Ultra vires?

Ultra vires?

Peter Meier-Beck zum Urteil des BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht hat mit einem Aufsehen erregenden Urteil in der vergangenen Woche den Vorrang des Europarechts in einem Fall bestritten, in dem es um Entscheidungen der Europäischen Zentralbank ging. Die Entscheidung hat bei Prof. Dr. Peter Meier-Beck, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, „Entsetzen“ ausgelöst. Mit diesem Beitrag meldet er sich als hochrangiger Richter zu Wort und macht deutlich, dass er die Auffassung der Mehrheit des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht teilt.

Es fällt schwer, aber es muss gesagt werden: Das mit sieben gegen eine Stimme ergangene Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 ist ein Angriff auf die Europäische Union als rechtlich verfasste Gemeinschaft europäischer Demokratien.

Das erste Entsetzen noch in Unkenntnis der Einzelheiten der Begründung ruft der Gedanke hervor, mit welchem Wohlgefallen von den Regierenden in Warschau und Budapest und vielleicht noch anderen Ortes vernommen werden wird, es seien Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) „ultra vires“, d.h. außerhalb der dem Gerichtshof durch die Verträge eingeräumten Kompetenz, ergangen und daher nicht zu beachten, deren Begründung „schlechterdings nicht nachvollziehbar“ ist. Zu keinem Zeitpunkt waren die Bemühungen des Gerichtshofs um die Rettung der (Reste der) Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz in Polen für die Akteure der Demontage des Rechtsstaats etwas anderes als schlechterdings nicht nachvollziehbare unzulässige Eingriffe in die nationale Souveränität. Wer die steile Karriere der Redeweise von der fehlenden Nachvollziehbarkeit in aktuellen politischen Diskursen aller Art verfolgt hat, kann sich kaum einen Gedanken vorstellen, bei dem sich niemand fände, dem es an der Fähigkeit oder dem Willen fehlte, ihn nachzuvollziehen. Es sollte sich niemand mit dem Gedanken trösten, ein solches Verdikt sei das Privileg des Bundesverfassungsgerichts der Bundesrepublik Deutschland. Dies wird jedenfalls außerhalb Deutschlands niemand glauben.

Das zweite Entsetzen ruft die Begründung hervor, die das Bundesverfassungsgericht für seine Aussage gibt. Sie ist – wie viele Entscheidungen des Gerichts – sehr lang und an vielen Stellen mit umfangreichen Zitatketten versehen, in deren Dickicht der Leser zuweilen nur mit Mühe den Pfad des Gedankens wiederfindet. An entscheidenden Stellen gibt es – das könnte man verschmerzen – kein Zitat, aber es gibt auch keine Begründung.

Die Kompetenz-Kompetenz und ihre Neudefinition

Das Bundesverfassungsgericht meint, das Anleihenkaufprogramm Public Sector Asset Purchase Programme (PSPP) des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) sei „insoweit“ ein Ultra-vires-Akt der Europäischen Zentralbank (EZB), „als die EZB seine Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt“ habe (Rn. 232) – was die EZB soll nachholen können. Dies ist schon für sich genommen eine irritierende Aussage, denn von einer Kompetenz – d.h. einem rechtlichen Befugnisrahmen, in dem sich eine Behörde oder ein Gericht mit im Einzelfall rechtmäßigen oder auch rechtswidrigen Maßnahmen oder Entscheidungen bewegen kann – die just dort endet, wo es an der Verhältnismäßigkeit einer einzelnen Maßnahme oder Entscheidung fehlt, und jenseits deren der Abgrund des Handelns ultra vires lauert, hatte man – soweit ich weiß – niemals zuvor gehört. Eine Kompetenzgrenze, die durch eine (an wen auch immer zu richtende) Darlegung definiert würde, war bislang erst recht nicht bekannt.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Foto: Rainer Lück (Wikipedia), Lizenz: CC BY-SA 3.0

Weil indessen der EuGH diese Kompetenzgrenze verkannt hat, ist seine Entscheidung schlechterdings nicht nachvollziehbar und deshalb ihrerseits ein Ultra-vires-Akt. Auch die Kompetenz des Gerichtshofs, das Unionsrecht auszulegen, endet nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts mithin dort, wo das Ergebnis der Auslegung – für wen auch immer, jedenfalls aber für das Verfassungsgericht selbst – nicht nachvollziehbar ist. Man bedenke: Es war das Bundesverfassungsgericht, das den EuGH mit Beschluss vom 18. Juli 2017 um die Auslegung des Rechts der Union zu Inhalt und Grenzen der Kompetenzen der EZB gebeten hatte. Der Gerichtshof seinerseits hat im Vorlageverfahren nicht viele Kompetenzen. Für seine Endentscheidung hat er eine einzige: Diese Kompetenz ist es, die ihm gestellte Auslegungsfrage zu beantworten und damit Inhalt und Reichweite von Rechtssätzen des Unionsrechts nicht nur für das vorlegende Gericht, sondern für die gesamte Europäische Union verbindlich festzulegen. Diese Kompetenz wird vom Bundesverfassungsgericht in Frage gestellt, weil es mit der Antwort, die ihm der Gerichtshof auf seine Vorlagefragen gegeben hat, nicht einverstanden ist.

Wie kommt es nun zu dieser merkwürdigen Kompetenzgrenze sowohl für die Befugnisse der EZB als auch für das Recht des Gerichtshofs der Union, deren Recht für alle Mitgliedstaaten verbindlich auszulegen, und wie wird sie begründet?

Die Vorlagefragen des Verfassungsgerichts

Das Verfassungsgericht hatte den EuGH unter anderem gefragt (Vorlagefrage 3), ob der in Rede stehende EZB-Beschluss gegen Unionsrecht verstoße, weil er über das Mandat der EZB zur Währungspolitik hinausgehe und deshalb in die (wirtschaftspolitische) Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreife. Insbesondere hatte das Verfassungsgericht wissen wollen, ob dies deswegen der Fall sei, weil

a) das PSPP-Volumen die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten erheblich beeinflusse,

b) der Beschluss in Ansehung dessen und der Verbesserung der Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten und deren Auswirkungen auf die Geschäftsbanken nicht nur „mittelbare wirtschaftspolitische Folgen“ habe, sondern seine „objektiv feststellbaren Auswirkungen eine wirtschaftspolitische Zielsetzung des Programms zumindest als gleichrangig neben der währungspolitischen Zielsetzung“ nahelegten, und

c) der Beschluss „wegen seiner starken wirtschaftspolitischen Auswirkungen“ gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

Man überliest es leicht, und man beachte daher, dass die Vorlagefragen nicht von ökonomischen oder wirtschaftlichen Folgen des EZB-Beschlusses sprechen, sondern von wirtschaftspolitischen Folgen oder Auswirkungen. Dies wird sich als ein Unterschied von zentraler Bedeutung erweisen.

