Don’t You (Forget About Me)

Don’t You (Forget About Me)

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Zitiervorschlag: Klumpe, DKartJ 2024, 1-3

Dr. Gerhard Klumpe, einer der bekanntesten Kartellrichter Deutschlands, hat in Brüssel über die private Kartellrechtsdurchsetzung in führenden Jurisdiktionen diskutiert. Für unseren Blog D’Kart schildert der Vorsitzende Richter am Landgericht Dortmund seine Eindrücke zu den internationalen Tendenzen im Private Enforcement.

Don’t You (Forget About Me) – diese Hymne der Simple Minds kennt nicht nur jeder, der in den 1980ern aufgewachsen ist, sondern sie ist auch die prägendste Musik des Films The Breakfast Club, in dem sich fünf Personen des Morgens treffen, um über tiefgreifende Probleme zu sprechen und dabei eine Menge von sich oder doch ihren Erfahrungen preis zu geben.

Das Set-up beim Frühstück in Brüssel

Genau an diese Szene erinnerte das Zusammentreffen von 4 Richterinnen und Richtern mit ihrer Moderatorin zum Frühstück im Le Chatelain in Brüssel anlässlich der dort stattfindenden, von Informa Connect organisierten Veranstaltung CompLaw: Private Enforcement 2024. Sollte bei Kaffee, Tee und Brötchen eigentlich nur eine letzte Abstimmung über das folgende, mit Judges´ Roundtable überschrieben Panel stattfinden, so ging es stattdessen sofort mit der Diskussion der Sachthemen los, und das derartig angeregt, dass die Beteiligten beinahe den Beginn der Veranstaltung verpasst hätten. Doch waren es nur wenige Schritte, um in den eigentlichen Veranstaltungssaal umzuziehen und einfach das Gespräch dort vor dem interessierten Publikum fortzuführen.

Der hier am Judges Round Table zusammentreffende Frühstücksclub bestand aus Vertreterinnen und Vertretern der derzeit wohl wichtigsten Foren für Kartellschadensersatzklagen, nämlich aus den Niederlanden (Elske Boerwinkel, NCC District Court), aus Spanien (Gustavo Andrés Martín Martin, Commercial Court n.1 Alicante), aus Großbritannien (Ben Tidswell, Chairman Competition Appeal Tribunal) und aus Deutschland (der Autor dieser Zeilen hier), moderiert von niemand Geringerer als Dorothy Hansberry-Bieguńska (Hansberry Tomkiel, Polen).

Zunächst wurde ein kurzer Überblick über die durch die Rechtsprechung des EuGH sowie der nationalen (Höchst-)Gerichte zwischenzeitlich gelösten Rechtsfragen geboten, wobei auch jüngste Rechtssprechungsentwicklungen wie etwa die 15 Entscheidungen des Tribunale Supremo (TS) und die bekannte Entscheidung des CAT (Royal Mail Group Ltd. v DAF Trucks Ltd., Urt. v. 07.02.2023, [2023] CAT 6) erörtert wurden. Gustavo Martin kündigte zudem das Bevorstehen weiterer Entscheidungen des TS in den kommenden Wochen an, die weitere Klärungen insbesondere im Hinblick auf die Ermittlung der Schadenshöhe versprechen würden. Dies gab den Startschuss für die Erörterung der fortbestehenden Probleme von Kartellschadensersatzklagen.

In allen Jurisdiktionen stehen zwei Themen im Blickpunkt: Zum einen geht es um die Handhabung großvolumiger (Sammel-)Klagen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie der Schadensumfang ermittelt wird. Diese Frage ist gepaart mit der Frage nach Art und Weise der Einführung ökonomischer bzw. ökonometrischer Expertise in den Rechtsstreit sowie die Behandlung und Bewertung solcher Gutachten (und möglicher Alternativen hierzu).

Der Umgang mit großvolumigen (Sammel-)Klagen

Während im Hinblick auf den ersten Aspekt in Großbritannien sowie den Niederlanden Kartellschäden praktisch durchweg in Form gebündelter Klagen verfolgt werden, sind in Spanien kleine und kleinste Klagen vorherrschend. Zudem besteht dort – ähnlich wie in Deutschland, wo bekanntlich beide Vorgehensweisen zu verzeichnen sind ­– eine gewisse Skepsis in Bezug auf Sammelklagen.

