Kartellrecht in Krisenzeiten = Krise des Kartellrechts?

Kartellrecht in Krisenzeiten = Krise des Kartellrechts?

Covid fordert alles heraus – das Kartellrecht ist da keine Ausnahme. Marcel Nuys und Florian Huerkamp geben in unserem Blog einen ersten Überblick über die kartellrechtliche Situation. Und während in diesen Zeiten ja nichts sicher ist, eines schon: Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir mit Kartellrecht in Zeiten des Virus zu tun haben werden.

Einen nicht unerheblichen Teil seines akademischen Schaffens hat der Verfassungsrichter und Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde auf die Frage verwendet, wie Rechtssysteme mit Krisensituationen (dem berüchtigten „Ausnahmezustand“) umgehen können und sollen. Anders als viele andere vertrat Böckenförde vehement die Auffassung, der Ausnahmezustand verleihe gerade „nicht ein[en] Freibrief zu willkürlichem, an keine rechtliche Grenze mehr gebundenem Handeln“. Selbstverständlich ging es Böckenförde nicht in erster Linie um die Niederungen der alltäglichen Kartellrechtspraxis. Gleichwohl trifft seine grundlegende Erkenntnis, dass eine Extremsituation die Rechtsanwendung auf allen Gebieten infrage stellen kann, auch – wie wir in der jetzigen ernsten Situation sehen – auf das Kartellrecht zu. 

Fusionskontrolle in Zeiten von Covid

Im Rahmen der strengen Entscheidungsfristen der Fusionskontrolle sind Behörden und zusammenschlussbeteiligte Unternehmen unmittelbar mit den Auswirkungen der Pandemie konfrontiert: Wie können Fristen eingehalten werden, wenn die tägliche Arbeit bei Behörden und Unternehmen schwersten Einschränkungen unterworfen ist?

Zahlreiche Behörden, beispielsweise das Bundeskartellamt oder die Autorité de la Concurrence, versuchen darauf zu reagieren, in dem sie die Anzahl der neu angemeldeten Zusammenschlüsse reduzieren. Sie bitten die Unternehmen „zu überdenken“, ob der Zusammenschluss notwendigerweise jetzt angemeldet werden muss oder ob eine Anmeldung noch warten kann. Dies ist zwar eine pragmatische Lösung (zu Lasten der Unternehmen), aber keine juristische. Nach den einschlägigen Bestimmungen der meisten Jurisdiktionen beginnt die Frist für die Prüfung einer Fusion mit vollständiger Anmeldung zu laufen. Die Behörden haben insoweit keine juristische Handhabe, die Beteiligten von einer Anmeldung abzuhalten. Allerdings wird man kaum einen Anwalt finden, der eine Transaktion anmeldet, nachdem ihm die Behörde höflich nahe gelegt hat, das Timing zu überdenken. Wenn Sie einen solchen Anwalt finden sollten – mandatieren Sie ihn nicht!

Eine „Chance“ für mehr Kooperation zwischen Wettbewerbern?

Schwieriger noch gestaltet sich die Frage, wie mit Abstimmungen und Koordinierungen zwischen unabhängigen Unternehmen in Krisenzeiten umzugehen ist. Was ist hier das richtige und ausgewogene Verhältnis zwischen dem Schutz des Wettbewerbs und dem Versuch von Unternehmen, in Krisenzeiten den akuten Bedrohungen für ihre wirtschaftliche Existenz zu begegnen? Ein Beispiel: Zwei Erzrivalen der Luftfahrtbranche stimmen sich über ihre jeweiligen Routen ab und teilen sie sich zu. Vor fünf Wochen wäre dies ein eindeutiger Verstoß gegen Artikel 101 AEUV (bzw. die entsprechenden mitgliedstaatlichen Vorschriften) gewesen. Jetzt steht die Regierung Norwegens auf dem Standpunkt, dass Luftfahrtunternehmen – zumindest für drei Monate – solche Verhaltensweisen erlaubt sein sollen. 