Der Nexus von Währungs- und Wirtschaftspolitik aus Sicht des EuGH

Die Große Kammer des Gerichtshofs hatte im Urteil vom 11. Dezember 2018 (C-493/17) hierauf u.a. auf die bisherige Rechtsprechung verwiesen, nach der für die Entscheidung, ob eine Maßnahme zur Währungspolitik gehört, hauptsächlich auf die Ziele der Maßnahme abzustellen sei. Aus dem vierten Erwägungsgrund des einschlägigen EZB-Beschlusses gehe hervor, dass dieser dazu beitragen solle, dass die Inflationsraten sich mittelfristig wieder einem Niveau von unter, aber nahe 2 % näherten. Diese Zielsetzung sei, was der EuGH näher ausführt, als Konkretisierung des Ziels der Gewährleistung der Preisstabilität als des vorrangigen Ziels der Währungspolitik der Union nicht zu beanstanden. Dies werde nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand in Frage gestellt, dass das PSPP erhebliche Auswirkungen auf die Bilanzen der Geschäftsbanken und auf die Finanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten des Euro-Raums habe. Es stehe außer Streit, dass sich das Programm nach seinem Grundgedanken und seinen Modalitäten sowohl auf die Bilanzen der Geschäftsbanken als auch auf die Finanzierung der erfassten Mitgliedstaaten auswirken könne und dass solche Auswirkungen auch durch wirtschaftspolitische Maßnahmen angestrebt werden könnten. Eine absolute Trennung zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik sehe der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) jedoch nicht vor, und eine währungspolitische Maßnahme könne nicht allein deshalb einer wirtschaftspolitischen gleichgestellt werden, weil sie mittelbare Auswirkungen haben könne, die auch im Rahmen der Wirtschaftspolitik angestrebt werden könnten. Der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, anderes müsse für Auswirkungen gelten, die vom ESZB bewusst in Kauf genommen und für dieses sicher vorhersehbar gewesen seien, sei nicht zu folgen. Durch die Geldpolitik werde fortlaufend auf die Zinssätze und die Refinanzierungsbedingungen der Banken eingewirkt, was zwangsläufig Konsequenzen für die Finanzierungsbedingungen des Haushaltsdefizits der Mitgliedstaaten habe. Insbesondere beeinflussten geldpolitische Maßnahmen die Preisentwicklung u.a. durch die Erleichterung der Kreditvergabe an die Wirtschaft sowie die Veränderung des Investitions-, Konsum- und Sparverhaltens. Um Einfluss auf die Inflationsraten zu nehmen, müsse das ESZB daher zwangsläufig Maßnahmen ergreifen, die Auswirkungen auf die Realwirtschaft haben, die – zu anderen Zwecken – auch im Rahmen der Wirtschaftspolitik angestrebt werden könnten. Insbesondere wenn das ESZB zur Gewährleistung der Preisstabilität versuchen müsse, die Inflation zu erhöhen, könnten die Maßnahmen, die es zur Lockerung der monetären und finanziellen Bedingungen im Euro-Währungsgebiet treffen müsse, eine Einwirkung auf die Zinssätze der Staatsanleihen umfassen, die wiederum eine maßgebliche Rolle für die Festsetzung der für die Wirtschaftsteilnehmer geltenden Zinssätze spielten.

Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main.

Es folgen dann noch hier nicht näher zu erörternde Ausführungen zur Geeignetheit und Erforderlichkeit des EZB-Beschlusses zur Erreichung des währungspolitischen Zieles sowie zur Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahme.

Kurz zusammengefasst sagt der Gerichtshof mithin, dass währungspolitische Maßnahmen notwendigerweise makroökonomische Auswirkungen haben, und dass unerheblich ist, dass diese Auswirkungen auch das Ziel wirtschaftspolitischer Maßnahmen sein könnten. Auf den Begriff der „wirtschaftspolitischen Folgen“ geht er nicht ein. Dessen Übersetzung in das Französische als Arbeitssprache des Gerichtshofs war gelungen, wie die französische Sprachfassung seines Urteils bestätigt, aber vielleicht konnte er gleichwohl mit der Begriffsschöpfung des Verfassungsgerichts nichts anfangen.

Fehlende Verhältnismäßigkeit als evidente Kompetenzüberschreitung?

Ich komme zurück zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es sagt, die Auffassung des Gerichtshofs verkenne offensichtlich Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 des Vertrages über die Europäische Union, EUV) und sei wegen der Ausklammerung der tatsächlichen Wirkungen des PSPP methodisch nicht mehr vertretbar (Rn. 119). Der Ansatz des Gerichtshofs, auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen des PSPP außer Acht zu lassen und eine wertende Gesamtbetrachtung nicht vorzunehmen, verfehle die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats von ESZB und EZB. Damit könne der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht mehr erfüllen. Diese Auslegung lasse das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV „im Grunde leerlaufen“ (Rn. 123).

Die gesamte darauf folgende Deduktion beruht auf der Prämisse, die währungspolitische Kompetenz der EZB sei mittels einer Verhältnismäßigkeitsprüfung von den wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Mitgliedstaaten abzugrenzen (so ausdrücklich Rn. 127). Diese Prämisse wird mit keinem Satz begründet. Ihre Gültigkeit ist aber alles andere als evident; der EuGH teilt sie ersichtlich nicht, auch wenn Ausführungen des Verfassungsgerichts (Rn. 128) anders klingen.

Nach Art. 5 Abs. 1 EUV gilt für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Das ist vernünftig und einleuchtend, denn die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne, d.h. die Prüfung, ob der kompetenzgemäße Einsatz zur Zielerreichung geeigneter und erforderlicher Mittel Folgen oder Nebenfolgen zeitigt, die außer Verhältnis zu dem angestrebten Nutzeffekt stehen, erfordert fast immer eine diffizile Abwägung zahlreicher Gesichtspunkte. Deren unsicheres und notwendigerweise jedenfalls in gewissem Umfang subjektives Ergebnis ist denkbar ungeeignet, schon die Zuständigkeit oder Kompetenz für die Maßnahme als solche zu begrenzen.

Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit währungspolitischer Maßnahmen

Man mag die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die der EuGH in seinem Urteil angestellt hat, für unzureichend halten. Dergleichen kommt vor. Auch die Richterinnen und Richter des Gerichtshofs sind nur Menschen. Aber auch ein falsches oder vielleicht nur unzulänglich begründetes Urteil ist hinzunehmen, wenn die Rechtsordnung dagegen kein Rechtsmittel (mehr) vorsieht, und es gilt dies für Urteile eines Amtsgerichts wie des Bundesgerichtshofs, des Bundesverfassungsgerichts wie des Gerichtshofs der Europäischen Union.

Roben: Bundesverfassungsgericht, Amtsgerichte/Landgerichte/Oberlandesgerichte, Bundesgerichtshof. (Rechtshistorisches Museum im Bundesgerichtshof, Karlsruhe)

Vielleicht hat die Große Kammer des Gerichtshofs auch beeinflusst, dass auf politisch wie ökonomisch heiklem Terrain kein Mitgliedstaat und keine andere Institution der Europäischen Union den EuGH um die Prüfung gebeten hat, ob die EZB ihr Mandat überschritten hat. Vielmehr hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst die Kompetenz gegeben, auf die Verfassungsbeschwerde auch nur eines einzigen Bürgers die Währungspolitik der EZB und die Reaktionen von Bundestag und Bundesregierung hierauf auf den Prüfstand eines gerichtlichen Verfahrens stellen zu können. Es lohnt sich sehr, in diesem Zusammenhang nochmals die abweichenden Meinungen zu lesen, die Gertrude Lübbe-Wolff und Michael Gerhardt dem Beschluss des Verfassungsgerichts vom 14. Januar 2014 im OMT-Verfahren beigefügt haben.

