EuGH in Skanska: Das „Unternehmen“ ist passivlegitimiert im Kartellschadensersatzrecht!

EuGH in Skanska: Das „Unternehmen“ ist passivlegitimiert im Kartellschadensersatzrecht!

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Skanska wurde mit Spannung erwartet. Der Kartellschadensersatzfall hat die Frage aufgeworfen, ob der Unternehmensbegriff aus dem europäischen Bußgeldrecht auch bei Schadensersatzklagen gilt. Patrick Hauser und Jörn Kramer ordnen ein, was der Gerichtshof entschieden hat.

Einleitung

Die Entscheidung im Fall Skanska wurde mit Spannung erwartet, hat(te) sie doch das Potential, das Kartellschadensersatzrecht in erheblichem Umfang zu prägen. Auch hier wurde die Entscheidung schon an anderer Stelle angekündigt und die Schlussanträge des Generalanwaltes gewürdigt (siehe zum Ganzen auch Hauser, WuW 2019, 123 bzw. WUW1288470).

Vordergründig drehte sich das Vorlageverfahren um die Anwendung des vom EuGH im Bußgeldrecht entwickelten Grundsatzes der wirtschaftlichen Kontinuität im Kartelldeliktsrecht (ausführlicher zum Sachverhalt hier). Das anwendbare finnische Recht kennt eine damit vergleichbare zivilrechtliche Nachfolgehaftung nicht. Maßgeblich für das vorlegende Gericht war daher, ob sich eine solche im Kartelldeliktsrecht aus einer unmittelbaren Anwendung des Art. 101 AEUV ergibt oder zumindest im nationalem Recht aufgrund des Effektivitätsgrundsatzes geboten ist. Die Auswirkungen der Entscheidung gehen aber weit über die Konstellation der (wirtschaftlichen) Nachfolge hinaus: Im Kern ging es letztlich um die Frage, inwieweit der aus dem Bußgeldrecht bekannte Unternehmensbegriff auch im Kartellzivilrecht Geltung beansprucht.

Schneller als gedacht (womöglich um Generalanwalt Wahl aus dem Amt zu verabschieden) hat der EuGH jetzt entschieden. Und diese Entscheidung hat es in sich:

Passivlegitimation ergibt sich unmittelbar aus dem Unionsrecht

Der EuGH folgt den Schlussanträgen des Generalanwaltes Wahl. Die Passivlegitimation des Anspruchsgegners eines Kartellschadensersatzanspruches ergibt sich danach in unmittelbarer Anwendung des Art. 101 AEUV.

Bekanntlich ist seit der Courage Rechtsprechung anerkannt, dass aus Art. 101 AEUV für „jedermann“ das Recht folgt, Ersatz für die aus einem Kartell entstandenen Schäden zu verlangen. Mangels einschlägiger Unionsrechtsregelungen richten sich die Modalitäten für die Ausübung des Rechts, Schadensersatz zu verlangen, zwar grundsätzlich nach dem Recht der Mitgliedstaaten (vgl. auch Rn. 24 ff.). Zu diesen Modalitäten zählt der EuGH aber (offenbar) nicht den Anspruchsgegner eines Schadensersatzanspruches:

„Jedoch wird, wie der Generalanwalt in den Nrn. 60 bis 62 seiner Schlussanträge sinngemäß festgestellt hat, die Bestimmung des Ersatzpflichtigen des durch einen Verstoß gegen Art. 101 AEUV entstandenen Schadens unmittelbar durch das Unionsrecht geregelt.“ (Rn. 28)

Der EuGH betont, dass Adressat des Verbots aus Art. 101 AEUV „Unternehmen“ (im Sinne der wirtschaftlichen Einheit) sind. Auch nach ständiger Rechtsprechung betreffe das Wettbewerbsrecht der EU die Tätigkeit von Unternehmen. Urheber der Zuwiderhandlung sei also jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Dieses gegen das Wettbewerbsrecht verstoßende Unternehmen im Sinne der wirtschaftlichen Einheit muss nach Ansicht des EuGH auch zivilrechtlich für die verursachten Schäden einstehen.

Der Begriff des Unternehmens stelle einen „autonomen Begriff des Unionsrechtes“ dar, der im Kartellschadensersatzrecht keine andere Bedeutung haben könne als im Bußgeldrecht (Rn. 47). Dies ergibt sich nach Ansicht des EuGH bereits daraus, dass die vom Schadensersatz ausgehende abschreckende Wirkung zur Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs beitrage. Das Kartellschadensersatzrecht stelle daher einen „integralen Bestandteil des Systems zur Durchsetzung“ der wettbewerbsrechtlichen Vorgaben dar.