Gleichwohl erschien es aus Sicht aller am Panel Beteiligten als wahrscheinlich, dass in Zukunft die Bündelung von Ansprüchen der maßgebliche Weg zur Anspruchsverfolgung sein wird, schon zur einfacheren und umfassenderen Generierung von Daten und natürlich aufgrund besserer Optionen der Prozessfinanzierung. In den Niederlanden besteht dabei neben den auch in Deutschland in der Diskussion stehenden Abtretungsmodellen die Option, Klagen durch die Gerichte selber zu bündeln. Zudem sieht auch das niederländische Prozessrecht seit 2020 die Möglichkeit von Anspruchsbündelungen vor (vgl. zur Situation dort schon Klumpe/Weber NZKart 2021, 492 ff.). Dennoch bleibt das – höchstrichterlich auch in den Niederlanden noch nicht bestätigte –Abtretungsmodell auch hier vorherrschend.

Dabei sind die Umfänge der Klagebündel schon bei den jetzt anhängigen Klagen enorm. In den Niederlanden umfasst im LKW-Kartell eines der Verfahren vor der Rechtbank Amsterdam mehr als 200.000 Erwerbsvorgänge. In Deutschland ist eine ähnliche Zahl von Umsatzgeschäften in Fällen des Rundholzkartells und des Pflanzenschutzmittelkartells zu verzeichnen. Dies stellt die Gerichte aller Länder vor erhebliche Herausforderungen, wobei die Grundvoraussetzungen und Werkzeuge zur Bewältigung solcher Prozessungetüme in den Jurisdiktionen durchaus unterschiedlich sind.

Verschiedene Instrumente

Die Gerichte in Großbritannien verfügen nicht nur über einen breiten Erfahrungsschatz, sondern auch über besondere Vorschriften im Hinblick auf Sammelklagen. Sie kennen auch das in den letzten Jahren entwickelte Konzept des blueprint to trial im Hinblick auf die ökonomischen Fragen und die anzuwendenden Methoden. Damit ist gemeint, dass das CAT einen „Proposed Class Representative“ erwartet, der eine sachverständig informierte Methodik vorlegt, auf die die Klage gestützt wird – das ist der Blueprint, der vorab vorgelegt werden muss.

In Spanien und Deutschland mangelt es an solchen speziellen Regelungen für die derzeit anhängigen Klagen. Auch in den Niederlanden existieren keine gesonderten Regelungen für die dort durch die Gerichte selbst oder in Form von Abtretungsmodellen herbeigeführten Bündelungen.

In den letztgenannten Jurisdiktionen haben die Gerichte daher selbst begonnen, die Vorgaben der jeweiligen Prozessordnung den praktischen Erfordernissen anzupassen. Insoweit bestand auf dem Panel Konsens, dass die Verfahrensordnungen zwar den Anforderungen dieser umfangreichen Prozesse nicht genügen, aber notwendigen Anpassungen auch nicht entgegenstehen (vgl. insoweit für Deutschland etwa Klumpe WuW 2022, 596 ff.). In allen Rechtsordnungen kristallisiert sich dabei die Anberaumung einer Case Management Conference als Mittel der Wahl zur frühzeitigen Strukturierung des Verfahrens und zur Herausarbeitung der wesentlichen ökonomischen Themen des Falles heraus.

Zu verzeichnen ist eine Akzeptanz dieser Vorgehensweisen durch die Prozessbeteiligten, wobei im Übrigen in der Diskussion durchaus Abweichungen im Prozessverhalten der Parteien in den einzelnen Jurisdiktionen festgestellt werden konnten. Für die Niederlande ließ sich die Bereitschaft der Beteiligten zu einer in gewisser Weise kooperativen Prozessführung feststellen, was Ausdruck findet in sog. joint submissions (gemeinsamen Stellungnahmen sämtlicher Beteiligter auf einer Prozessseite, also etwa aller Beklagten, zur Verringerung des Umfangs des Prozessstoffes) sowie auch der gemeinsamen Fokussierung auf die Kernprobleme (agree/disagree-statements). In Großbritannien ist zumindest Kooperationsbereitschaft zwischen den Parteigutachtern festzustellen, wenn diese im Rahmen von Case Management Conferences unmittelbar vom Gericht und somit ungefiltert durch Prozessvertreter der Parteien angehört werden. Für Spanien hingegen ist die Tendenz festzustellen, die Prozesse vollumfänglich streitig auszufechten.