Wie man auch immer die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Gerichtshofs beurteilen will, war ihr Gegenstand jedenfalls die Frage, ob die Einwirkung auf das Inflationsziel der EZB mittels des PSPP außer Verhältnis zu unerwünschten ökonomischen Folgen des Einsatzes dieses Instruments stehe. Es ist dies eine Prüfung, wie sie im Grundsatz stets anzustellen ist, wie EuGH und Bundesverfassungsgericht übereinstimmend annehmen (Rn. 146 ff.). Sie ist in diesem Fall nicht ganz einfach zu bewerkstelligen. Denn auch über die Fragen, ob ökonomische Folgen als wünschenswert oder nicht oder weniger wünschenswert anzusehen sind und deshalb bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung stärker oder weniger stark ins Gewicht fallen, lässt sich unter Umständen trefflich streiten. Es sind mit anderen Worten jedenfalls nicht ohne weiteres lediglich gewünschte positive Effekte gegen unerwünschte negative Folgen abzuwägen.

Die neue Verhältnismäßigkeitsprüfung: Währungspolitisches Ziel versus „wirtschaftspolitische Folgen“

Der Grund, warum das Bundesverfassungsgericht die Erwägungen des Gerichtshofs nicht nachvollziehen kann und für „methodisch nicht mehr vertretbar“ erklärt (Rn. 141 a.E.), liegt hingegen darin, dass das Verfassungsgericht eine andere Verhältnismäßigkeitsprüfung vermisst. Sie soll – was wie erwähnt postuliert, aber nicht begründet wird – der Kompetenzabgrenzung zwischen Währungspolitik und Wirtschaftspolitik dienen, und es soll dazu die „währungspolitische Zielsetzung“ mit den „wirtschaftspolitischen Folgen“ oder den „wirtschafts- und fiskalpolitischen Wirkungen“ (so fortlaufend, s. etwa Rn. 133 f., 138, 146, 163, 165, 167 f., 173, 176) abgewogen werden. Eine Folgenabwägung der dem Juristen vertrauten Art ist dies nicht, und es ist nicht ganz leicht zu verstehen, was mit ihr eigentlich gemeint ist.

Der Verhandlungssaal des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg.

Die ebenso einfache wie einleuchtende Aussage des Gerichtshofs, dass währungspolitisch motivierte Maßnahmen unvermeidlich Effekte hervorbringen, die auch die Wirtschaftspolitik intendieren könnte, wird jedenfalls als völlig ungeeignet verworfen, und in der Tat taugt sie natürlich nicht zur Kompetenzabgrenzung. So erklären sich Formulierungen wie diejenige, das Urteil des Gerichtshofs gestatte dem ESZB, Wirtschaftspolitik zu betreiben, „solange die EZB nur angibt, sich eines in der ESZB-Satzung genannten oder angelegten Mittels zu bedienen und das von ihr bestimmte Inflationsziel zu verfolgen“ (Rn. 133), und, noch krasser und fast schon ungehörig, der Gerichtshof billige auch Anleihekäufe, bei denen die „substantiiert bestrittene“ (von wem und in welchem Verfahren?) währungspolitische Zielsetzung möglicherweise nur „vorgeschoben“ sei, weil mit dem Programm der Sache nach wirtschafts- und fiskalpolitische Ziele verfolgt würden (Rn. 137, ähnlich Rn. 142: „behauptete Absichten“ der EZB dürfen nicht unbesehen übernommen werden).

Es scheint sich so zu verhalten, dass das Verfassungsgericht grundsätzlich das Ziel der Währungspolitik, die Mittel aber der Wirtschaftspolitik zuordnet. D.h. es werden mehr und weniger alle wirtschaftlichen Auswirkungen des PSPP mit Ausnahme des Einflusses auf die Inflationsrate selbst und „mittelbarer Auswirkungen“ – die lediglich durch weitere Zwischenschritte verbundene, nicht sicher vorhersehbare Konsequenzen der angegriffenen Maßnahme sind (Rn. 135 unter Bezugnahme auf den Vorlagebeschluss) – zu wirtschaftspolitischen deklariert (vgl. auch Rn. 173). Wirtschaftspolitische Auswirkungen liegen per definitionem außerhalb der Kompetenz der EZB – weil sie Wirtschaftspolitik sind. Sie stellen deshalb wenn nicht ökonomisch, dann jedenfalls (kompetenz-)rechtlich negative Konsequenzen der geldpolitischen Maßnahmen dar. Vereinfacht gesprochen ist infolgedessen die geldpolitische Maßnahme – kompetenzrechtlich – umso eher unverhältnismäßig und damit ein Ultra-vires-Akt, desto stärker ihre makroökonomischen Effekte und deren Folgen für Staatsverschuldung, Bankenkapitalisierung, Immobilienwerte und vieles andere mehr sind, oder genauer: voraussichtlich sein werden, denn sie können, wenn die Maßnahme beschlossen wird, ja nur prognostiziert werden. Dem Gerichtshof fällt demgemäß zur Last, zu Lasten der Kompetenz der Mitgliedstaaten nicht zu erörtern, dass diese die Emission niedrig verzinster Staatsanleihen gezielt als Mittel zur Verbesserung ihrer Refinanzierungsbedingungen einsetzen können, dass einzelne, nicht genannte, aber wohlbekannte Mitgliedstaaten mehr von dem Programm profitieren als andere, dass die wirtschaftliche Situation der Geschäftsbanken durch das Programm erheblich verbessert und ihre Bonität erhöht wird (Rn. 137), und überhaupt die „wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen“ (= wirtschaftliche und soziale Auswirkungen oder Auswirkungen auf die [Rahmenbedingungen der] Wirtschafts- und Sozialpolitik?) des Programms nicht zu berücksichtigen (Rn. 138).

Auf der sicheren Seite unzweifelhafter Kompetenz der EZB ist nur eine voraussichtlich wirkungslose geldpolitische Maßnahme.

Nicht mehr nachvollziehbar?

Es mögen sich die Bedenken gegen das PSPP und seine Verhältnismäßigkeit alle hören lassen und gravierend oder gar durchschlagend sein, und sie werden ja auch von vielen geteilt. Nur sind sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und nur von ihm zu prüfen und haben mit der Reichweite der Kompetenz der EZB nichts zu tun. Die These von der Kompetenz der EZB ausschließlich zu „verhältnismäßiger“ Währungspolitik ist eine Aussage zum Inhalt des Unionsrechts, die es wert gewesen wäre, dem Gerichtshof der Europäischen Union zumindest zur Vorabentscheidung vorgelegt zu werden. Wenigstens dies hätte geschehen müssen, bevor das Bundesverfassungsgericht die Antworten aus Luxemburg auf die statt dessen gestellten Fragen als nicht mehr nachvollziehbare Antithese zu seiner eigenen begründungslos bleibenden Prämisse wertete und auf dieser Grundlage Ultra-Vires-Akte des Gerichtshofs der Union und der EZB konstatierte.

