zu beobachten, zum Beispiel in der Arbeit der Federal Trade Commission (2022) an strengeren Richtlinien für die Fusionskontrolle. Der Grundgedanke dieses ‚structural antitrust‘, der bis in die 1960er Jahre die Grundlage des kartellrechtlichen Denkens und Handelns bildete, besagt, dass konzentrierte Marktstrukturen wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen fördern. Nach dieser Auffassung ist ein Markt, der von einer sehr kleinen Zahl großer Unternehmen beherrscht wird, wahrscheinlich weniger wettbewerbsfähig als ein Markt mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Dies liegt daran, dass (1) monopolistische und oligopolistische Marktstrukturen es den dominanten Akteuren ermöglichen, sich leichter und subtiler abzustimmen, und weil monopolistische und oligopolistische Unternehmen (2) ihre bestehende Dominanz nutzen können, um neue Marktteilnehmer zu blockieren, (3) eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Verbrauchern, Lieferanten und Arbeitnehmern haben, was es ihnen ermöglicht, die Preise zu erhöhen und die Dienstleistungen und die Qualität zu verschlechtern, während sie ihre Gewinne aufrechterhalten (Khan 2017).

Vor diesem Hintergrund fordern das Europäische Parlament (2018) sowie zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen in Deutschland und der EU  stärkere strukturelle kartellrechtliche Instrumente, um die Menschen und den Planeten vor übermäßiger Macht von Unternehmen zu schützen: Zum einen bedarf eine stärkere Fusionskontrolle vieler Verbesserungen, von denen hier nur zwei genannt werden können (Valetti/Zenger 2019). Erstens sollten vermeintliche Effizienzgewinne bei der Prüfung von Fusionen keine Rolle spielen, stattdessen sollten strukturelle Annahmen zu Daten / Marktkonzentration und Nachfragemacht sowie Überlegungen zu Externalisierungseffekten von sozialen und ökologischen Kosten eingeführt werden. Zweitens sollte die Beweislast dafür, dass ein Zusammenschluss keine negativen Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft haben und den potenziellen Wettbewerb nicht einschränken wird, bei den beteiligten Unternehmen liegen, wenn die Möglichkeit einer derartigen Einschränkung besteht. Drittens müssen „Killer-Acquisitions“ verhindert werden, selbst wenn das zu übernehmende Unternehmen noch unterhalb der Schwelle der Marktbeherrschung liegt. 

Andererseits ist es an der Zeit für ein explizites missbrauchsunabhängiges Zerschlagungsinstrument für marktbeherrschende Unternehmen. Die strukturelle Trennung in bestimmten Sektoren wie Telekommunikation, Energie und Eisenbahn wurde bereits mehrfach diskutiert. Insbesondere in der digitalen Wirtschaft, wo Unternehmen dazu neigen, marktübergreifende Ökosysteme zu bilden, muss die strukturelle Trennung von Unternehmen zum Standardinstrumentarium der Wettbewerbsbehörden gehören. Es besteht kein bekanntes Beispiel dafür, dass sich eine solche Aufspaltung negativ auf den Markt ausgewirkt hätte (Kwoka/Valetti 2020). Vielmehr ist die Aufspaltung von Unternehmen nach vollzogenen Fusionen eine gängige Praxis und kann durchaus erfolgreich sein wie der Fall AT&T zeigt. Das Instrument der Aufspaltung sollte in allen Fällen eingesetzt werden, in denen marktübergreifende Macht der Konzerne einen fairen Geschäftsbetrieb und die demokratische Kontrolle bedroht, wie etwa bei Google Search/Android, Instagram/WhatsApp/Facebook oder den verschiedenen Sparten von Amazon. Damit hat ein solches Instrument auch eine disziplinierende Wirkung über den Einzelfall hinaus. Aufspaltungen ersetzen keine Regulierung. Aber sie gehen ein grundsätzliches Problem an: Die Konzentration wirtschaftlicher Macht und die daraus resultierenden Missverhältnisse.

Dominik Piétron ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zum Themenfeld ‚Politische Ökonomie des digitalen Kapitalismus‘.

Anmerkung: Diese deutsche Übersetzung des ursprünglich englischen Beitrages wurde am 19.10.2022 sprachlich überarbeitet.

Ein Gedanke zu „AGENDA 2025: Das strukturelle Kartellrecht – Zeit für ein Comeback?

  1. Ein interessanter Artikel. Mir stach insbesondere dies ins Auge: „Um die Vorherrschaft des Wettbewerbs über soziale und ökologische Aspekte in Frage zu stellen und faire Marktstrukturen zu schaffen […]“ Ich sehe eine gewisse Mode, Wettbewerb einerseits und soziale und ökologische Belange andererseits als unvereinbare Gegensätze darzustellen. Z.B. sollen Absprachen zu ökologischen Zwecken zulässig werden. Es wirkt so, als könnte der Wettbewerb bei ökologischen Belangen nicht helfen. Dabei dürfte das Gegenteil der Fall sein. Wettbewerb um besonders umweltfreundliches Verhalten dürfte hilfreicher sein als zweifelhafte Tierwohl-Labels (da bin ich bei Herrn Haucap und dem Kronberger Kreis). Der Gesetzgeber müsste sich entsprechend statt auf den Abbau des Wettbewerbs darauf konzentrieren, die Kosten umweltschädlichen Verhaltens bei den Verursachern zu internalisieren. Auch der Widerspruch zwischen Wettbewerb und sozialen Fragen überzeugt mich nicht. In Volkswirtschaften mit funktionierendem Wettbewerb geht es allen sozialen Schichten besser. Und die Beschränkung des Wettbewerbs wird schwerlich zu faireren Marktstrukturen führen. Die Einhegung von Big Tech erfordert auch keinen Abbau des Wettbewerbs. Es geht vielmehr darum, den Wettbewerb wieder herzustellen bzw. zu schützen. Mancher Ökonom sieht dort einen Widerspruch, weil Unternehmen keine Anstrengungen mehr im Wettbewerb unternehmen würden, wenn das Monopol nicht als Lohn winke. Das überzeugt mich nicht. Für viele Unternehmen liegt die marktbeherrschende Stellung in unerreichbarer Ferne, trotzdem liefern sie harten Wettbewerb.

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