Die Feststellung der Schadenshöhe

Im Hinblick auf die Schadensfeststellung selber stellt sich eine große Bandbreite des Vorgehens in den Rechtsordnungen heraus. Ein erster großer Unterschied ist bereits, dass durch das Gericht bestellte Gutachter etwa in Großbritannien nicht vorgesehen sind, dafür indes die Richterbank des CAT auch mit Ökonomen besetzt ist. Letzteres ist in den drei anderen Jurisdiktionen nicht der Fall, wobei allerdings mit der Neufassung des § 144 Abs. 1 ZPO in Deutschland den Gerichten die Möglichkeit eröffnet wird, Sachverständige auch außerhalb der eigentlichen Beweisaufnahme zu Zwecken der Beratung des Gerichts in Sachfragen heranzuziehen (vgl. hierzu Klumpe WuW 2024, 12, 16).

Diskutiert wurden zunächst die Anforderungen an die Darlegung und dann ggf. das Beweismaß im Hinblick auf die Erwerbsvorgänge als Grundlage jeder Schadensberechnung, insbesondere vor dem Hintergrund, ob insoweit Änderungen der Anforderungen bei großen Sammelklagen zu erwarten sind. Während für Deutschland aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BGH zum Merkmal der Kartellbetroffenheit unter allen Umständen § 286 ZPO zur Anwendung kommen dürfte, sind die Anforderungen in Großbritannien geringer. In den Niederlanden dürfte diese Frage in der jetzigen Phase des LKW-Kartell-Prozesses zur Entscheidung anstehen.

Zur eigentlichen Feststellung des overcharges kommen in Deutschland praktisch alle denkbaren Modelle (freie Schätzung im Schienenkartell vor dem LG Dortmund, Einholung eines Gerichtsgutachtens im Zuckerkartell vor dem LG Mannheim, Schätzung auf Grundlage von Parteigutachten ohne Bestellung eines Gerichtsgutachtes in diversen Kartellverfahren vor dem LG Berlin) zur Anwendung. In Spanien sind Schätzungen ohne Gerichtsgutachter, und oft genug auch ohne Berücksichtigung der vorgelegten Parteigutachter, zu verzeichnen (vgl. hierzu auch Bornemann/Suderow NZKart 2023, 478, 479). Der CAT brachte in der oben näher bezeichneten Entscheidung Royal Mail Group die mittlerweile schon sprichwörtliche Broad Axe zum Einsatz (ausführlich dazu Tolkmitt ZWeR 2023, 309 ff. und jetzt ganz aktuell auch High Court Case Cl-2016-000758, zuletzt abgerufen am 12.2.2024).

Das Nullschadensparadox

Diskutiert wurden selbstverständlich auch diverse Ansätze zur Behandlung des Nullschadensparadox – oft verlangen die Gerichte nunmehr eine Art theory of no harm in Form einer Erläuterung, warum ein lang andauerndes Kartell trotz seiner vorgeblichen Wirkungslosigkeit aufrechterhalten wurde (hierzu auch Schweitzer/Woeste ZWeR 2022, 46 und LG Dortmund, 8 O 4/18 Kart) – sowie die Frage nach der Anerkennung eines auf dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz basierenden Mindestschadens von 5% und mehr aufgrund der Rechtsprechung des EuGH (C‑100/21 Mercedes-Benz Group AG) und des BGH (VIa ZR 335/21, Rn. 74 – juris) in den bekannten „Dieselfällen“; ein Thema, das auch im weiteren Verlauf der Konferenz noch auf der Agenda stand.

Was es zu lernen gilt

Als Fazit des Round Table lässt sich festhalten, dass Schadensersatzzahlungen und Vergleiche aufgrund im Rahmen des private enforcement eingebrachter Klagen Realität geworden sind, auch wenn diese eine umfängliche und noch längst nicht beendete Evolution durchmachen mussten. Oder mit den Worten des spanischen Kollegen: Europa musste einst lernen, dass Kartelle schlecht sind, vielleicht mussten wir jetzt erst lernen, dass private Durchsetzung des Kartellrechts gut ist.

Und nach einem solchen Panel voller Informationen und Ideen geht jeder Beteiligte sodann vom Podium wie weiland John Bender, der rebellische Freak des Breakfast Clubs, innerlich die Faust reckend und „naaaa, nanananaaaa“ summend

Dr. Gerhard Klumpe ist Vorsitzender Richter am Landgericht Dortmund und Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

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