Prof. Dr. Peter Meier-Beck ist seit 2019 Vorsitzender des Kartellsenats und des XIII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe. Zuvor war er seit 2010 Vorsitzender des X. Zivilsenats. Meier-Beck gehört dem Bundesgerichtshof seit 2000 an; er ist der dienstälteste Vorsitzende am BGH. Meier-Beck ist Honorarprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

41 Gedanken zu „Ultra vires?

  1. Eine hervorragende Analyse. Sie sollte weiter verbreitet werden, speziell in Richtung Karlsruhe, Berlin, Brüssel und Luxemburg. Wir müssen uns hüten, unsere deutschen Vorstellungen von Rechtsprinzipien für allgemeinverbindlich zu erklären, vor allem wenn Sie für eine Norm des Unionsvertrags in Ansatz gebracht werden, die einen anderen Kontext hat, hier missverstanden wird und deren Auslegung nicht einseitig aus einem Land diktiert werden kann. So wird die Autorität der EZB, des EuGH und des Rechts in Europa untergraben.

    1. Wir sollten uns davor hüten, einer demokratisch nicht ausreichend legitimierten EU auf undemokratischem, richterrechtlichem Wege Kompetenzen zuzuschanzen, weil uns der Weg über die Volksabstimmungen zu unbequem ist (man wäre versucht zu sagen: weil das dumme Wahlvolk diese segensreichen Weihen nicht zu würdigen weiß).

      Die EU ist nur ein Staatenbund. Die Teilnahme der Staaten an der Union steht unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit der Unionsverträge mit den eigenen Verfassungen. Die EU ist da keine special snowflake. Ausschlaggebend sind am Ende aus deutscher Sicht die wichtigsten deutschen Rechtsprinzipien in Art. 23, 20 und 79 GG. Einigen Europarechtlern mag das nicht schmecken, aber solange es keine Vereinigten Staaten von Europa gibt, hat Karlsruhe für Deutschlands Teilnahme an der Union das letzte Wort. Wer diese Konstruktionsproblematik beseitigen will, muss Deutschland eine neue Verfassung geben.

      1. Die demokratische Legitimation der Richter des EUGH ist sicherlich ebenso gut und direkt wie die der Richter am Bundersverfassungsgericht: m.W. gibt es in beiden Fällen Richterwahlausschüsse. Die Amtszeitbegrenzung am EuGH erhöht (aufgrund der kürzeren Wahlzeiten) wenn überhaupt noch die demokratische Legitimation.
        Man kann also sicherlich (wie Gertrude Lübbe-Wolff in der oben erwähnten und sehr lesenswerten abweichenden Meinung) die Ansicht vertreten, dass es Fragen gibt, bei denen Gerichte lieber die Unzuständigkeit annehmen sollen, als vage, politische Urteile zu fällen. Das gälte dann aber eben auch für das BVerfG.
        Das heisst nicht, dass konkrete Handlungen nationaler Organe nicht der Kontrolle des BVerfG unterliegen sollten. Der EuGH ist aber kein nationales Organ und dessen Auslegung des Europarechts zu kontrollieren ist nicht Aufgabe des BVerfG.
        Davon unabhängig wäre eine Verfassungsänderung sicherlich oft eine bessere Lösung, nur leider verlässt sich der Bundestag oft doch gerne darauf, dass Karlsruhe die heissen Kartoffeln aus dem Feuer holt und eine salomonische Lösung findet. Daran haben sich diesmal eben viele die Finger verbrannt (zuallererst die Bundesregierung, die jetzt in einem kaum lösbaren Loyalitätskonflikt steckt)

        1. Über den Grad der demokratischen Legitimation des EuGH gegenüber dem BVerfG lässt sich trefflich streiten. Grundsätzlich sehe ich es nicht als unproblematisch an, dass Malta genauso viele EuGH-Richter stellt wie Deutschland oder Frankreich, aber das ist ein ewiges Thema.

          Viel interessanter finde ich aber, ob der EuGH aufgrund seiner fachlichen und methodischen Kompetenz wirklich einen unantastbaren Status als höchstes europäisches Gericht (vergleichbar dem US Supreme Court) verdient. Gerade im Kartellrecht haben wir doch Jahrzehnte von Literatur, die den ,,standard of judicial review“ rügen (gerade bei komplexen ökonomischen Beurteilungen!) und es dürfte kaum Akademiker oder Praktiker geben, die die methodische Basis und Begründung von EuGH-Entscheidungen überzeugender finden als vergleichbare Entscheidungen des BGH oder des UK Competition Appeal Tribunal.

          Auch die ,,Institutionenfreundlichkeit“ des EuGH ist ein ewiges Thema – die Kommission hat es manchmal etwas leicht. Ob es rechtsstaatlich optimal ist, dass sehr viele wissenschaftliche Mitarbeiter der EuGH-Richter abgeordnete Kommissionsbeamte sind, mag man auch hinterfragen. Die Auswahl der Kabinettsmitglieder der EuGH-Richter und die Verteilung der Nationalitäten dieser Kabinettsmitglieder spiegelt rein statistisch keine Bestenauslese wider.

          Das mag eine Frage der persönlichen Geschmäcker sein, aber für mich ist der EuGH eine ziemlich abgehobene und antiquierte Institution, die sehr viel stärker auf Distanz zur Rechtspraxis geht, als das deutsche (oder englische) Bundesgerichte tun. Nehmen wir als Beispiel die Schlussanträge der britischen (!) Generalanwältin Sharpston zu den Volkswagen „defeat devices“ vom 30. April 2020 (C-693/18). Diese sind derzeit ausschließlich auf Französisch verfügbar. Natürlich ist Französisch die EuGH-Arbeitssprache (und fairerweise ging es um eine Vorlagefrage eines französischen Gerichtes), aber handelt so ein Gericht, das mit der Mehrheit der Rechtspraxis und der europäischen Bevölkerung auf Augenhöhe fachlich kommunizieren möchte?

    2. Herzlichen Dank an Prof. Meier-Beck für die ausführliche und sehr interessante Stellungnahme! Ausweislich der bisherigen Kommentare findet sie breite Zustimmung.

      Ich finde allerdings, das BVerfG hat durchaus einen Punkt. Meines Erachtens ist es mit Händen zu greifen, dass das PSPP-Programm der EZB faktisch vorrangig Wirtschaftspolitik ist. Und damit überschreitet sie ihre Kompetenz.

      Mir scheinen die Argumente des EuGHs auch nicht überzeugend. Es reicht nicht, dass in der Überschrift zum Programm Geldpolitik steht und dass es geldpolitische Auswirkungen hat. Nach der Argumentation des EuGHs könnte die EZB nämlich mit ihren Instrumenten nach Belieben in die Wirtschaftspolitik und damit in die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten eingreifen, wenn nur diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Das halte ich für falsch.

      Deswegen macht die Verhältnismäßigkeitsprüfung des BVerfG durchaus Sinn. Denn sie analysiert, wie weit die Maßnahme noch Geldpolitik ist und wie weit schon Wirtschaftspolitik und setzt entsprechende Grenzen.

      Der Eingriff der EZB in die Wirtschaftspolitik ist zudem sehr schwerwiegend. Das gilt einerseits, weil die EZB nur eine sehr mittelbare demokratische Legitimation hat. Als Notenbank muss sie unabhängig sein; eine so unabhängige Institution darf aber keine Wirtschaftspolitik machen. Andererseits gilt es, weil der Eingriff aufgrund der großen betroffenen Geldmengen sehr schwer wirkt.

      Das BVerfG kann m.E. die Kompetenzüberschreitung auch überprüfen. Ich halte es an dieser Stelle mit dem BVerfG und seiner Wurzeltheorie. Danach ist die Souveränität der EU abgeleitet aus der Souveränität der Mitgliedsstaaten und geht nur so weit, wie sie die Mitgliedsstaaten eingeräumt haben; sie ist beschränkt, und ihr Umfang kann vom BVerfG überprüft werden.

      Der EuGH sieht die Souveränität der EU als eigenständig, und er darf den Umfang der Kompetenzen unter dieser Souveränität bestimmen. Der EuGH begründet dies mit der Gefahr bei abgeleiteter Souveränität, dass jeder Mitgliedsstaat der EU in unterschiedlichem Umfang Souveränität einräumt. Und das beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit der EU.

      Aus meiner Sicht greift dieses Argument jedoch zu kurz. Denn die Funktionsfähigkeit der EU ist kein Selbstzweck. Und die Demokratie ist ein höher anzusiedelnder Zweck. Nach Art. 23 Abs. 1 GG wirkt Deutschland an einer EU mit, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet ist. Die Organe der EU sind mit Ausnahme des Parlaments jedoch nur sehr mittelbar demokratisch legitimiert, und sie leiten ihre demokratische Legitimation aus den Parlamenten der Mitgliedsstaaten ab. Deswegen ist die Wurzeltheorie des BVerfG überlegen.

      Es darf zu keiner Aushöhlung des Demokratieprinzips kommen. Genau das würde aber möglich, wenn die EU sich aus eigener Kraft weitere Kompetenzen aneignen könnte. Deswegen muss das BVerfG die Befugnis haben, die Grenzen der übertragenen Souveränität und Grenzüberschreitungen festzustellen. Das BVerfG zieht dieser Befugnis zu recht enge Grenzen, um die Funktionsfähigkeit der EU zu wahren.

    3. Lieber prof. Pernice, verfahrensmäßig muss sich das BVerfG – bei allem Respekt vor dem höchsten deutschen Gericht – die Frage gefallen lassen, ob es damit nicht selbst gegen Unionsrecht und deutsches Verfassungsrecht verstoßen hat. Bevor das BVerfG seine Sichtweise in dieser aus seiner Sicht entscheidungserheblichen (und für den EuGH neuen) unionsrechtlichen Auslegungsfrage zur Grundlage seines Urteils machte, hätte es entsprechend seinem eigenen Kloppenburg-Beschluss als letztentscheidendes mitgliedstaatliches Gericht nach Art. 267 Abs 3 AEUV diese Frage zum Gegenstand einer neuen Vorlage an den EuGH machen müssen. Die vom EuGH aufgestellten Voraussetzungen für ein ausnahmsweises Absehen von dieser Vorlage sind nicht erfüllt. Nach der sogenannten CILFIT-Rechtsprechung des EuGH darf ein an sich vorlagepflichtiges Gericht ausnahmsweise von der Vorlage absehen, wenn die Antwort auf die unionsrechtliche Auslegungsfrage bereits vom EuGH gegeben ist (acte éclairé) – das ist hier nicht der Fall – oder wenn die Antwort eindeutig ist („acte clair“). Letzteres darf das betreffende Gericht aber nur annehmen, wenn es nach entsprechender Prüfung zu dem Ergebnis kommt, dass es sich auch nach Auffassung der Gerichte der anderen Mitgliedstaaten und vor allem der des EuGH selber um einen Fall von acte clair handelt. Das BVerfG hat sich in seinem Urteil weder mit dem Wechselbezug zwischen Verhältnismäßigkeitserfordernis und Unabhängigkeit der EZB noch mit der in dieser Hinsicht an sich bestehenden Pflicht zur Vorlage an den EuGH befasst noch mit der Möglichkeit einer etwaigen „acte clair“-Ausnahme von dieser Pflicht. Vielmehr hat das BVerfG in seinem Urteil die Pflicht zur Vorlage seiner tragenden Begründung an den EuGH gar nicht in Erwägung gezogen. Damit bleibt es dabei, dass die Pflicht zur Vorlage an den EuGH nicht erfüllt ist und auch insoweit eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter naheliegt.

  2. DANKE für die Klarheit. Danke auch für den (leider notwendigen) Hinweis, dass eine Schlussfolgerung dann in sich zusammenfällt, wenn die Prämisse nicht stimmt (eigentlich seit Aristoteles bekannt), ebenso wie die kantsche Weisheit, dass jeder so handeln soll, dass die Maxime unseres Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können. – § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft, S. 36) Ob die Maxime des Urteils vom 05. Mai 2020 dem standhalten, wird zu beleuchten sein. Dass einige Mitgliedstaaten beim EuGH Verfahren vertreten waren, aber die Unverhältnismäßigkeit nicht beklagten, ist sicher ein weiterer interessanter Aspekt des Verfahrensverlaufs. Historikern wird es obliegen, den roten Faden in der Rechtsprechung es Bundesverfassungsgerichts seit Solange 1, Solange 2, Maastricht, Lissabon zu beleuchten.

  3. Ich kann dem nicht zustimmen. Letztlich läuft das Ganze auf eine falsche Schlussfolgerung hinaus:

    „Die These von der Kompetenz der EZB ausschließlich zu „verhältnismäßiger“ Währungspolitik ist eine Aussage zum Inhalt des Unionsrechts, die es wert gewesen wäre, dem Gerichtshof der Europäischen Union zumindest zur Vorabentscheidung vorgelegt zu werden.“

    Man ist geneigt zu fragen: Warum sollte man das überhaupt fragen, im Hinblick auf die Antwort dürfte es eigentlich keine zwei Meinungen geben?! Eine Unabhängigkeit der EZB von politischen Weisungen entbindet doch nicht von der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und berechtigt zu unverhältnismäßigen Maßnahmen, mit anderen Worten Willkür. Vielmehr ist ein unabhängiges Organ umso mehr zur Einhaltung und Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verpflichtet.

  4. Eine höchst ungewöhnliche Attacke eines Bundesrichters gegen eine Entscheidung seiner Kollegen.

    Zu dem ersten Entsetzen kann nur betont werden, dass für die Rechtsfindung die mögliche Auslegung eines Urteils durch Dritte wohl kaum maßgebend sein kann.

    Des Weiteren hat das VerfG seine Prämisse durchaus begründet, und zwar in ständiger Rechtsprechung: der EU ist keine Kompetenz-Kompetenz eingeräumt worden, sondern fest abgrenzbare Handlungsbefugnisse, bzw. Kompetenzen. Und genau diese überprüft das BVerfG.

  5. Vielen Dank für diese sehr interessante und nachvollziehbare Darstellung der Urteilsgründe und ihrer Schwachpunkte! Zur Verbreitung der Analyse in Brüssel: der Artikel war im Politico-Newsletter verlinkt, den vermutlich die Hälfte der Brüsseler Beamtenschaft täglich in ihrer Inbox erhält, er verbreitet sich also vermutlich gut.

