„Kartellschadensersatzprozesse laufen in Deutschland zu lang!“

„Kartellschadensersatzprozesse laufen in Deutschland zu lang!“

Wer Kartellschadensersatzverfahren an deutschen Gerichten verfolgt, kann zuweilen nur den Kopf schütteln. Müssen diese Verfahren wirklich so lange dauern? Muss wirklich jedes Detail derart in Zweifel gezogen werden? Rechtsanwalt Prof. Dr. Johannes Heyers meint: Hier werden Dinge künstlich verkompliziert – daran sind erstinstanzliche Gerichte und auch die Anwaltschaft nicht unschuldig. Ein Weckruf.

Der in neuerer Zeit vermehrt zu lesende Appell, Kartellschadensersatzprozesse „laufen in Deutschland zu lang“ (so zuletzt zutreffend Tilman Makatsch, LebensmittelZeitung 34/22), wird zunehmend sogar von Beklagtenvertretern zwar nicht an den Gesetzgeber – wer immer das auch ist –, aber doch in den herrschaftsfreien Diskurs der sozialen Medien gerichtet. Die Länge der Laufzeit haben diese fein beobachtet. Vielleicht werden sie sich auch fragen, worauf diese Länge zurückzuführen ist.

Ganz sicher ist das Kartellschadensersatzrecht kompliziert, und man sollte sich vor simplifizierenden oder gar polarisierenden Aussagen hüten. Aber man sollte das Kartellschadensersatzrecht nicht noch komplizierter machen, als es ohnehin schon ist. Es besteht eine starke tatsächliche Vermutung dafür, dass die Verkomplizierungsstrategien in Kartellschadensersatzprozessen nicht von den (ohnehin überlasteten) Gerichten erfunden wurden, und auch nicht von den Klägern, die an einer einfachen und schnellen Rechtsdurchsetzung interessiert sind. Ein über viele Schriftsätze – kartellübergreifend – hinweg verwandter Einleitungssatz namhafter Beklagtenvertreter, mit dem diese auf eine eher knappe, aber schlüssige Kartellschadensersatzklage erwiderten, lautete: „So einfach ist es nicht.“

Meisterschaft an Detailarbeit

Was dann jedoch jeweils schon bei einer Fernsicht zu folgen drohte, war auf den ersten Blick – wie üblich – eine wahre Meisterschaft an Detailarbeit der Beklagtenvertreter. Bei näherer Betrachtung zeigte sich indes stets, dass die Diskussion darüber, ob vereinzelt bei der Schadensschätzung missachtete Kosten von Lkw-Fahrzeugbriefen und -scheinen (in einer Größenordnung von wenigen Euro) oder einer Handyvorrichtung am Armaturenbrett ganze Datenpools unbrauchbar machen, vielleicht doch unverhältnismäßig sein könnte.

Die Beklagtenvertreter haben selbstverständlich von Beginn an realisiert, dass es weniger auf Mitwirkung bei der Rechtsfindung, sondern darauf ankommt, die wirtschaftlich und informatorisch unterlegenen Schadensersatzkläger ebenso zu zermürben wie die Gerichte. Die finanziellen Ressourcen jener und die personellen dieser sind naturgemäß begrenzt. Der Erfolg einer Verkürzung der Länge von Kartellschadensersatzprozessen wird künftig maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, Waffengleichheit zwischen den Prozessparteien von Kartellschadensersatzverfahren herzustellen und insbesondere unnötige Verkomplizierungstaktiken der Beklagten zu unterbinden.

Dazu ist es allerdings nicht förderlich, den zeitlichen Anwendungsbereich von Informationsansprüchen, die – für die derzeit virulenten Fälle – ohnehin den Klägern noch nicht zur Verfügung stehen, legislativ-kosmetisch etwas nach vorne zu verschieben, oder die Kläger – falls ihnen vorprozessuale Informationsansprüche zustünden – in ein jahrelanges, noch zermürbenderes Vorgeplänkel beschwerdefähiger Entscheidungen z.B. über den Umfang von Geschäftsgeheimnissen zu führen. Ebenso wenig hilft es, eine Vermutung in der Art des § 33a Abs. 2 S. 4 GWB zu statuieren, von der keiner ganz genau sagen kann, wozu sie überhaupt taugen soll. Es lässt sich darüber nur trefflich diskutieren.