In eine ähnliche Richtung geht das Bestreben von Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, Informationen auszutauschen und die Belieferung bestimmter, besonders bedürftiger Kunden untereinander aufzuteilen. Berichten zufolge haben die großen Lebensmitteleinzelhändler im Vereinigten Königreich darum gebeten, kartellrechtliche Regelungen vorübergehend auszusetzen, um ihnen eine Koordinierung ihres Handelns in der Krise zu ermöglichen. Jüngst hat Andreas Mundt zu verstehen gegeben, das Kartellrecht erlaube weitgehende Kooperationen zwischen Unternehmen, „wenn es dafür – wie in der aktuellen Situation – gute Gründe gibt“. Noch konkreter hat die griechische Kartellbehörde festgestellt, sie werde im Falle vertikaler Absprachen in Lieferverträgen, die sich auf Höchstpreise oder Preisempfehlungen beziehen, keine Ermittlungen einleiten. 

Zurückhaltende Anwendung kartellrechtlicher Vorschriften in Krisenzeiten – da war doch was?

Auch in der Vergangenheit hat es Überlegungen gegeben, kartellrechtliche Vorschriften zurückhaltender anzuwenden, um die Auswirkungen von Krisen abzumildern. Im Zuge von „Schreckensszenarien“ im Anschluss an den Brexit wurde etwa eine Lockerung der kartellrechtlichen Vorgaben diskutiert, zu denen es schlussendlich gleichwohl nicht gekommen ist.

Tatsächlich gelockert wurden die kartellrechtlichen Beschränkungen im Vereinigten Königreich allerdings im Jahre 2012. Damals bestand eine Treibstoffknappheit, die – den heutigen Zuständen im LEH nicht unähnlich – Panikkäufe der Verbraucher auslöste. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, durften sich die Mineralölunternehmen über Lieferungen und Verteilung abstimmen.

Ius vigilantibus scriptum est – auch in der Krise

Es mag allzu verständlich sein, dass Unternehmen um Lockerung kartellrechtlicher Restriktionen bitten. Gleichwohl werden Wettbewerbsbehörden im Blick haben müssen, dass die zurückhaltende Anwendung des Kartellrechts selbstverständlich auch Risiken birgt. Gerade jetzt bedürfen Verbraucher eines besonderen Schutzes: Die Angst vor leeren Ladenregalen lässt bei vielen die Schmerzgrenze spürbar steigen und damit die Bereitschaft, deutlich überhöhte Preise zu zahlen – selbst für so alltägliche Produkte wie Toilettenpapier.

Letztlich bleibt nur ein Mittel, das Verbraucher wirksam zu schützen vermag: funktionierender Wettbewerb. Selbstverständlich haben dies auch schon die Wettbewerbsbehörden erkannt und auch warnende Worte gefunden. Beispielsweise hat die portugiesische Wettbewerbsbehörde unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie auch in diesen Zeiten äußerst wachsam sein wird und Unternehmen davor gewarnt, die derzeitige Situation zu wettbewerbswidrigem Verhalten auszunutzen. Auch die griechische Behörde betont, dass sie selbstverständlich Hardcore-Verstöße in Vertikalverhältnissen (zB Preisbindungen) weiterhin verfolgen und gegebenenfalls ahnden wird.

Im Übrigen zeigen auch Fälle aus der Vergangenheit, dass Wettbewerbsbehörden keineswegs bereit sind, Unternehmen in Krisenzeiten eine kartellrechtliche “Carte Blanche” zu geben.

Besonders anschaulich ist ein Beispiel im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Damals bestanden ganz erhebliche Schwierigkeiten, den Versicherungsschutz für Airlines zu gewährleisten. Die in Reaktion hierauf implementierten Kooperationen zwischen Airline-Versicherungsunternehmen wurden kritisch durch die Europäische Kommission geprüft. Sie stellte das eröffnete Verfahren schließlich ein, nachdem die Unternehmen Zusagen angeboten (und umgesetzt hatten). Gerüchten zufolge holt die Europäische Kommission bereits Erkundigungen dazu ein, welche nationale Wettbewerbsbehörde derzeit welche Einschränkungen des Kartellrechts akzeptiert.

Dr. Marcel Nuys ist Partner, Dr. Florian Huerkamp ist Counsel bei Herbert Smith Freehills LLP.

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