  6. Der Ton in Diskursen verschärft sich. Das hat zwei Seiten:
    Einerseits ist die rhetorische Zuspitzung ein geeignetes Mittel eines politischen Meinungskampfes, dessen Offenheit von einer Demokratie nicht nur auszuhalten ist, sondern diese konstituiert. Das alles gilt auch für den wissenschaftlichen Diskurs. Die hier aufgeworfenen Fragen sind auch politische Machtfragen und sie werden wissenschaftlich verhandelt – in Deutschland mit der Besonderheit, einer partiellen Personalunion von Bundesrichtern und akademischen Wortführern. Über die hier aufgeworfenen Fragen lässt sich trefflich streiten und es ist eine akademische Freude, den Argumentationssträngen beider Seiten nachzugehen. Dieser Diskurs ist auch sehr lehrreich – für alle, die immer noch dem Irrtum aufsitzen, Kompetenzfragen seien „formaler“ Natur und deshalb weniger interpretationsbedürftig. Schließlich sind die Kompetenzen der EZB, wie die des EuGH und des BVerfG von großer praktischer Relevanz. Der Beitrag ist mit Leidenschaft geschrieben und er macht Lust, gelesen werden. Er vermag den Diskurs weiter zu befeuern. Was wollen wir mehr?
    Andererseits beobachten wir, wie in der Weltpolitik rein rhetorisch Tabus gebrochen und diplomatisches Geschirr zerschlagen werden. Politische Allianzen geraten ins Schwanken. Der Zusammenhalt in Europa ist dringlicher denn je. Ich teile die Sorge, das Urteil könnte in der EU destabilisierende Effekte haben und insbesondere denjenigen Argumente liefern, die genau dies nicht nur in Kauf nehmen, sondern bezwecken und denen es nicht – wie dem BVerfG – um die Verteidigung rechtsstaatlicher Maßstäbe, sondern um deren Untergrabung geht. Gerade in Zeiten, in denen die Mäßigung politischer Kräfte mit Mitteln des Rechts wichtiger wird, heißt es kühlen Kopf zu bewahren. Gerichte sind dabei jetzt besonders gefragt (und sie leisten in den Fragen der Pandemie ihren wertvollen Beitrag – die politische und die akademische Rhetorik der Debatte um dieses Thema wäre ein eigenes Thema). Rechtsstaatlichkeit ist Rationalitätsgewinn und Richter sollten auch mit ihrer Sprache dazu beitragen, dass Diskurse versachlicht und entemotionalisiert werden. Auch wenn wir wissenschaftlich (an)erkennen, dass sich rechtliche und politische Diskurse nicht oder jedenfalls nicht scharf trennen lassen, bleibt die rhetorische Betonung einer Grenze zwischen Recht und Politik wichtig. Auch wenn Maßstäbe wie der der Willkür eine harte Grenze der Vertretbarkeit impliziert, ist die sprachliche Mäßigung in der Bewertung dieser rechtlichen Frage umso bedeutsamer.
    Im vorliegenden Diskurs lesen wir, dass das BVerfG eine Argumentation des EuGH für „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ erklärt und dass dies wiederum bei einem Vorsitzenden Richter des BGH „Entsetzen“ auslöst. Das Urteil des BVerfG sei ein
    „Angriff auf die Europäische Union als rechtlich verfasste Gemeinschaft europäischer Demokratien“. Es gäbe andere Formulierungen, um für die Einhaltung rechtsstaatlicher Maßstäbe und für die Begrenzung von Kompetenzen einzutreten und es bleibt die Hoffnung, dass sich solche Rhetorik nicht in weiteren Verfahren (sei es in einem Vertragsverletzungsverfahren, bei dem der EuGH auf das BVerfG reagieren könnte, sei es in Fragen, in denen BGH und BVerfG um Maßstäbe ringen) fortsetzt. Betont nüchterne und die Vertretbarkeit anderer Auffassungen deutlich machende Formulierungen prägen sowohl das Urteil als auch die Reaktion. Daran und nur daran sollten wir weiter anknüpfen, wenn wir Eskalationen vermeiden möchten. Es gibt gute Gründe für und gegen eine Begrenzung von Kompetenzen von Gerichten – auch von Verfassungsgerichten. Aber der Diskurs über diese Frage berührt die Herzkammer des Rechtsstaates und sollte – auch akademisch – nicht mit heißem Blut, sondern mit kühlem Kopf ausgefochten werden. Wenn es nicht gelingt, diese Fragen im rechtswissenschaftlichen Diskurs durch Interpretation zu verhandeln, wird der Gesetzgeber, gegebenenfalls der verfassungsändernde Gesetzgeber und vor dem Hintergrund des Art. 79 Abs. 3 GG auch die verfassungsablösende (Art. 146 GG) oder die verfassunggebende Gewalt herausgefordert.

  7. Was in dieser Dikskussion leider fehlt, ist dass die EU nicht nur aus Deutschland un den EU Organen besteht, sonder auch aus 26 anderen Mitgliedstaaten, wo auch die Höchstgerichte und Verfassungsgerichte zwar manchmal (nicht alle!) eine eigene Solange Doktrin haben, aber sich nicht wagen zu sagen, wie es der Zweite Senat tut, dass die Deutsche Anwendungsdogmatik des Verhältnissmässigkeits Grunsatzes der Masstabe der Rechtsmässigkeit der EZB und des EUGH sein soll.
    Dazu kommen ja auch wirschaftspolitische Abschätzungen im Urteil selber, die kaum tragbar sind, wie etwa „So war bereits bei der Annahme des Beschlusses (EU) 2015/774 absehbar, dass mehrere Mitgliedstaaten der Eurozone ihre Neuverschuldung erhöhen würden, um durch Investitionsprogramme die Wirtschaft in Schwung zu bringen“ Rndnr 171. Wenn die Wirtschaft in Schwung gebracht wird entsteht zwar damit kurzfristig Neuverschuldong, aber mittelfristig ist es eben die Grundlage für einen Abbau der Gesamtverschuldung, was zur Konsolidierung der Währungsunion führt. Die Richter des Zweiten Senats sind eben keine Volkswirte, aber sollten in Kauf nehmen dass keinerlei Einstimmigkeit in der Volkswirschaftslehre herrscht und deswegen nicht solche Argumente zum Masstab der Gesetzmässigkeitsprüfung benützen.

  8. I thank you who identified in the 5th May finding of 7 German Federal Court judges.
     false premises,
     unsubstantiated premises,
     pertinent premises (context) omitted,
     false deductions,
     or argument gaps.
    Such reasoning failures strip the words in the constitution of its meanings and implications, open up the chaos of false statements.
    As Nobellist Sir John Hicks put it, the best of monopoly [and cartel] profits is a quiet life. For these judges the quiet life was no need to rise to an adequate standard of reasoning.
    Stamping out a cartel that takes insufficient care to avoid making false statements and false deductions is a contribution to preserving the constitution. In your post as head of the new cartel/anti-trust senate, I invite you Peter Meier-Beck to hold a trial of the following form. In it, I accuse these 7 judges of failing inadequately reasoning to a finding, ask you to fine them and send them on remedial reasoning courses. I would use the examples in this blog of you, Ingolf Pernice, Jacques Ziller, Diana Urania Galletta and Jan Peter Schoffer Petricek, and request subpoena of the 7 for me to interrogate.
    The trial would have the side benefit of shedding fresh light by demonstrating the logical contradictions in the macro-economic / international finance model endorsed by Germany’s mainstream economists and that resulted in these 7 judges last year accepting the case that lead to their 5th May 2020 finding. Reinhard Selten, Nobellist in economics, invited me to Germany to impart my contributions to science through removing un-noticed contradictory premises (timing contradictions among the assumptions), and errors in logical implication. In applying my discoveries, several of our joint publications and research papers concern the euro. These dissect widespread reasoning mistakes about the euro and about what causes inflation.

  9. „… von einer Kompetenz – d.h. einem rechtlichen Befugnisrahmen, in dem sich eine Behörde oder ein Gericht mit im Einzelfall rechtmäßigen oder auch rechtswidrigen Maßnahmen oder Entscheidungen bewegen kann – die just dort endet, wo es an der Verhältnismäßigkeit einer einzelnen Maßnahme oder Entscheidung fehlt, und jenseits deren der Abgrund des Handelns ultra vires lauert, hatte man – soweit ich weiß – niemals zuvor gehört.“

    https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:2bf140bf-a3f8-4ab2-b506-fd71826e6da6.0020.02/DOC_1&format=PDF

    Artikel 5
    (ex-Artikel 5 EGV)
    (1) Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union gelten die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

  10. Vielen Dank Herr Prof. Meier-Beck. Sie haben es auf den Punkt gebracht.

    Besonders dankbar bin ich Ihnen, aber auch Herrn Prof. Ziller für Ihre Anmerkung, für die Erwähnung der „jungen“ Demokratien (Polen/Ungarn). Chapeau bas!

    Aus Polen beobachten wir die von BVerfG-Entscheidung entfachte Debatte intensiv genug, um feststellen zu dürfen, hier handelt sich u.a. um unsere Zukunft.

    Ich kann allerdings den Kommentar von Herrn Präsidenten Voßkuhle im Interview für „Die Zeit“ von 13.5.2020 nicht verstehen. Er scheint das BVerfG-Urteil vehement zu verteidigen. In Polen würde mal so eine Stellungnahme des Richters in den Medien kaum vorstellbar. Es könnten Disziplinarmaßnahmen folgen… Aber aus ganz anderer Perspektive gesehen frage ich mich, OB und WIESO ein Richter sein Urteil überhaupt kommentieren sollte… Es gibt ja viel genug Experten (aus der Lehre oder aus der Praxis), von denen man ja eine klare Urteilsanmerkung erwarten kann.

    Bei dem o.g. Interview fallen markante Worte über das polnische Pendant und zwar den Verfassungsgerichtshof in Warschau. Herr Voßkuhle vertritt die Meinung, es sei „kein ernstzunehmendes Gericht mehr, das ist eine Attrappe“… Ich kann alle die sloganartigen Aussagen gerne akzeptieren – ich kann selber meine Zunge kaum im Zaum halten, wenn ich die neueste Entwicklung in Polen rund um Justiz (gerade jetzt wird hier das Oberste Gericht politisch „übernommen“) beobachte. Solche Worte helfen uns (in Polen, aber auch in der EU) m.A.n. leider wenig, die Krise zu beenden. Und die Regierenden an der Weichsel werden hier diese Aussage sofort als unverschämten Eingriff eines Deutschen in die heilige polnische Souveränität abstempeln. Und dies wird sie nur konsolidieren… Mehr Diplomatie!

    Es ist wohl demnächst zu erwarten, dass der polnische VerfGH gerne auch von obiter dicta aus dem hier diskutierten BVerfG-Urteil im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Frage der Rechtstaatlichkeit direkt Gebrauch machen wird. Es wird sich ja hier gerade um Kompetenzfrage handeln.

  11. Ökonomisch betrachtet ist es völlig offensichtlich, dass die EZB seit Jahren Staatsfinanzierung betreibt, nicht zuletzt um einen Staatsbankrott in Italien abzuwenden. Egal, ob diese Maßnahmen sinnvoll, wünschenswert oder sogar notwendig für den Fortbestand der EU sind (oder eben auch nicht), die EZB überschreitet damit seit Jahren ihre Kompetenzen.

    Das BVerfG hat das Mandat und bei Vorliegen einer entsprechenden Klage auch die Pflicht sicherzustellen, dass sämtliche Kompetenzen, die von den Mitgliedsstaaten (hier Deutschland) an EU-Organe übertragen werden, durch demokratische Prozesse legitimiert sind, und zwar im vorliegenden Fall in Deutschland (wg. Art. 20 und 38 in Verbindung mit Art. 79 GG). Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn neue Kompetenzen nur implizit und stillschweigend durch die Ausweitung bestehender Kompetenzen erlangt werden, wie hier von der Geld- zur Fiskalpolitik.

    Damit das BVerfG prüfen kann, ob dies der Fall ist, benötigt es Kriterien dafür, ab wann eine solche Kompetenzüberschreitung vorliegt. Solange die Kritiker des BVerfG nicht klar darlegen, welche Kriterien das BVerfG denn anstelle der Verhältnismäßigkeit in der hier kritisierten Form hätte anlegen sollen, bzw. nach welchen Kriterien der EuGH denn stichhaltig eine Kompetenzüberschreitung der EZB verneinen konnte (ein m. E. unmögliches Unterfangen), solange werde ich die gesamte Diskussion als einen politisch motivierten Versuch werten, den Anspruch des BVerfG insgesamt zu delegitimieren, Amtsanmaßungen durch EU-Organe zu verhindern. Dies ist immer dann erforderlich, wenn der EuGH das nicht mit genau der Konsequenz und unter Anwendung derjenigen Kriterien leistet, die das BVerfG für die Integrität des GG als notwendig erachtet.

    Es wird in der Diskussion ja auch systematisch unterschlagen, dass sich das BVerfG nur deshalb auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit beschränkt hat, damit es Deutschland und den EU-Organen eine goldene Brücke bauen konnte, das Problem rasch und elegant zu beseitigen, indem sich die EZB ein paar (mehr oder weniger fadenscheinige) Rechtfertigungen ausdenkt. Das BVerfG hätte stattdessen auch die Zielrichtung des EZB-Handelns insgesamt in Zweifel ziehen und der Bundesbank die Teilnahme an Anleihekäufen solange direkt verbieten können, bis das Mandat der EZB durch einen neuen EU-Vertrag offiziell erweitert wurde, abgedeckt durch eine entsprechende Parlamentsentscheidung in Deutschland. Eine solche Argumentation wäre womöglich zwingender und stichhaltiger gewesen.

    Die aktuellen Angriffe auf das BVerfG zwingen dieses fast dazu, seine Zurückhaltung in zukünftigen Entscheidungen aufzugeben.

  12. Vielen Dank, Prof. Meier-Beck. Ich teile Ihre Einschätzung. In dem die Patentwelt immer noch erschütternden Beschluss vom 13.2.2020 zum Einheitlichen Patentgericht finden sich die gleichen methodischen Fehler des Bundesverfassungsgerichts – und ein ähnliches Maß an Arroganz. So wird dort z.B. davon gesprochen, es läge „auf der Hand“, dass es sich bei der Schaffung des Einheitlichen Patentgerichts um eine materielle Änderung des Grundgesetzes handele. Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und alle anderen Interessierten, die Stellungnahmen abgegeben hatten, sahen dies ganz anders. Dies wird ignoriert. Und es folgt auch keinerlei (!) Begründung zu dieser doch eigentlich wichtigen Frage. Das Gleiche gilt für die weitere Prämisse, unter der der Beschluss vom 13.2.2020 stand, nämlich dazu, dass es sich um „nicht mehr rückholbare Kompetenzen“ ginge. Dies ist nachweislich falsch, wie das Ausscheiden des UK aus dem EPGÜ beweist.

    Das eigentlich Frappierende ist damals wie jetzt, dass das Bundesverfassungsgericht eine vertiefte Prüfung anmahnt und das Fehlen einer solchen als ultra-vires-Akt einstuft, aber selbst keine vernünftige Begründung zustandebringt, sondern gleichsam nur postuliert.

    Es ist kein Zufall, dass beide Entscheidungen federführend von Prof. Huber als Berichterstatter geführt wurden, der schon einmal den Vertrav von Maastricht dialektisch mit einem „Staatsstreich“ in Verbindung brachte.

    Das BVerfG macht schlicht Politik. Und deswegen ist die Grundprämisse des Beitrags von Prof. Meier-Beck so richtig. Wer so frontal die Grundfeste der Rechtsstaatlichkeit der EU angreift, bräuchte einfach bessere Argumente (oder überhaupt mal welche).

  13. Man mag über die subtilen Maßstäbe der ultra-vires-„Option“ (es ist keine, es ist eine Pflicht) streiten, also auch über die jüngste Entscheidung, über die EZB-Maßnahmen sowieso, ebenso über die Union und politische Folgen – kaum aber über die über die innerstaatliche Verfassungsrechtslage. Die Frage, was die Union darf ist immer zugleich die Frage, ob Deutschland dies abgeben durfte. „Wenn Gemeinschaft/Union, dann nur soweit, wie …“ ist keine beliebig gesetzte Prämisse, sondern verfassungsrechtlich absolut zwingend, jedenfalls solange die Staatlichkeit nicht aufgegeben wird. Da ändert kein noch so altes Eigenständigkeitspostulat und kein Vorrang irgendetwas dran. Berücksichtigt man zudem die gewachsene, extreme Zurückhaltung aus Karlsruhe (gleich man diese als Ausweichen oder Entgegenkommen wertet), kann von einem „Angriff“ nun wirklich keine Rede sein – da fehlen einem einfach die Worte, das muss man leider sagen. Letztlich verkennt die Union Art. 4 mit Art. 5 bzw. deren Verknüpfung mit dem Verfassungsrecht der Herren der Verträge. Es gibt leider keine einfache Lösung – den (echten) EU-Staat wird es auf absehbare zeit nicht geben, ebensowenig würde Deutschland Europa riskieren. Zwar zeigen viele Beispiele, dass eine differenzierte Integration möglich und funktional ist, ein Downgrade wäre für Deutschland aber zu symbolträchtig. Letztlich werden die Spruchkörper am Ende die Risiken zu berücksichtigen wissen. Gegen Entscheidungskritiken ist nichts zu sagen, der Angriffs-Vorwurf dagegen u.a. wenig nützlich, schon weil er Fronten konstruiert, die es so nicht.

  14. „Dies ist immer dann erforderlich, wenn der EuGH das nicht mit genau der Konsequenz und unter Anwendung derjenigen Kriterien leistet, die das BVerfG für die Integrität des GG als notwendig erachtet.“ Wenn ich gut verstehe, meinen Sie, genau wie implizie die Richter des Zweiten Senats, dass der EuGH von der Rechtsprechung des BVerfG gebunden ist, und nicht umgekehrt. Interessant…

  15. Der ehemalige Richter am BVerfG Dieter Grimm hat sich heute auf FAZ.net im Artikel „Jetzt war es soweit“ ausführlich zum BVerfG-Urteil geäußert. Der ehemalige Richter am BVerfG Ferdinand Kirchhoff geht in der aktuellen NJW kurz auf die seines Erachtens extensive Rechtsprechung des EuGH ein (NJW 2020, 1492, 1495).

  16. Vielen Dank Herr Prof. Meier-Beck für diese klare Analyse. Sie zeigt auf, dass das BVerfG mit der besprochenen Entscheidung rechtstaatliche Prinzipien, nach welchen die EU-Normen integraler Bestandteil der Rechtsordnung sind, verkannt und verlassen hat.

  17. Dieter Grimm verkennt in seiner FAZ-Analyse das eigentliche Problem, das von Prof. Meier-Beck benannt wird. Dass es eine ultra-vires-Kontrolle geben muss, bestreitet niemand, nicht einmal der EuGH. Dass diese Kompetenz beim Bundesverfassungsgericht liegen muss, jedenfalls in Fällen, in denen der EuGH von sich aus und ohne jede Rechtsgrundlage seine Kompetenzen erweitert, ist auch noch in Ordnung.

    Der Kern des Problems liegt in der Begründungslosigkeit des verfassungsgerichtlichen Urteils. Ihm gelingt das, was er vom EuGH verlangt, auch nicht. Die Abgrenzung zwischen Wirtschaftspolitik und Währungspolitik kann das BVerfG nicht vornehmen, es fehlt ihm die Kompetenz und die Fähigkeit. Gerade deswegen war die Antwort des EuGH auf die Vorlagefragen und die Methodik der juristischen Herangehensweise eben nicht willkürlich, sondern eine legitime juristische Antwort, die dem BVerfG schlicht nicht gepasst hat. Und hierin liegt das Problem. Dass sich die EZB in ihrem Mandat bewegt, kann man jedenfalls gut juristisch vertreten. Dann darf aber nicht das BVerfG seine Auffassung an die Stelle des EuGH setzen, weil ihm die Methodik nicht passt.

    Und deswegen, wegen dieses Mangels an zusätzlicher Erkenntnis beim BVerfG, ist das Urteil so falsch und so gefährlich. Mit einer derartigen Begründungsuntiefe ließe sich nämlich der EuGH in allen möglichen Bereichen beschränken. Und wer so schlechte Argumente hat und es selber nicht besser weiß, kann nicht einfach anfangen, rechtsstaatliche Grundfesten zu erschüttern.

    Die Parallele zum EPGÜ-Beschluss des BVerfG vom 13.2.2020 ist frappierend. Auch dort war Prof. Huber Berichterstatter. An entscheidenden Stellen werden falsche Prämissen zur Grundlage gemacht und anstelle von Argumenten treten Postulate, ohne Begründung. Diese handwerklichen Fehler kannte man so früher nicht. Wenn man also Grundsätzliches zu sagen hat, oder dies glaubt, dann müsste man sich argumentativ viel tiefer in die Materie einarbeiten, als es dieser Senat jedenfalls in den Fällen mit Prof. Huber als Berichterstatter tut.

    1. Von Begründungslosigkeit zu reden entbehrt angesichts des Umstandes, dass der Autor mit Art. 5 EUV die eindeutige Antwort auf die von ihm aufgeworfene Frage hinsichtlich der Bindung an den VHMK-Grundsatz ignoriert (oder sie schlimmer: nicht kennt), nicht einer gewissen Komik.

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