Aufgabe der Gerichte

Vielmehr liegt es gerade in den Händen der Gerichte, der privaten Kartellrechtsdurchsetzung zum Erfolg zu verhelfen, indem Verfahren vereinfacht und verkürzt werden. Doch gerade hier sind vereinzelt – und man möchte fast sagen: regional – Defizite zu verzeichnen. Selten findet die erste mündliche Verhandlung eher als vier Jahre nach Klageerhebung statt. Viel beachtete Urteile wie jenes des LG Frankfurt vom 03.08.2022, mit dem eine Klage zehn Jahre nach ihrer Erhebung wegen – vermeintlicher – Verjährung abgewiesen wurde, stiften ebenso wenig Verständnis bei den betroffenen Geschädigten wie divergierende Rechtsansichten mehrerer Kammern desselben Gerichts (etwa des LG Stuttgart). Es ist kaum verständlich zu machen, dass eine Kammer etwa erhebliche, „unüberwindbare“ Zweifel an der Entstehung eines Kartellschadens hegt, die andere jedoch keineswegs. 

Es wirkt teilweise fast so, als solle die abschreckende Wirkung von Kartellschadensersatzklagen nicht die beklagten Kartellanten, sondern die klagewilligen Geschädigten erreichen. Denn untergerichtliche Spruchkörper errichten oft Hürden, die sich mit den rechtlichen Anforderungen nicht decken. So ist dem deutschen Prozessrecht – von kollektivem Rechtsschutz soll hier trotz seiner Aktualität und Bedeutung einmal nicht die Rede sein – wohl ein Grundsatz fremd, nach dem sich der Erwerb kartellbefangener Güter ausschließlich durch Rechnungen belegen ließe; der Erwerb etwa eines neuen Lkw kann auch auf andere Weise nachgewiesen werden. Gerichte sollten gerade im Hinblick auf die handels- und steuerrechtlichen Aufbewahrungsfristen, die oft abgelaufen sind, bevor es zu einer kartellrechtlichen Anspruchsdurchsetzung kommen kann, in diesem Punkt nicht zu streng sein. Es ist kaum verständlich, Klägern einerseits die Vorlage abertausender alter Rechnungen etwa für Zucker, die in monatelanger Arbeit aus Kellern zusammengeklaubt werden müssen, aufzuerlegen, andererseits das Fehlen einzelner Belege vorzuhalten, wenn ein Bezug von Zucker schon deshalb lückenlos erwiesen und quantifizierbar ist, weil ein kartellgeschädigter Abnehmer kontinuierlich bestimmte Mengen an Marmelade produziert hat. Die vermeintlich mehrfachen Schwierigkeiten einer Schadensschätzung bilden kein durchgreifendes Argument, zumal regelmäßig auf Geschäftsparameter aus Parallelgeschäften oder Angaben in sonstigen Dokumenten (z.B. Warenwirtschaftssystem) geschlossen werden kann.

Der von den Gerichten erwartete Standard, wie kartellbefangene Bezüge dargestellt und aufbereitet werden müssen, hat schon zur Herausbildung eines darauf fokussierten neuen Marktes für Legal-Tech-Dienstleister geführt, die sich ihre Arbeit teuer bezahlen lassen. Manche Gerichte sehen sich auch nicht veranlasst, Dokumente selbst eingehend durchzusehen. Selbst wenn ein Nachweis gelingt, spielen die Beklagten ihren letzten Trumpf aus: Der Kläger habe die Rechnung nicht bezahlt. Das hat die Kartellanten freilich nicht daran gehindert, über weitere Jahre hinweg Güter an ihn zu liefern.