Aus der bußgeldrechtlichen Rechtsprechung ergebe sich, dass eine Unternehmensumstrukturierung, die den Untergang der für den Kartellrechtsverstoß verantwortlichen Einheit zur Folge hat, nicht zwingend zu einer Befreiung der Haftung der „neuen“ Einheit führe, sofern wirtschaftliche Identität zwischen untergegangener und neuer Einheit bestünde. Eine derartige (Nachfolge-)Haftung sei nicht nur mit dem Grundsatz persönlicher Verantwortlichkeit vereinbar, sondern könne sogar geboten sein, um die Effizienz der Umsetzung der Wettbewerbsregeln der Union zu gewährleisten, wenn das verantwortliche Unternehmen nicht mehr besteht, weil es vom wirtschaftlichen Nachfolger „übernommen wurde, und auf [… die] übernehmende Gesellschaft dessen Aktiva und Passiva einschließlich seiner Verantwortung für Zuwiderhandlungen gegen das Unionsrecht übergehen“ (Rn. 40).

Kartellschadensersatzrichtlinie steht nicht entgegen

Aus der (im vorliegenden Fall nicht anwendbaren) Kartellschadensersatzrichtlinie ergebe sich ebenfalls nichts Anderes. Insbesondere übertrage Art. 11 Abs. 1 den Mitgliedstaaten keine Befugnis zur Bestimmung des Schadensersatzpflichtigen, sondern enthalte nur Vorgaben für die Ausgestaltung der gesamtschuldnerischen Haftung zwischen den schadensersatzpflichtigen „Unternehmen“. Im Gegenteil bestätige die Vorschrift, wie auch Art. 1 Abs. 1 S. 1, dass die Schadensersatzpflichtigen „genau die ‚Unternehmen‘ sind, die diese Zuwiderhandlung begangen haben“ (siehe dazu bereits Kersting, WuW 2014, 564, 565 bzw. WUW0661876).

Keine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils

Das Urteil entfaltet Bindungswirkung auch für Rechtsverhältnisse, die bereits vor dessen Erlass ergangen sind. Schließlich erläutert der Gerichtshof in Vorabentscheidungen, wie Vorschriften seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden sind oder anzuwenden gewesen wären. Eine zeitlich (auf zukünftige Sachverhalte) beschränkte Wirkung sei daher nur in Ausnahmefällen möglich. Der diesbezügliche Antrag sei schon nicht ausreichend begründet worden (Rn. 53 ff.).

Erste Bewertung

Dass der EuGH den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff auch auf das Kartelldeliktsrecht überträgt, überrascht im Ergebnis nicht (siehe bereits hier sowie Hauser, WuW 2019, 123 bzw. WUW1288470). Naheliegender wäre allerdings gewesen, den Unternehmensbegriff – wie dies in der dritten und konsequenterweise nicht beantworteten Vorlagefrage angelegt war – über den Effektivitätsgrundsatz in das mitgliedstaatliche Schadensersatzrecht zu übertragen (so wohl auch die Kommission in der mündlichen Verhandlung, vgl. Rn. 33).

Art. 101 AEUV enthält keine (explizite) Aussage zur Passivlegitimation eines Kartellschadensersatzanspruches, auch wenn es naheliegt, dass Verbotsadressat und Anspruchsgegner übereinstimmen. Anders als im Bußgeldrecht für die Festsetzung der Geldbuße (vgl. Art. 23 VO 1/2003) besteht aber im Schadensersatzrecht keine unionsrechtliche Norm, die die Haftungsvoraussetzungen näher regeln würde.

Geklärt ist nun zwar, dass sich die Passivlegitimation des „Unternehmens“ auch beim Schadensersatz unmittelbar aus dem Primärrecht ergibt. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts bleiben entgegenstehende mitgliedstaatliche Regelungen unbeachtlich. Wie sich dies (dogmatisch) in die nationalen kartellrechtlichen Regelungen einfügt, bleibt indes offen.

Auswirkungen

Die Vorlagefragen konzentrierten sich zwar auf den Grundsatz wirtschaftlicher Kontinuität. Die Auswirkungen der Entscheidung gehen aber darüber hinaus. Die unmittelbare Anwendung des Art. 101 AEUV führt diesbezüglich zu einem Gleichlauf von Bußgeld- und Kartelldeliktsrecht und damit zur umfassenden Übertragung der im Bußgeldrecht entwickelten Haftungsgrundsätze. Damit besteht in der wirtschaftlichen Einheit jedenfalls auch eine Haftung der am Kartellverstoß unbeteiligten Muttergesellschaft.

Denkt man die Entscheidung des EuGH zudem konsequent weiter, beschränken sich deren Auswirkungen nicht nur auf das Kartellschadensersatzrecht, sondern wirken sich im Bußgeldrecht ebenfalls aus. Letztlich folgt aus dem Gleichlauf zwischen Bußgeld- und Schadensersatzrecht, dass sich der Adressat des Bußgeldentscheids gleichermaßen unmittelbar aus Art. 101 AEUV ergeben müsste. Dies dürfte konsequenterweise auch gelten, wenn die mitgliedstaatlichen Kartellbehörden Bußgelder aufgrund eines Verstoßes gegen Art. 101 AEUV verhängen.

