Marktmacht = relativ (auch in der Schweiz)

Marktmacht = relativ (auch in der Schweiz)

Die Schweiz hat – nach langem Ringen – eine neue Regelung verabschiedet, mit der nun auch relative Marktmacht im Kartellrecht erfasst wird. Sie soll 2022 in Kraft treten und die «Hochpreisinsel Schweiz» bekämpfen. Patrick Krauskopf und Dominic Schopf erklären die Regelung und ihre Hintergründe.

Bern, eine Stadt der Relative

Bern, Kramgasse 49 im Jahr 1905: Albert Einstein ist kurz davor, einen fundamentalen Beitrag zur physikalischen Grundlagenforschung zu leisten. Er erkennt, dass Raum und Zeit sich relativ zueinander verhalten und keine absoluten Ordnungsgrössen darstellen. Seine Arbeiten werden als die «Relativitätstheorie» (der physikalischen und v.a. der hier interessierenden und überhaupt viel wichtigeren juristischen Korrektheit halber, müsste man freilich noch zwischen der «allgemeinen» und der «speziellen» unterscheiden) die Welt erobern und bis heute prägen.

Bern, Bundesplatz 3 (Bundeshaus) im Jahr 2021: Rund 116 Jahre später wird in der Stadt Bern wieder an einer Relativitätstheorie «geforscht». Das Parlament ist kurz davor, eine fundamentale Änderung der kartellrechtlichen Grundlagen zu verabschieden. 162 (von 246) Parlamentarier erkennen, dass sich die Marktstellungen von Anbietern und Nachfragern relativ zueinander verhalten und die Marktbeherrschung keine absolute Ordnungsgrösse darstellt. Ihre Voten werden dem Konzept der «relativen Marktmacht» den Weg ebnen und den Wettbewerb auf dem kleinen Binnenmarkt der Schweiz hoffentlich nachhaltig beleben.

Der (relativ) lange Weg zur Erkenntnis

Relative Marktmacht – Gab es das nicht schon mal? Die Einführung der relativen Marktmacht ist natürlich – und hier werden uns die Kartellrechtsexperten aus dem «grossen Kanton» (schweizerisch für: Deutschland) sicherlich zustimmen – überfällig. Genau genommen dachte man, die relative Marktmacht nämlich schon anlässlich der letzten grossen Kartellrechtsrevision im Jahre 2004 eingeführt zu haben. Damals wurde die Definition des marktbeherrschenden Unternehmens in Art. 4 Abs. 2 Kartellgesetz (KG) nach umfangreichen parlamentarischen Debatten wie folgt geändert (Änderung in fett; Link zum gesamten Gesetzestext):

«Als marktbeherrschende Unternehmen gelten einzelne oder mehrere Unternehmen, die auf einem Markt als Anbieter oder Nachfrager in der Lage sind, sich von anderen Marktteilnehmern (Mitbewerbern, Anbietern oder Nachfragern) in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten.»


Ein von Anfang an strittiges Konzept. Das Fazit aus rund 16 Jahren der (Nicht-)Anwendung des Klammerzusatzes: Ein Klammerzusatz im Definitionsartikel reicht nicht, um das komplexe Konzept der relativen Marktmacht einzuführen; schon gar nicht in einem Land, das traditionellerweise eine liberale Vorstellung seiner Wirtschaftsordnung hat. Zwar gibt es in den Gesetzgebungsmaterialien, insbesondere der Botschaft des Bundesrates (der Schweizer Regierung), Hinweise auf die Einführung der relativen Marktmacht, doch fehlte es seit Anfang an nicht an Lehrmeinungen, die nichts von einer Einführung einer relativen Marktmacht wissen wollten. Andere Lehrmeinungen wiederum interpretierten den Klammerzusatz lediglich als Aufforderung an die Behörden, den relevanten Markt enger bzw. restriktiver zu bestimmen.


Schweizer Zurückhaltung. Die relative Marktmacht hatte aufgrund dieses wackeligen Gesetzesfundaments aus einer ex post-Perspektive von Anfang an nur eine Chance, wenn die Wettbewerbskommission (WEKO) rasch nach der Kartellrechtsrevision stützende Entscheide getroffen hätte, in denen die relative Marktmacht klar anerkannt worden wäre. Die Praxis war aber – und bleibt dies bis heute – zurückhaltend: Die WEKO konzentrierte sich bisher hauptsächlich darauf, den klassischen Begriff der Marktbeherrschung aus Art. 4 Abs. 2 KG weiterzuentwickeln und wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen innerhalb dieser Auseinandersetzung einen festen Platz zu geben. So hat die WEKO unter dem Deckmantel «individueller Abhängigkeiten» zwar Fragestellungen zu relativer Marktmacht analysiert. Dieses Konzept kam zwar wiederholt bei Lieferantenbeziehungen im Einzelhandel (in der Schweiz: Detailhandel) zum Einsatz, welcher in der Schweiz durch die beiden grossen Player Migros und Coop dominiert wird. Wobei auch hier vieles relativ ist: So stehen den Detailhandelsriesen in der Schweiz nicht nur kleine Lieferanten gegenüber, sondern teilweise auch globale Hersteller von Markenartikeln. Die eigentliche Einführung, Festigung und Entwicklung eines eigenständigen Konzepts der relativen Marktmacht i.S.v. § 20 GWB hat aber nicht stattgefunden.


Volksinitiative verspricht niedrigere Preise – dank relativer Marktmacht! Diese für viele Wirtschaftsführer und Kartellrechtler zaghafte Entwicklung wurde 2017 mit Einreichung der eidgenössischen Volksinitiative «Stop der Hochpreisinsel – für faire Preise (Fair-Preis-Initiative)» direkt adressiert; Ziel war es hier der WEKO Beine zu machen. An dieser Stelle haben die Initianten der «Fair-Preis-Initiative» ein Kunststück geschaffen: Sie verstanden es, das komplexe – ergo schwer zu vermittelnde – und zugegebenermassen den Otto Normalverbraucher nicht interessierende Thema der relativen Marktmacht «sexy» (um nicht populistisch zu sagen) zu verpacken. Nachfolgend die Verpackung:

Kampfloser Sieg: Parlament sieht sich zum Handeln gezwungen. Hinter dieser Verpackung steckt, wie schon angetönt, die explizite Verankerung der relativen Marktmacht. Den Initianten der «Fair-Preis-Initiative» gelang es, der breiten Bevölkerung dieses abstrakte Konzept mittels Beispielen von Preisdifferenzierungen namentlich bei Markenartikeln näher zu bringen. So ist es bezeichnend, dass diese Initiative den Übernamen «Lex Nivea» erhielt. Bei dieser aus kommunikativer Hinsicht sicherlich brillanten Abstimmungskampagne konnte selbst das intensive Lobbying der Wirtschaftsverbände – die der Initiative Struktur- statt Wettbewerbspolitik nachsagten – die Einführung der relativen Marktmacht nicht mehr verhindern. Letztlich verabschiedete das Parlament einen sog. indirekten Gegenvorschlag zur (Verfassungs-)Initiative (d.h. ein Revisionspaket, das grundsätzlich unabhängig von einem evtl. Rückzug der Initiative in Kraft tritt), der praktisch alle Anliegen der «Fair-Preis-Initiative» und allen voran das Konzept der relativen Marktmacht übernimmt. Gleichzeitig (dies der Vollständigkeit halber) wird mit dem indirekten Gegenvorschlag ein Verbot des Geoblockings ins Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) übernommen. Infolgedessen stimmten die Initianten einem bedingten Rückzug der Volksinitiative zu; dieser wird bei Inkrafttreten des indirekten Gegenvorschlags (voraussichtlich 01.01.22) erfolgen.

Die Formel

Definition der relativen Marktmacht. Wie sieht nun – um wieder im Jargon der einleitend gezogenen Parallele zu sprechen – die bahnbrechende Formel aus, die das Schweizer Weltbild der Marktmacht nachhaltig ändern soll? Die (maximal für außerordentliche Kartellrechtsfans) spektakuläre Antwort:

„Das Kartellgesetz vom 6. Oktober 19952 wird wie folgt geändert:
Art. 4 Abs. 2bis
2bis Als relativ marktmächtiges Unternehmen gilt ein Unternehmen, von dem andere Unternehmen beim Angebot oder bei der Nachfrage einer Ware oder Leistung in einer Weise abhängig sind, dass keine ausreichenden und zumutbaren Möglichkeiten bestehen, auf andere Unternehmen auszuweichen.“

Missbrauch der relativen Marktmacht. Die Missbrauchstatbestände sind dieselben für absolut und relativ marktbeherrschende Unternehmen und ergeben sich aus Art. 7 KG. Dieser wurde sodann – und hier liegt auch die explizite Adressierung der «Hochpreisinsel Schweiz» – um lit. g wie folgt ergänzt (Link zur Initiative und der Revision):

«1Marktbeherrschende und relativ marktmächtige Unternehmen verhalten sich unzulässig, wenn sie durch den Missbrauch ihrer Stellung auf dem Markt andere Unternehmen in der Aufnahme oder Ausübung des Wettbewerbs behindern oder die Marktgegenseite benachteiligen.
2Als solche Verhaltensweisen fallen insbesondere in Betracht:

g. die Einschränkung der Möglichkeit der Nachfrager, Waren oder Leistungen, die in der Schweiz und im Ausland angeboten werden, im Ausland zu den dortigen Marktpreisen und den dortigen branchenüblichen Bedingungen zu beziehen.»

Erste Einschätzung. Zu diesen noch jungen Bestimmungen von Art. 4 Abs. 2bis KG und Art. 7 Abs. 2 lit. g KG einige Gedanken:

  • Die Formel des Gesetzgebers orientiert sich stark an § 20 GWB, der auch die Tatbestandselemente der ausreichenden und zumutbaren Ausweichmöglichkeiten kennt. Für die Schweizer Praxis ist dementsprechend ein maßgeblicher Rückgriff auf die in Deutschland entwickelte Rechtsprechung zu erwarten.
  • Der Gesetzeswortlaut nimmt dabei die neueste Änderung von § 20 GWB auf: Ebenso wie neuerdings in Deutschland werden nicht nur kleine und mittlere abhängige Unternehmen geschützt. Die relative Marktmacht kann theoretisch auch in der umgekehrten Konstellation vorliegen. Es wird interessant zu beobachten, ob und wie große Unternehmen Gebrauch vom Konzept der relativen Marktmacht machen werden.
  • Die Praxis der WEKO zu Art. 4 Abs. 2 KG der letzten Jahrzehnte kann nicht nahtlos in eine Praxis zum Art. 4 Abs. 2bis KG überführt werden. Dies ist u.E. auch gar nicht angezeigt, vielmehr sollte die WEKO zügig und von Anfang an eine eigenständige Praxis mit eigentlichen Leitentscheiden zur relativen Marktmacht schaffen und die Rechtssicherheit für die Unternehmen erhöhen.
  • Neben der WEKO sind auch deren Beschwerdeinstanzen – das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesgericht – gefordert: So kann beim auslegungsbedürftigen Konzept der relativen Marktmacht erst durch höchstrichterliche Entscheide wirkliche Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden. Eine rasche und fundierte Durchführung entsprechender Beschwerdeverfahren durch die Gerichte ist deshalb geboten.
  • Für Fälle von Art. 7 Abs. 2 lit. g KG wird es interessant zu beobachten, ob die WEKO Fälle von grenzüberschreitender Preis- oder Konditionendiskriminierung anhand nimmt, wenn das marktmächtige Unternehmen keine Aktiven in der Schweiz besitzt. Aus Sicht der fehlenden Vollstreckungsmechanismen im internationalen Wirtschaftsverwaltungsrecht sind solche Verfahren nicht zu erwarten. Bestehen allerdings Tochterfirmen mit Schweizer Sitz, zeigt uns der BMW-Fall (Bundesgerichtsurteil 2C_63/2016 vom 24. Oktober 2017; die WEKO sprach dort eine Buße in Höhe von ca. CHF 156 Mio. gegen das Münchner Mutterhaus von BMW aus, dort ging es allerdings um einen Abredetatbestand), dass die WEKO bei grenzüberschreitender Diskriminierung durchaus bereit ist, rigoros durchzugreifen.
  • Vor diesem Hintergrund rückt sodann auch das Schweizer Kartellzivilrecht – die internationale Vollstreckung ist im Bereich des Zivilrechts unproblematisch – in den Fokus: Der neue Art. 4 Abs. 2bis KG hat einiges Potenzial, zwar einerseits die Schwächen der Schweizer Rechtsordnung mit Bezug auf die zivile Kartellrechtsdurchsetzung zu offenbaren aber andererseits hierfür auch Abhilfe zu schaffen: Zivilgerichte dürften künftig sicherlich bei der Beurteilung eines Missbrauchs der relativen Marktmacht sehr gefragt sein. Diese könnten nach einer anfänglichen Anlaufphase zunehmend an Sicherheit gewinnen und zu einer effizienteren (zivilen) Kartellrechtsdurchsetzung beitragen. Die Einführung der relativen Marktmacht als Katalysator für (bisher in der Schweiz fast inexistente) Kartellzivilverfahren wäre jedenfalls wünschenswert.

Fazit und Ausblick

Die Schweiz hat sich nach langem Ringen nun auch dafür entscheiden, die in Deutschland etablierte relative Marktmacht einzuführen. Das Parlament verabschiedete dabei eine Definition der relativen Marktmacht, die sich stark am Wortlaut des GWB orientiert. Es bleibt jedoch Aufgabe der Praxis, griffige Voraussetzungen zur Bestimmung der relativen Marktmacht zu definieren.

«Seitdem die Mathematiker über die Relativitätstheorie hergefallen sind, verstehe ich sie selbst nicht mehr» (Albert Einstein, 1907/08). In diesem Sinne, liebe WEKO, mach es besser und lass uns «deine» Relativitätstheorie verstehen! Hierzu gibt uns Einstein eine weitere Maxime mit auf den Weg: «Man muss die Dinge so einfach wie möglich machen. Aber nicht einfacher.»; … denn wir Juristen wollen ja auch noch unseren Spaß daran haben (= darüber streiten, wer Recht hat).

Rechtsanwalt Prof. Dr. Patrick L. Krauskopf, LL.M. (Harvard) ist Professor an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Partner/Chairman von AGON Partners Legal AG (Zürich/Pfäffikon). Dominic Schopf ist Anwaltspraktikant bei AGON Partners Legal AG.

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