Vom Hardcore-Kartell zum harmlosen Austausch

Die Verkomplizierungsstrategien der Beklagten setzen sich sodann beim Tatvorwurf fort. Ein Kartellrechtsverstoß wird im Detail auch dann bestritten, wenn eine bestands- und rechtskräftige kartellbehördliche Entscheidung vorliegt: (Angeblich regelmäßig unverschuldete) Hardcore-Kartelle degenerieren zu einem bloßen Austausch von Informationen, der schon von Haus aus nicht geeignet gewesen sei, die Preisbildung zu beeinflussen. Der jeweilige Unternehmensvertreter habe sich daran lediglich aus Kollegialität oder – wie es vereinzelt heißt –  „nur zum Schein“ beteiligt und die erhaltenen Informationen auch nicht fruchtbar machen können, da sie zu allgemein gewesen seien. Kartellierte Produkte (z.B. Zucker) seien dagegen viel zu differenziert.

Die beklagten Kartellanten, die sich angeblich so sehr der Einzelfallgerechtigkeit widmen, scheuen nicht davor zurück, die Kläger mit Unmengen ökonomischer Gutachten einzudecken, die weder ihre Datengrundlage offenbaren noch mit den Beschaffungsmengen des konkreten Einzelfalls zu tun haben. Auch sind ihre Verteidigungslinien über Kartelle und Prozesse hinweg immer die gleichen: die Jahre oder Jahrzehnte andauernde kartellrechtswidrige Verhaltensweise sei „nicht umgesetzt“ worden, so dass eine Auswirkung auf die Preise fern liege; die Grundabsprache sei lediglich in einzelnen, unbedeutenden Regionen durchgesetzt worden; die geltend gemachten Schadenspositionen bezögen sich auf andere Waren als die vom Bußgeldbescheid erfassten. Bekanntlich haben einzelne Punkte bereits den EuGH beschäftigt, der sie so prägnant beantwortet hat, dass sich eine Frage fast von selbst beantwortete: War es wirklich nötig, dem Gericht diese Frage vorzulegen? 

Die Schimäre „Kartellbefangenheit“

Im Rahmen des sog. haftungsbegründenden Tatbestands haben Beklagtenvertreter über Jahre hinweg eine Schimäre platziert, mit der ihnen erfolgreich gelang, Anforderungen, die anhand des Beweismaßes des § 286 ZPO zu erfüllen waren, zu statuieren. In den Worten des Spruchkörpers eines Instanzgerichts, die auch heute noch in vereinzelten Entscheidungen auftauchen, hieß es dazu, der Kläger habe „für jeden einzelnen Erwerbsvorgang die jeweilige Erwerbskette unter Angabe der jeweiligen Vertragsparteien sowie der für die kartellbedingte Preiserhöhung und deren Überwälzung relevanten jeweiligen Vertragsinhalte (insbesondere Angabe von Leistung und Gegenleistung) konkret darzulegen und gegebenenfalls [zu] beweisen“. Ist das – nota bene: in Ermangelung von Informationsansprüchen – effet utile?

Es hat Jahre gedauert, bis die „Kartellbefangenheit“ – ein Merkmal, dessen Existenz im sog. haftungsbegründenden Tatbestand die Beklagtenvertreter beständig nährten – aus der Anspruchsprüfung verbannt wurde. Ähnliches gilt für die Korrektur der ORWI-Rechtsprechung: Erst zehn Jahre später – und trotz Skanska und Sumal – brach sich die Einsicht Bahn, dass der Erwerb von einer 100%igen Tochtergesellschaft kein „mittelbarer Erwerb“ ist.

Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen

Es ist keineswegs verwerflich, diese und ähnliche Erkenntnisse rasch durch die Publikation von Gerichtsentscheidungen (gern auch Hinweisbeschlüssen) in die Fachwelt gleichsam diffundieren zu lassen, und diese Art wünschenswerter Rechtsfortbildung hat mit Befangenheit nichts zu tun, weil der Rechtssicherheit und -klarheit gedient ist. Ebenfalls sind Hinweisbeschlüsse wünschenswert, weil sie das Verfahren stärker lenken und Wichtiges vom Unwichtigen trennen helfen. Die konventionelle Vorgehensweise, der Klage im schriftlichen Verfahren eine Erwiderung, sodann eine Replik, eine Duplik, eine Triplik u.a.m. folgen zu lassen, in der jeweils sämtliche denkbaren Rechts- und Tatsachenfragen umfassend diskutiert werden, kann dadurch korrigiert werden. Es wird glücklicherweise zunehmend (aber leider noch nicht flächendeckend) praktiziert, durch richterliche Hinweise auf gleichsam neuralgische Punkte hinzuweisen, auf die sich die Diskussion konzentrieren kann. Es würde dadurch nur umgesetzt, was die Verfasser der zum 1. Januar 2020 in Kraft getretenen ZPO-Novelle in folgende Worte kleideten: „Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.“ Und auf diese Weise lassen sich – bereits praktisch gewordene – Fälle verhindern, in denen eine Klage nach einem Jahrzehnt erstinstanzlich wegen Unzulässigkeit oder Unbegründetheit infolge von Verjährung abgewiesen wurde. Auch die jahrelange Unsicherheit über das, was Recht ist oder sein könnte, ist ein entscheidendes psychologisches Hemmnis für Kartellschadensersatzkläger. Gerade deshalb aber sind Hinweisbeschlüsse vor allem bei Beklagtenvertretern weniger beliebt.

Zur Schätzung

An Spruchkörper ist eine weitere Ermutigung zu richten: Die Schätzung von Schäden – also auch von hypothetischen Entwicklungen – begründet keineswegs an sich die Besorgnis von Befangenheit. Jene Richterinnen und Richter, die dies tun, haben längst erkannt, dass der privaten Kartellrechtsdurchsetzung überhaupt nicht anders auf die Beine zu helfen ist, als von unnötigen und ebenfalls notwendigerweise hypothetischen Faktoren, wie sie ökonomischen Gutachten inhärent sind, zu abstrahieren und Schäden frei zu schätzen. Die allmähliche Herausbildung hinreichend konkreter Transmissionsriemen zwischen Anknüpfungstatsachen und Overcharge wäre dabei zu erwarten. Sicher sind Kartelle und Märkte, auf denen sie wirken, denkbar verschieden. Ebenso ist es auch die Kartell-Overcharge. Ökonomisches Wissen steht aber nicht nur insofern zur Verfügung, wie sich Preisaufschläge über Kartelle gleichsam verteilen, sondern auch insoweit, als es belastbare Erfahrungssätze gibt, welche Faktoren preisbeeinflussend wirken (z.B. Kartelldauer, Marktabdeckung, Informationsgegenstände). Auf der Grundlage dessen und des Bußgeldbescheids könnten Spruchkörper eine Art „Schätzfenster“ (Heike Schweitzer) bilden, das den Parteien frühzeitig verfahrensleitend kommuniziert wird. Der Parteivortrag soll und wird sich dann darauf konzentrieren. Es wäre konkret und tatsächlich nachzuweisen, warum ein Kartellschaden außerhalb dieses Bereichs liegen sollte. Insbesondere könnten Beklagte auf diese Weise gewissermaßen self-enforcing zur Verminderung der Informationsasymmetrie veranlasst werden.

Vor allem einzelnen süddeutschen Kammern sei ein wichtiger ökonomischer Erfahrungssatz empfohlen, dessen Befolgung die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen sicher erhöhen dürfte: Ob ein Kartell ggf. über Jahrzehnte praktiziert wird, hängt einerseits von den Kosten (der Durchführung und der Wahrscheinlichkeit sowie des Umfangs seiner Sanktionierung) sowie andererseits den Gewinnen daraus ab. Gehen Unternehmen es ein, spricht wenig dafür, dass es keinen wirtschaftlichen Nutzen – dem ein Schaden der Kunden regelmäßig korrespondieren dürfte – abgeworfen haben sollte. Wer antritt zu begründen, warum es unter diesen Umständen – wie man liest und hört – „an jeglichen Anhaltspunkten für den Eintritt eines Schadens“ fehle, sollte sich zunächst fragen, ob das mit dem eigenen Berufsethos noch vereinbar ist.

Prof. Dr. Johannes Heyers, LL.M., ist Rechtsanwalt der Kanzlei AULINGER, Essen, und – neben v.a. dem Kartellrecht des Pharma- und Gesundheitssektors, dem Energiekartellrecht und dem Vertriebskartellrecht –, seit Jahren in zahlreichen Schadensersatzverfahren infolge verschiedenster Kartelle tätig.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert