Die verjährungsauslösende Kenntnis im Kartellschadensersatzrecht

Die verjährungsauslösende Kenntnis im Kartellschadensersatzrecht

In der Rechtssache Nissan Iberia (Rs. C-21/24 – ECLI:EU:C:2025:659) hat sich die Frage gestellt, welche Vorgaben sich aus dem europäischen Recht für den Zeitpunkt der verjährungsauslösenden Kenntnis im Kartellschadensersatzrecht ergeben. Für follow on-Klagen nach Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden hat der EuGH in seinem Urteil eine Antwort entwickelt. Eine Einordnung von Anna-Lena Rech.

In seinem jüngsten Urteil zur Verjährung von Kartellschadensersatzansprüchen hat der EuGH sich mit der Frage befasst, wann die Verjährung von Ansprüchen, die im Anschluss an Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden im Wege von follow on-Klagen geltend gemacht werden, anläuft. Nachdem er in Heureka (EuGH, Urt. v. 18.04.2024, C-605/21) für follow on-Situationen im Anschluss an Kommissionsentscheidungen den Zeitpunkt der Veröffentlichung der Entscheidung im Amtsblatt der EU als maßgeblich angesehen hatte, hat er in Nissan Iberia nun für Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden einen anderen Anknüpfungspunkt gewählt: Die Verjährungsfrist kann dort erst mit Eintritt der Bestandskraft zu laufen beginnen. Kartellgeschädigten kommt das sehr entgegen – sie können mit der Klageerhebung abwarten, bis eine bestandskräftige Entscheidung vorliegt und tragen so ein wesentlich geringeres Prozessrisiko.

A.    Hintergründe zum Urteil

Hintergrund des Urteils war ein Vorabentscheidungsersuchen eines spanischen Gerichts. In dem zugrundeliegenden Prozess ging es um die Frage, ob der dem Grunde nach bestehende Anspruch des Klägers auf Schadensersatz bei Klageerhebung bereits verjährt war. Die Zuwiderhandlung war nämlich 2015 bereits durch die spanische Wettbewerbsbehörde festgestellt und diese Entscheidung auf ihrer Website veröffentlicht worden. In Bestandskraft ist die Entscheidung jedoch erst 2021 erwachsen, als das spanische Oberste Gericht sie in einem letztinstanzlichen Urteil bestätigt hat (Rn. 14-18).

Während die bis dahin geltende Auslegung des spanischen Rechts vorsah, dass die kenntnisabhängige Verjährung bereits mit der Veröffentlichung der Entscheidung beginnt, hatte das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob diese Auslegung mit dem Europarecht, insbesondere mit Art. 101 und 102 AEUV, vereinbar ist. Es hat dem EuGH daher drei Fragen vorgelegt, die beim ersten Durchlesen kaum verständlich sind und es auch erst werden, wenn man sich mit dem dahinterliegenden spanischen Verjährungsrecht näher auseinandersetzt (so schon Kersting in einem Beitrag für D’Kart).

B.    Die Antwort des EuGH

Daher hat der EuGH die Fragen umformuliert und, zusammengefasst, die Frage gestellt, ob das europäische Recht einer nationalen Norm entgegensteht, die in follow on-Situationen im Anschluss an eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde für den Verjährungsbeginn auf einen früheren Zeitpunkt als die Bestandskraft dieser Entscheidung abstellt (Rn. 42). Er hat sich dann zunächst dem Primärrecht zugewandt und festgestellt, dass Art. 101 AEUV einer solchen Regelung entgegensteht, die Verjährung also frühestens mit Vorliegen einer bestandskräftigen Entscheidung nationaler Wettbewerbsbehörden anlaufen kann (Rn. 67). Dabei bezieht er sich, wie auch schon in Heureka auf den Zeitpunkt, in dem die Entscheidung für die nationalen Gerichte eine Bindungswirkung entfaltet. Während Kommissionsentscheidungen bereits mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU für die nationalen Gerichte bindend sind (Art. 16 I 1 VO 1/2003) tritt diese Wirkung bei Entscheidungen nationaler Behörden erst mit deren Bestandskraft ein (Art. 9 I KSERL). Dieses Ergebnis ist eine logische Folge der Jedermannsrechtsprechung: nur so wird das Recht jedes Geschädigten geschützt, infolge einer Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde eine Schadensersatzklage zu erheben (Rn. 66).

Da im zugrundeliegenden Verfahren die Bestandskraft erst 2021 eingetreten war, war die KSERL zeitlich anwendbar, sodass sich der EuGH sodann dem Beginn der Verjährungsfrist unter Art. 10 II KSERL zugewandt hat (Rn. 80). Er hat dabei festgestellt, dass die für das Primärrecht entwickelten Grundsätze dem entsprechen, was bereits in Art. 10 II KSERL niedergelegt ist (Rn. 81) und damit die Rechtslage vor und nach Eintritt der Geltung der KSERL weitgehend angeglichen.

C.    Die ungeklärten Fragen

Leider hat der EuGH den nächsten Schritt nicht mehr gemacht und sich nicht dazu geäußert, wie sich seine jüngste Entscheidung auf den Beginn der Verjährung in stand alone-Konstellationen auswirkt. Hier wird nämlich zum Teil vertreten, dass ein anderer Bezugspunkt gewählt werden müsse, damit die Verjährung überhaupt irgendwann anläuft. In stand alone-Situationen fehlt es schließlich begriffsnotwendig an einer vorangehenden behördlichen Entscheidung, sodass die Verjährung in der Regel nicht anlaufen könnte, wenn die Bestandskraft einer behördlichen Entscheidung auch hier als Bezugspunkt angesehen wird.

Aber welche sinnvollen Alternativen gibt es nach dieser Entscheidung noch? Jede follow on-Situation war zuvor eine stand alone-Situation, bis die behördliche Entscheidung sie zu einer follow on-Situation gemacht hat (Kersting, WuW 2024, 455, 460; wie auch in seinem Beitrag für D’Kart). Würden wir jetzt einen anderen Bezugspunkt für stand alone-Situationen heranziehen, dann würde für einen einheitlichen Anspruch auf Schadensersatz je nachdem, wie sich die Beweislage bei der Durchsetzung gestaltet, eine unterschiedliche Verjährungsfrist in Gang gesetzt. Ein Anspruch könnte als stand alone-Situation verjähren und dann später wieder geltend gemacht werden können, wenn eine behördliche Entscheidung vorliegt. Dieses Ergebnis wäre untragbar und würde, entgegen des Zwecks der Verjährungsvorschriften, zu mehr Rechtsunsicherheit führen, als wenn die Verjährung bis zum Vorliegen einer bindenden Entscheidung gar nicht erst anliefe.

Um einer „unendlichen Haftung“ vorzubeugen, kann auf mitgliedstaatlicher Ebene eine objektive Verjährungsfrist entgegengesetzt werden. Das wird durch Art. 10 KSERL zwar nicht ausdrücklich vorgeschrieben, Erwgr. 36 der KSERL sieht aber zumindest die Möglichkeit vor, dass eine Frist auch objektiv zum Eintritt der Verjährung führen kann, wenn sie nur lang genug ist, um die Ausübung des Rechts auf Schadensersatz in voller Höhe nicht praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren.

Es wäre daher zu begrüßen gewesen, wenn der EuGH festgestellt hätte, dass die subjektive Verjährungsfrist im Falle von stand alone-Klagen in der Regel nicht zu laufen beginnen kann. Eine solche Klarstellung wäre angesichts der zweiten Vorlagefrage auch erforderlich gewesen. Diese liest sich so, als gingen die spanischen Richter davon aus, dass eine Klageerhebung vor Beginn der Verjährungsfrist gar nicht möglich ist (Rn. 27) – was letztlich bedeuten würde, dass es nur noch follow on-Klagen geben könnte. Ein solches Ergebnis wäre mit dem Effektivitätsgrundsatz nicht vereinbar, weil das Recht des Geschädigten, Schadensersatz zu verlangen, dann von einem Tätigwerden der Behörden abhängig gemacht würde.

D.    Fazit

Der EuGH hat sich im Urteil Nissan Iberia überzeugend dafür entschieden, die kenntnisabhängige Verjährung von Schadensersatzansprüchen im Falle von follow on-Situationen im Anschluss an eine Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde erst mit deren Bestandskraft anlaufen zu lassen. Insofern bietet er einen rechtssicheren und eindeutigen Anknüpfungspunkt, der bestehende Unsicherheiten endgültig ausräumt. Allerdings wäre eine weitergehende Stellungnahme zu stand alone-Konstellationen wünschenswert gewesen. So bleibt weiter spannend, wie der EuGH den Verjährungsbeginn in solchen Fällen künftig festlegen wird.

Anna-Lena Rech studiert Rechtswissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie ist wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht sowie deutsches und internationales Unternehmens-, Wirtschafts- und Kartellrecht von Prof. Dr. Christian Kersting, LL.M. (Yale).

Beitragsbild – Foto: Gerichtshof der Europäischen Union

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