Die Nationale Industriestrategie 2030 und das Wettbewerbsrecht – Size matters?

Die Nationale Industriestrategie 2030 und das Wettbewerbsrecht – Size matters?

Die Nationale Industriestrategie 2030 hat für Aufruhr gesorgt: Der Vorschlag von Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat Fragen und Antworten, die zumindest „kontrovers“ sind. Nach einem Aufruf von Wettbewerbsökonomen und einer Erläuterung vom zuständigen Abteilungsleiter im BMWi, führt Johannes Persch heute die Diskussion auf D’Kart fort.


Anfang Februar hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Nationale Industriestrategie 2030 („NIS“) präsentiert. Diese steht ganz unter dem Zeichen „size matters“. Es ist darin davon die Rede, dass sich im internationalen Wettbewerb zunehmend die Frage nach der „kritischen Größe“ von Industrieunternehmen stelle. Verwiesen wird darauf, dass große Verkehrsflugzeuge nur von großen Unternehmen gebaut werden und Internetplattformen und Banken eine „enorme Menge an Kapital“ benötigen. Das Wirtschaftsministerium blickt wehmütig zurück auf Zeiten, in denen die deutschen Unternehmen Grundig und AEG noch Weltmarktführer fahren. Das Entstehen derartiger deutscher (oder europäischer – immerhin soll die neue Industriestrategie nicht im Alleingang erfolgen) Großunternehmen scheitere oft an der Fokussierung der deutschen und europäischen Fusionskontrolle auf nationale und regionale Märkte. Deshalb müsse das geltende Wettbewerbsrecht überprüft werden, damit ein internationaler Wettbewerb deutscher und europäischer Unternehmen „auf Augenhöhe“ möglich bleibt. Im Kern geht es dabei darum, Zusammenschlüsse von großen Unternehmen zu ermöglichen.

Dieser Vorstoß ist nach der untersagten Fusion von Siemens/Alstom nicht überraschend. Er begegnet jedoch erheblichen wettbewerbspolitischen Bedenken. Das Strategiepapier vermag keine überzeugenden Gründe zu nennen, weshalb eine Lockerung der Fusionskontrolle erforderlich sei. Theoretisch könnten damit zwar Marktversagen oder Fragen der Verteilungsgerechtigkeit adressiert werden – das wird jedoch vom Wirtschaftsministerium nicht beabsichtigt. Für eine Ratserlaubnis als Pendant zur deutschen Ministererlaubnis auf europäischer Ebene liefert die NIS keine Argumente. Deshalb sollte diese Frage von der Debatte über die Industriestrategie als solche entkoppelt werden. Dies nicht zuletzt, weil das Strategiepapier vielversprechende andere Ansätze zur Reformierung des Wettbewerbsrechts (zur Stärkung des Wettbewerbs!) enthält, die anderenfalls zu scheitern drohen.


Was will das Wirtschaftsministerium in der Fusionskontrolle eigentlich ändern?

Die Aussage, dass das deutsche und europäische Wettbewerbsrecht wegen Fokussierung auf nationale und regionale Märkte Fusionen entgegensteht, trifft schlicht nicht zu. Zum einen werden Fusionen nur in äußerst seltenen Fällen überhaupt untersagt: Bei der Europäischen Kommission werden jedes Jahr zwischen 240 und 400 Fusionen angemeldet; untersagt werden – wenn überhaupt – in aller Regel nur ein oder zwei (s. Annual Activity Report der Kommission). Ähnlich sieht die Statistik des Bundeskartellamtes aus: Im Jahr 2017 war unter 1243 Entscheidungen nur eine einzige Untersagung (s. Jahresbericht 2017). Zum anderen berücksichtigen beide Behörden bereits jetzt sorgfältig, ob und inwieweit ausländische Unternehmen Wettbewerb auf heimische Unternehmen ausüben.

Im Rahmen der viel beachteten Siemens/Alstom Fusion hat die Kommission etwa intensiv untersucht, welche Rolle chinesische Anbieter in Zukunft spielen könnten (s. die Pressemitteilung der Kommission sowie diese Rede von Johannes Laitenberger).

Auch Synergieeffekte durch Fusionen werden bereits heute und nach geltendem Wettbewerbsrecht von den Wettbewerbsbehörden berücksichtigt, wenn diese an die Verbraucher weitergegeben werden (Horizontalleitlinien, Rn. 76 ff). Allerdings führen Fusionen eben nicht schon wegen der schieren Größe des daraus resultierenden Unternehmens per se zu Effizienzvorteilen.

Wenn das Wirtschaftsministerium künftig auch darüber hinausgehende Fusionen erlauben will, um einen Wettbewerb „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen, kann es damit also letztlich nur eines meinen: mehr Spielraum für die Politik, Fusionen zu erlauben, wenn sie wettbewerbsschädlich sind, aber es große ausländische Unternehmen in der gleichen Branche gibt, die den heimischen Unternehmen Marktanteile abzunehmen drohen. Dem Wirtschaftsministerium schweben hierbei in erster Linie chinesische Unternehmen vor.


Nationale Champions haben keinen Selbstwert

Das hat bereits Michael E. Porter in seinem Grundlagenwerk „The Competitive Advantage of Nations“ 1990 festgestellt. Dominante nationale Player haben nur selten einen internationalen Wettbewerbsvorteil. Die Förderung nationaler Champions birgt stets die Gefahr, dass damit nur herkömmliche Industrien und Unternehmen gefördert werden – deshalb erschwert sie Innovationen und Markteintritte und wirkt sich letztlich wettbewerbsbeschränkend und wohlstandsmindernd aus.

Das Strategiepapier nennt sogar beispielhaft einige „nationale Champions“ (Siemens, Thyssen Krupp, Deutsche Bank, Automobilhersteller) und zeigt damit deutlich, welche Unternehmen künftig begünstigt werden sollen: traditionsreiche herkömmliche Industrieunternehmen. Das scheint in einem weltweilten Umfeld, in dem bedeutende Innovationen häufig von Startups kommen, kaum der richtige Weg, um Innovationen in Deutschland und Europa zu fördern.

Entsprechend haben sich führende Ökonomen in einem offenen Brief mit guten Gründen gegen eine Lockerung der Fusionskontrolle und stattdessen für eine stärkere Wettbewerbspolitik ausgesprochen.


Rechtfertigung zum Schutz vor ausländischen Wettbewerbsverzerrungen?

Die NIS schlägt vor zu prüfen, inwieweit bei der Fusionskontrolle Wettbewerbsverzerrungen durch andere Staaten berücksichtigt werden können. Philipp Steinberg, Abteilungsleiter im Bundeswirtschaftsministerium, weist in seinem kürzlich hier erschienen Beitrag zutreffend darauf hin, dass sich staatliche Eingriffe auf die Marktstellung von Unternehmen auswirken. Es sei zu prüfen, ob dies in der Fusionskontrolle stärker berücksichtigt werden kann.

Es trifft zu, dass ein globales level playing field nicht existiert. In China herrscht eine völlig andere Wirtschaftsordnung als in Europa. Es ist dort üblich, dass Unternehmen durch den Staat geschützt und subventioniert werden und dass auf unternehmerische Entscheidungen Einfluss genommen wird. Ersteres kann dazu führen, dass sie einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen aus Europa haben. Soweit von diesen Unternehmen bereits Wettbewerbsdruck auf europäische Unternehmen ausgeht, muss dies nach geltendem Recht berücksichtigt werden. Die Europäische Kommission prüft nach den Horizontalleitlinien (Rn. 68 ff.) zum Beispiel inwieweit durch wahrscheinliche Marktzutritte Wettbewerbsdruck auf die Zusammenschlussparteien ausgeübt wird. Marktzutritte durch subventionierte und staatlich kontrollierte Unternehmen sind aber nicht per se wahrscheinlicher als durch sonstige Unternehmen. Im Gegenteil ist es besonders schwierig, das Verhalten solcher nicht (vollständig) wettbewerblich handelnden Akteure einzuschätzen. Wettbewerb heute zu sparen, um (vielleicht!) morgen gegen subventionierte chinesische Staatsunternehmen konkurrieren zu können, ist daher der falsche Weg. Hier sollten zielgenauere Maßnahmen unter Einschluss außenhandelsrechtlicher Instrumente der EU vorrangig in Erwägung gezogen werden.

Soweit weder jetzt noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Zukunft Wettbewerbsdruck von diesen Unternehmen ausgeht, würde die Erleichterung von nach geltendem Recht zu untersagenden Fusionen letztlich darauf hinauslaufen, dass ein so erlaubter „Champion“ in Deutschland oder Europa eine Monopolrendite durch Ausbeutung der Verbraucher erzielen kann, um sich dann auf anderen Märkten gegen subventionierte Konkurrenz aus China durchsetzen zu können. Die Fusionskontrolle als Instrument zu nutzen, um Druck auf andere Länder auszuüben, erscheint ebenfalls nicht zielversprechend. China wird kaum aus Furcht vor dem Entstehen europäischer Champions seinen Markt weiter dem Wettbewerb öffnen.


Rechtfertigung durch Marktversagen?

Theoretisch rechtfertigen ließe sich die wettbewerbswidrige Fusion großer Unternehmen dann, wenn dadurch einem Marktversagen begegnet werden soll. Die Fusionskontrolle könnte dann als Instrument genutzt werden, solches Marktversagen auszugleichen. Dazu folgendes Beispiel: Angenommen, es gibt in Europa zu viele Kraftfahrzeuge auf den Straßen und diese haben die Externalität eines hohen Schadstoffausstoßes zur Folge, so wäre eine Fusion von Kraftfahrzeugherstellern eventuell gerade dann sinnvoll, wenn sie zu höheren Preisen und einem geringeren Verkauf von Fahrzeugen führen würde. Die wettbewerbswidrige Fusion wäre gesellschaftlich wünschenswert. Zwar nennt das Strategiepapier die Automobilindustrie; dass das Wirtschaftsministerium jedoch beabsichtigt, marktbeherrschende Unternehmen zu fördern, um deren Output zu reduzieren, liegt fern. Solche Fusionen würden auch gerade nicht Umweltkosten internalisieren, sondern marktbeherrschenden Unternehmen eine Monopolrendite verschaffen. Die Reduzierung des Outputs wäre gewissermaßen nur eine schwer planbare Nebenfolge. Auch hier stehen spezifischere Mittel zur Verfügung, allen voran staatliche Beihilfen und Lenkungssteuern, um einem Marktversagen entgegenzuwirken.


Rechtfertigung durch Erwägungen der Verteilungsgerechtigkeit?

Von der ökonomischen Beurteilung traditionell nicht erfasst sind Fragen der Verteilungsgerechtigkeit. Eine Fusion kann zwar insgesamt zu Wohlfahrtsverlusten führen, einzelne Regionen oder Personengruppen können aber davon profitieren. Dann stellt sich die Fusion als Wohlstandstransfer dar. Solche Erwägungen sind nicht neu, sie können im nationalen Recht bereits durch die Ministererlaubnis (§ 42 GWB) berücksichtigt werden. Das dürfte etwa bei der Ministererlaubnis für die 2008 durch das Bundeskartellamt zunächst untersagten Fusion des Universitätsklinikum Greifswald und dem Krankenhaus Wolgast der Fall gewesen sein. Das Wirtschaftsministerium erlaubte die Fusion trotz befürchteter erheblicher Wettbewerbsbeeinträchtigungen unter anderem, um die strukturschwache Region Pommern zu fördern.

Weil solche Kriterien durch die Ministererlaubnis bereits berücksichtigt werden können, ist eine Änderung des deutschen Wettbewerbsrechts dafür nicht erforderlich. Im europäischen Wettbewerbsrecht ist eine entsprechende Regelung dagegen nicht vorgesehen. Die Kommission ist für die Fusionskontrolle auf europäischer Ebene ausschließlich zuständig (s. Erwägungsgrund 17 der Fusionskontrollverordnung). Möglichkeiten, ihre Entscheidungen durch andere Organe – mit Ausnahme des Europäischen Gerichtshofes – außer Kraft zu setzen, gibt es nicht. Das mit dem Strategiepapier zusammenhängende „deutsch-französische Manifest über die Industriepolitik“ schlägt vor, Möglichkeiten für den Rat zu prüfen, in angemessenen Fällen, Entscheidungen der Kommission in der Fusionskontrolle außer Kraft zu setzen. Der Rat könnte dann eine Fusion mit Blick auf ihre Verteilungsgerechtigkeit prüfen.

Nur: Das scheint so gar nicht das zu sein, was dem Wirtschaftsministerium vorschwebt. Maßstab müsste dann nämlich die Verteilungsgerechtigkeit in Europa sein. Europäische Champions würden aber in der Tendenz eher durch Fusionen von großen Unternehmen aus reichen Mitgliedstaaten wie Deutschland und Frankreich entstehen und Wohlstand daher eher von unten nach oben verteilen, zum Nachteil weniger entwickelter Mitgliedstaaten. Das aber dürfte mit den in Art. 2 und Art. 3 EUV niedergelegten Grundsätzen der Solidarität und Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten kaum vereinbar sein.

Eine Ministererlaubnis (oder besser Ratserlaubnis) auf europäischer Ebene müsste daher schon auf andere Gründe als „size matters“ gestützt werden.


Wie sollte es weiter gehen?

Die Idee des Wirtschaftsministeriums, im Rahmen der Fusionskontrolle „nationale und europäische Champions“ zu fördern, stößt auf erhebliche Bedenken. Wo eine Fusion großer Unternehmen – auch mit Blick auf Effizienzvorteile und ausländischen Wettbewerb (auch durch staatlich geförderte Unternehmen) – keine Wettbewerbsnachteile bringt, ist sie bereits jetzt erlaubt. Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums nennt keine plausiblen Gründe, warum sie auch in anderen Fällen erlaubt sein sollte – Marktversagen oder Verteilungsgerechtigkeit stehen jedenfalls nicht im Fokus der Nationalen Industriestrategie 2030. Es bleibt zu hoffen, dass die Industriestrategie in Bezug auf die Erweiterung der Fusionskontrolle tatsächlich nur die Debatte anregen soll, wie Wirtschaftsminister Altmaier auf der International Competition Conference gesagt hat. Auch im Mitte März erschienenen gemeinsamen deutsch-polnischen Industriepapier ist nur noch allgemein davon die Rede, dass diskutiert werden muss, ob das Europäische Wettbewerbsrecht aktualisiert werden muss. Philipp Steinberg hat sich ebenfalls dahingehend geäußert, dass keine Absicht besteht, einen der Ministererlaubnis entsprechenden Mechanismus auf europäischer Ebene zu schaffen. Es solle nur die Prüfung einer solchen Möglichkeit angeregt werden. Es bleibt jedoch dabei, dass die industriepolitischen Zielsetzungen des Bundeswirtschaftsministeriums keine plausiblen Argumente liefern, die für eine solche Neuregelung sprechen. Die Debatte über eine Ratserlaubnis sollte daher von der Debatte über die Industriestrategie getrennt geführt werden.

Es bleibt unklar, welchen Mehrwert die stärkere Berücksichtigung ausländischen wettbewerbswidrigen Verhaltens in der Fusionskontrolle haben soll. Die Fusionskontrolle ist nicht das geeignete Instrument, um auf ein internationales level playing field hinzuarbeiten. Das Wirtschaftsministerium sollte sich insoweit für den Einsatz anderer Instrumente stark machen (insbesondere Handelsschutzinstrumente, Kontrolle ausländischer Direktinvestitionen und Förderung des Multilateralismus).

Andere Aspekte des Strategiepapiers sind durchaus begrüßenswert und sollten weiterverfolgt werden. Dies gilt insbesondere für eine stärkere Missbrauchskontrolle. Denkbar ist auch eine Absenkung der Umsatzschwellen für Fusionen mit besonders hohem Transaktionswert, wie sie ebenfalls Philipp Steinberg ins Spiel bringt. Hier könnte die Europäische Fusionskontrolle dem deutschen und österreichischen Beispiel folgen. Tech-Übernahmen wie Facebook/Whatsapp wären dadurch leichter zu fassen.

Johannes Persch, LL.M. (Chicago) ist Rechtsreferendar am Landgericht Düsseldorf und wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, deutsches und europäisches Wirtschafts- und Arbeitsrecht (Professor Kainer) an der Universität Mannheim.

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