Der Richtlinie (EU) 2019/1 (ECN Plus Richtlinie) kommt daher nur noch klarstellende Bedeutung zu, soweit sie den Mitgliedstaaten vorschreibt, dass Bußgelder auch gegen „Unternehmen“ verhängt werden können und der Begriff des Unternehmens für die Mutter- und Nachfolgehaftung angewendet wird (vgl. Art. 13 Abs. 1, Abs. 5 sowie Erwägungsgrund 46). Ebenso besteht für die mit der 9. GWB-Novelle eingefügten § 81 Abs. 3a-3e GWB sowie der damit zusammenhängenden Übergangsvorschriften hinsichtlich Verstößen gegen das EU-Kartellrecht (wohl) kein Bedarf mehr.

Zudem könnten angesichts der zeitlich unbegrenzten Wirkung der Entscheidung möglicherweise Bußgeldverfahren, die mangels (solventer) Bußgeldadressaten eingestellt wurden, erneut aufgerollt und gegen die Muttergesellschaft oder den wirtschaftlichen Nachfolger fortgesetzt werden.

Insbesondere im Zuge von Unternehmenskäufen ist nun zu (noch) größerer Sorgfalt im Rahmen der Due Diligence zu raten. Aufgrund der auch im Kartelldeliktsrecht geltenden Haftung aufgrund wirtschaftlicher Kontinuität können auch aus reinen Asset Deals weitere kartellrechtliche Haftungsrisiken resultieren, wenn das ursprüngliche Unternehmen (wirtschaftlich) nicht mehr existiert.

Folgefragen

Aus der Entscheidung ergeben sich eine Vielzahl von Folgefragen, die die Rechtsanwender in den Mitgliedstaaten noch einige Zeit beschäftigen dürften:

  • Wie fügt sich der unionsrechtliche Schadensersatzanspruch, der nach Unionsrecht bestehen muss und dessen Anspruchsgegner sich unmittelbar nach EU-Recht bestimmt, dessen weitere Voraussetzungen aber (wohl) dem mitgliedstaatlichen Recht zu entnehmen sind, in das mitgliedstaatliche Normengefüge ein?
  • Sind auch weitere Voraussetzungen des Schadensersatzanspruches direkt dem Unionsrecht zu entnehmen? Generalanwalt Wahl hat in seinen Schlussanträgen (Rn. 38 ff.) ausgeführt, auch die an die Kausalität gestellten Anforderungen unterlägen Art. 101 AEUV und nicht dem nationalen Recht, das (nur) am Maßstab des Effektivitätsgebots zu messen sei. Allerdings erscheint dies angesichts der Kone-Entscheidung zumindest fraglich. Der EuGH ist darauf in Skanska nicht eingegangen.
  • An wen richtet sich das Verschuldenserfordernis? Kann das Verschulden einzelner Gesellschaften über die wirtschaftliche Einheit den anderen (Konzern-)Gesellschaften zugerechnet werden? Jedenfalls in Bezug auf den Erwerb eines Unternehmens scheint der EuGH kein Verschulden des Erwerbers vorauszusetzen, sondern rechnet diesem die „Verantwortlichkeit“ für den Kartellrechtsverstoß des übernommenen Unternehmens zu (Rn. 40).
  • Folgt aus der Anwendung des Unternehmensbegriffs auch eine Konzernhaftung, also insbesondere auch eine Haftung der Tochtergesellschaft für Verstöße der Mutter oder eine Haftung für Schwestergesellschaften? (Dazu Kersting, ZHR 2018, 8 ff.; Kersting, in: Jahrbuch 2018: Referate und Beiträge der FIW-Veranstaltungen, 2019, S. 113, 115 ff.)
  • Offen bleibt weiterhin, welche Anforderungen an den Grundsatz wirtschaftlicher Kontinuität im Einzelfall gestellt werden. Diese Frage dürfte zukünftig weiter an Brisanz gewinnen, wenn davon nicht nur die bußgeldrechtliche, sondern auch die zivilrechtliche Haftung abhängt.

Fazit

Konkret in Bezug auf die Anwendbarkeit des Unternehmensbegriffs im Kartellschadensersatzrecht hat der EuGH also Klarheit geschaffen. Es verbleiben aber viele Fragen, die zukünftig zu weiteren Vorlageverfahren führen dürften. Möglicherweise wäre die Umsetzung (dogmatisch) einfacher geworden, wenn der EuGH die Anwendung des unionsrechtlichen Unternehmensbegriffs aus dem Effektivitätsgebot und nicht unmittelbar aus Art. 101 AEUV gefolgert hätte. Dennoch dürfen Kartellgeschädigte sich freuen. In einem zentralen Punkt hat der EuGH ihre Position signifikant gestärkt.

PS: Links korrigiert.

4 Gedanken zu „EuGH in Skanska: Das „Unternehmen“ ist passivlegitimiert im Kartellschadensersatzrecht!

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